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Mânil: Einfach nur der Anfang
Mânil: Einfach nur der Anfang
Mânil: Einfach nur der Anfang
eBook741 Seiten10 Stunden

Mânil: Einfach nur der Anfang

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Über dieses E-Book

"Mânil – einfach nur der Anfang": der Auftakt zu einer vielschichtigen, skurrilen Contemporary-Fantasyreihe für Erwachsene: Urkomisch, zwischendurch ein bisschen düster, völlig schräg, bissig, manchmal überraschend tiefgründig und mit Freude an den gängigen Klischees vorbei.
Ein verpeilter, renitenter Jungmagier, der sich mit seinen neuen Kräften herumschlägt und versucht herauszufinden, wer er ist und wo er hingehört. Dazu ein misanthropischer, grundsätzlich miesgelaunter, sadistischer Lehrer für Magie mit düsterer Vorgeschichte und rabenschwarzem Humor. Eine psychisch labile Überfliegerin, die fast so viel verwüstet wie der Hauptprotagonist. Ein Prinz, sexy, aber charakterlich voll daneben. Eine neugierige Studentin, die mehr über Magie weiß, als die meisten Magier. Geheimnisse, sich selbständig machende Träume, Stimmen im Kopf, eine Kristallkugel, die sich nicht benehmen kann, Regen aus Messern, Verwandlungsmagie, dubiose Fesselzauber und viel Subtext - Chaos garantiert!
Eine charakterzentrierte Geschichte für Erwachsene mit einer Stimmungsbandbreite von schrulligen Charakteren, Situationskomik und absurden Dialogen, bis hin zu ernsten Themen wie psychische Probleme, Machtkämpfe und Übergriffigkeit, und das Ganze durchsetzt mit jeder Menge Subtext.
Erzählform: die Protagonisten erzählen die Geschichte aus der Ich-Perspektive abwechselnd selbst!
Dich erwartet: Magier, Freundschaft, Subtext, Machtgefälle, gespaltene Persönlichkeit, Academy, Bisexualität, Übergriffigkeit, Sarkastische und graue Charaktere, Gender Nonconforming
- Queere Literatur, in der die Queerness der Protagonisten jedoch nur eine von vielen Eigenschaften ist und nicht die Haupthandlung, denn auch queere Charaktere sind viel mehr als nur ihr Queersein.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Apr. 2023
ISBN9783347758711
Mânil: Einfach nur der Anfang
Autor

Desiderius M. Rainbow

Mein Name ist Desiderius M. Rainbow, ich bestehe zur Hälfte aus Tinte und Papier und ich habe mein Herz schon vor langer Zeit an die Contemporary-Fantasy verloren. Ich schreibe ausschließlich das, was ich auch selbst gern lesen wollen würde, und kümmere mich, wie in jedem Bereich meines Lebens, nicht darum, was andere erwarten. Bei mir gibt es absurde Dialoge, Wortspielereien, Situationskomik und schrullige Protagonisten, gemixt mit überraschender Tiefgründigkeit und ernsten Themen. Mir gefällt der Kontrast zwischen Happyplace und Psychochaos, ich liebe Subtext und das Thema Machtgefälle. Außerdem lege ich ebenso viel Wert auf die persönliche Entwicklung der Charaktere wie auf die eigentliche Handlung. Wenn ich nicht gerade schreibe, bin ich Tänzer mit Tanzstudio und eigener Show aus Flensburg. Zeitgenössische Fantasy Geschichten habe ich jedoch schon geschrieben, ehe ich auch nur übers tanzen nachgedacht habe. Ich bin trans und das Schreiben war für mich lange Zeit der einzige Ort, an dem ich der sein konnte, der ich wirklich bin. Besonders habe ich mich mit den beiden Hauptcharakteren dieser Buchreihe identifiziert, weshalb ich bei meiner Vornamens- und Personenstandsänderung ‘20 Mânil als meinen neuen Rufnamen habe eintragen lassen (Wobei Mânil im Buch zwar queer, aber nicht trans ist). Um Verwirrung zu vermeiden, lasse ich mich in der Öffentlichkeit trotzdem lieber Desiderius nennen – die Grenzen zwischen mir und der Geschichte sind ohnehin schon sehr verschwommen.

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    Buchvorschau

    Mânil - Desiderius M. Rainbow

    MYSTERIÖSER PROLOG

    Es war Neumond und der Himmel war von düsteren Wolken verhangen. Am Boden waberte schwerer, feuchter Nebel und ein moderiger Herbstgeruch lag in der Luft. Eine dürre, bleiche Gestalt in schwarz kämpfte sich leise auf altmodisch klingendem Skikapherra fluchend durch den nordwestlichen Teil der gigantischen Tellesor-Wälder.

    Er konnte kaum sehen, wo er trat. Warum hatte er eigentlich nicht seinen Teppich mitgenommen? Sein extravagantes Outfit taugte schließlich überhaupt nicht für Spaziergänge durch dichte Wälder.

    Den Abend in Katurath’ka, einer bunten Hafenstadt im Westen Cherats, hatte er sich so nicht vorgestellt und eigentlich war auch der Plan für die darauffolgende Nacht ein anderer gewesen. Das unsinnige Handgemenge mit diesen dreien aus dem Chuncasgalda, dem geheimen Großrat der Magier, war definitiv nicht in der Planung enthalten gewesen - vor allem nicht der mehrfach gebrochene linke Arm, welcher nun nutzlos an ihm herunterhing. Wie hatte das bloß passieren können? Zum Glück war er nach all der Zeit generell nicht mehr besonders schmerzempfindlich und nahm Verletzungen dieser Art nur noch maximal als lästig wahr. Dabei war er heute wirklich nicht auf Konfrontationen aus gewesen, die den amüsanten Kleinkrieg zwischen ihm und diesem latent irren Barkeeper überstiegen. Ganz im Gegenteil - er hatte in seiner Lieblingsbar lediglich nach irgendwem gesucht, in dessen Gesellschaft er die Nacht hätte verbringen wollen. Dann hatten die drei ihn entdeckt und es war zu einer kurzen, aber heftigen Auseinandersetzung gekommen, die völlig eskaliert war. Und das, obwohl ihm heute überhaupt nicht nach Kampf zumute gewesen war.

    Schon das nervte ihn einfach nur noch. Konnten sie ihn denn nicht einmal in Ruhe nach nächtlichen Gefährten Ausschau halten lassen? Die Bar war - wie meist - brechend voll gewesen und kaum einer konnte so unauffällig untertauchen und verschwinden wie er. Das konnte er fast genauso gut, wie sämtliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ohne viel dazu zu tun…

    Doch hatte ihm dieser sinnlose Vorfall nun gründlich die Laune verdorben. Jetzt war er wütend und müde und zu Hause wartete sein riesiges, kaltes Bett, das niemand mit ihm teilte! Er hasste es, allein zu schlafen, weshalb er nur selten Nächte, in denen eventuell auch Schlaf geplant war, zu Hause verbrachte. Er würde sich wahrscheinlich alleine auf seiner schwarzen, seidenen Bettdecke wie ein Kater zusammenrollen, mit offenen Augen warten, bis die Nacht vorbei war und die Müdigkeit und das unbestimmte leere Gefühl mit irgendeinem Zauber vertreiben. Dabei war er wirklich müde.

    Langsam lichtete sich der Wald und die Vegetation veränderte sich, je weiter er ging. Die Bäume wurden spärlicher und die Büsche struppiger und trockener. In wenigen Kilometern begann die Knochenwüste mit Sand so weiß wie frisch gefallener Schnee und so tödlich wie eine Axt im Hinterkopf. Doch bis dorthin wollte er gar nicht.

    Der Boden unter seinen Füßen war mittlerweile rissig und die einzigen Gewächse, die auch hier noch wuchsen, hatten allesamt Dornen und Stacheln, waren krüppelig, giftig oder ätzend. Er wollte zu seinem Turm, den er mittlerweile in der Ferne wie ein langer, schwarzer Dorn hoch in den Himmel aufragen sah. Im Sonnenlicht schimmerten das schwarze Glas und der sehr spezielle Stahl teilweise silbern und dunkelviolett. Doch jetzt wirkte sein Kunstwerk nur düster und abweisend.

    Im Umkreis von mehreren hundert Metern um den Turm herum wurden die Risse deutlich breiter und tiefer und fügten sich zu einem unübersichtlichen Labyrinth aus Abgründen zusammen. Es stiegen unheimliche und teilweise tödliche Dämpfe, leise Stimmen, wirre Schreie und Schlimmeres aus den Tiefen empor. Außerdem veränderte es sich, was es fast unmöglich machte, dem Turm, dem Zentrum des Irrgartens aus Untiefen, näher zu kommen. Es hatte ihn viel Schweiß, Blut und Magie gekostet, all das zu errichten, doch schenkte er seinem Werk, auf das er sonst so stolz war, heute kaum Beachtung. Schnellen Schrittes durchquerte er das Labyrinth und ignorierte auch die weiteren wirklich unappetitlichen Details. Diese konnten einem unbedarften Besucher, der es tatsächlich bis hierherschaffte, die letzten Meter bis zum Eingang des Turms wahrlich zur Tortur machen. Im Augenblick lag sowieso noch alles in dickem Nebel, obwohl er spürte, dass später in der Nacht noch ein Gewitter anstand. Wenigstens ein Lichtblick: Bei jeder Art von Unwetter hatte man am Himmel am ehesten seine Ruhe.

    Ungeduldig trat er mit dem Fuß nach dem Etwas, das soeben nach seiner Hose krallte, als er an der Tür angelangt war. Dort ritzte er sich dann mit seinen scharfen Eckzähnen in den Finger und das Blut öffnete den magisch versiegelten Eingang. Die kleine Wunde war für seine magischen Heilkräfte keine Herausforderung und noch ehe er die Tür zur eigentlichen Wohnung weiter oben erreicht haben würde, wäre von ihr nichts mehr zu sehen. Er trat ein, schloss sanft die Tür hinter sich und betrat das wahrscheinlich gefährlichste Spiegel- und Glaslabyrinth in ganz Mehrleben. Andere wären hier Tage und Wochen herumgeirrt und hätten dabei den Verstand verloren. Er durchquerte er es in wenigen Minuten und auch die restlichen kunstvollen Hindernisse ließen ihn wie selbstverständlich passieren. Rasch langte er am Eingang seines luxuriösen Wohnbereichs an. Verständlicherweise hatte er hier noch nie Besuch gehabt.

    Er warf seinen Lackmantel in Richtung des schlanken, schwarzen, gusseisernen Hutständers, welcher den Mantel selbstständig einsammelte und ordentlich aufhängte. Auch wenn ein gutes Stück Turmkobold in dem Zauberer steckte, wollte er trotzdem keine Wichtel hier haben. Schließlich war er nicht angewiesen auf kleine, eifrig herumwuselnde Männlein, die ihn nur kirre machen würden. Es war ihm gleich, dass Turmkobolde sonst große Stücke auf Wichtel hielten. Er zog die Stiefel aus, ließ sie an Ort und Stelle liegen und entledigte sich auf dieselbe Weise seines Hemdes.

    In der Küche füllte er eine Schüssel mit Wasser und begab sich dann ins große Wohnzimmer. Sein Blick fiel im Vorbeigehen in einen der vielen Spiegel, die auch den Wohnbereich durchzogen. Wütend bemerkte er, dass sogar die schlichte, schwarze Rose, die auf seinen linken Oberarm tätowiert war, in Mitleidenschaft gezogen worden war. Die Verletzung war jedoch harmlos und würde rasch von selbst wieder heilen.

    Die lange Seite des asymmetrischen Wohnzimmers bestand komplett aus von außen schwarz irisierendem, aber von innen durchsichtigem Glas. Die Einrichtung war ebenfalls vorwiegend schwarz, bestand jedoch aus einem kühnen Mix. Moderne Möbel aus Stahl, Glas und Lack teilten sich den Raum friedlich mit antiken, wuchtigen, aufwändig gedrechselten Stücken und harmonierten dabei trotzdem irgendwie.

    Er warf den Plattenspieler an und drehte die Musik voll auf. Nicht einmal er wusste, wie diese Musik ihren Weg nach Mehrleben gefunden hatte, doch er war froh darum, denn David Bowie konnte ihn meistens etwas besänftigen, wenn ihm die Welt mal wieder zu viel wurde.

    Missmutig setzte er sich dann auf sein ausladendes Sofa, stellte die Schale auf den Tisch und brachte das Wasser darin durch die Berührung seiner rechten Hand zum Kochen. Der linke Arm war wirklich zu gar nichts mehr zu gebrauchen.

    Wie kamen diese Leute auch immer darauf, dass ER ein böser Zauberer, ein Schwarzmagier sein sollte? Ja, es gab eventuell das ein oder andere Argument, das dafür sprach und er war vielleicht nicht zwingend einer von den Guten, aber das machte ihn noch lange nicht zu einem Bösen, so fand er. Außerdem empfand er dieses in Magierkreisen übliche Einsortieren in schwarz und weiß, gut und böse grundsätzlich als stark veraltet.

    Er zuckte mit den Schultern, krempelte einhändig sein rechtes Hosenbein hoch, stellte den Fuß auf die Tischkante und brachte sich einen kleinen, aber tiefen Schnitt in der Wade bei. Dort konnte man das Blut schnell zum Fließen bringen und die vorübergehende Wunde störte hier nicht so sehr wie beispielsweise an der Hand. Er stellte die Schale mit kochendem Wasser so unter sein Bein, dass das Blut hineintropfte. Als er meinte, dass es genug war, verband er sich den Schnitt nachlässig, um wenigstens das Sofa und den Teppich nicht einzusauen. Dann schlug er die Beine unter und legte den mehrfach gebrochenen Arm in die Schale. Sofort färbte sich das rote Wasser tiefviolett und die kochende Flüssigkeit fraß sich in das verwundete Fleisch, um dort ihre heilende Wirkung zu entfalten. Die Prozedur brannte höllisch, doch er schenkte dem kaum Beachtung. Er wusste, wie stark die Heilkräfte waren, die auch seinem Blut innewohnten, wenn er es zuließ. Vor allem war er aber froh, dass er so ziemlich der Einzige war, der davon wusste. Ganz langsam kehrte seine gute Laune wieder zurück, Wut hielt bei ihm selten lange an - genau wie alle anderen Emotionen, die anderen Leuten galten.

    Draußen begann es in der Ferne zu grollen. Er überlegte, ob er tatsächlich noch einen kleinen Ausflug machen sollte, sobald seine Knochen sich wieder komplett regeneriert hatten. Bei dem Wetter würde er dort oben wenigstens seine Ruhe haben und schlafen konnte und wollte er sowieso nicht.

    Was Ajiba-Lucretia wohl machte, wenn sie sah, was er aus den drei Chuncasgalda-Mitgliedern, die ihn in der Bar angegriffen hatten, gemacht hatte? Er war schließlich ein absolut friedliebender Pazifist - zumindest bildete er sich das ein. Er verabscheute Gewalt - wobei Leute zu verfluchen in seinen Augen als Kunst zu betrachten war und nicht als Gewalt gewertet werden konnte. Er hatte den dreien lediglich geraten, ihre Probleme und Konflikte etwas liebevoller zu lösen. Das hatte er mit einer gewaltigen Ladung sehr überzeugender Magie unterstrichen, die auf das gesamte Denken und Handeln der drei Magier nun einen permanenten Filter von Erotik legte.

    Sie konnten sogar wirklich froh und dankbar sein, dass er heute alles in allem einen guten Tag gehabt hatte und der Fluch nicht für ewig hielt. Nach rund 10 Jahren würden sich ihre Gehirne ganz langsam wieder einschalten. Diskussionsrunden im Geheimen Großrat der Magier würden von nun an deutlich lustiger verlaufen, dachte er amüsiert.

    Vielleicht sollte er sich demnächst doch noch einmal in den Hauptsitz des Chuncasgalda einschleichen um sich das Ergebnis seiner Problemlösung anzuschauen. Das, was in ihm stärker war als alles andere, war schließlich schon immer Neugier gewesen.

    Er fand diese Maßnahme auf jeden Fall vielleicht deutlich, jedoch auf keinen Fall wirklich böse, schließlich konnte er noch ganz anders. Wie wäre es stattdessen mit gutmütig?

    Oder barmherzig?

    Er lachte dieses leise, arrogante, aber laszive Lachen und stand auf, um seinen Teppich zu holen…

    …Schweißgebadet schreckte der fünfzehnjährige Mânil Sosteya mitten in einer Nacht im Jahre 9973 in Xiktaku hoch. Er hatte in letzter Zeit immer wieder diese seltsamen Träume und konnte auch mit diesem absolut nichts anfangen. Auch war ihm nicht klar, dass das, was er gerade gesehen hatte, real und gut zwanzig Jahre her war…

    NIGHT GANZ ÜBERFLÜSSIGES VORWORT

    Jetzt aber erst noch ein bisschen Zeug vorweg:

    - Was die zu Beginn der folgenden Geschichte erwähnte Version der Gralsgeschichte anbelangt, so gibt es meiner bescheidenen Meinung nach erfreulichere Wege, sich der Sage um die Tafelrunde und dem Gral zu nähern. Ich sage jedoch nicht, um welches spezielle Werk es sich hier handelt, das scheinbar seinen Weg nach Mehrleben gefunden hat. Der ein oder andere wird es wissen.

    - Wobei trotzdem erwähnt werden sollte, dass wir damals den besten Deutschlehrer hatten, den es gab und dieser es sogar verstand, uns dieses Thema zu vermitteln - trotz der Lektüre. R.I.P., Winfried Bäse, ich habe mein Versprechen gehalten, nicht mit dem Schreiben aufzuhören. Schließlich geschah es auch vor langer Zeit während Ihres Unterrichts, dass ich die ersten Zeilen einer ersten Version dieser Geschichte schrieb - während Sie an der Tafel etwas machten, was damit überhaupt nichts zu tun hatte.

    - Außerdem will ich meine Schwester Kara erwähnen, die sich sämtlichen Blödsinn, den ich je zu Papier gebracht habe, friedlich und geduldig anhört, Korrektur liest und mir stets mit Rat und Tat zur Seite steht. Naima sei ihr besonders gewidmet und als „Tee und Kekse" sind wir das ultimative Dream-Tem!

    - Des Weiteren noch ein Wort an David Bowie, in der stillen Hoffnung es möge ihn erreichen, wo immer er nun ist. Diese Geschichte, so lang sie auch immer werden wird, ist ihm gewidmet, da er und seine Musik und alles, was er noch so getan hat, mich immer wieder dazu bringt, weiterzumachen, so verrückt meine Ideen in meinen Ohren auch anfangs klingen mögen. Danke David Bowie, dass Sie beschlossen haben, Musik zu machen, Sie sind inspirierend. R.I.P.

    - Nun wieder zu dir: Falls du jetzt ernsthaft gedacht hast, ich würde dir den mysteriösen Prolog erläutern, solltest du dich besser noch etwas in Geduld fassen, so einfach ist das nicht. Wenn du außerdem diese kleine Szene einordnen könntest, wäre der Prolog dann etwa noch mysteriös? Nein. Eben.

    - In vielen Fantasy-Büchern gibt es ein Glossar mit einer Personenübersicht und allem, was erklärt, übersetzt oder sonst wie erläutert werden muss. Da mein Freund und ich es nervig finden, immer erst darüber zu stolpern, wenn man am

    Ende des Buches angelangt ist, beschert Mânil euch nun hier gleich am Anfang der

    Geschichte eins, natürlich inklusive IPA (Lautschrift), damit ihr über die

    Aussprache nicht rätseln müsst.

    Desiderius M. Rainbow

    ERHELLENDES GLOSSAR (MÂNIL)

    Orte aus Teil 1:

    - Mehrleben: die Welt, in der wir uns befinden

    - Vingada-Cherat (vɪngaːda keratʰ): das Land, in dem meine Heimatstadt liegt (besteht aus den beiden Ländern Vingada und Cherat, die sich vor rund zwanzig Jahren vereint haben)

    - Achualpa (axuaːlpaʰ): Hauptstadt Vingada-Cherats, Großstadt nördlich von Katurath’ka

    - Xiktaku (ksiktaːku): meine Heimatstadt, liegt im Süden Vingada-Cherats direkt am Meer

    - Katurath’ka (Katuraːtˀkaʰ): kleine Hafenstadt im Westen, anscheinend unbedeutend, jedoch der Dreh- und Angelpunkt in der Magierwelt

    - Tellesor-Wälder (Tɛlezɔr vɔːldɐ): riesiges, undurchdringliches Waldgebiet im Zentrum Vingada-Cherats

    - Meraka (meraːka): Shelas Heimatstadt im sumpfigen Südwesten am Meer gelegen

    - die Großfuß-Brocken: von Zwergen bevölkertes Gebirge im Norden

    - Uktera (ʊktɛra): Großstadt im nördlichen Binnenland

    - Knochenwüste: ausgesprochen unwirtliche Gegend nordöstlich von Katurath’ka

    - der Turm am Anfang: wüsste ich auch gerne…

    Sprachen & Begriffe

    - Skikapherra (skiːkaʰfɛra): Die allgemeine Sprache der Magier, hat sich einst aus dem Skikachta entwickelt

    - Skikachta (skikaːxta): etwas wirre Sprache der Yrachtae

    - Yrachtae (ɪraxtæ): Skikachta-Begriff für Turmkobolde; Einzahl: Yrachtaî (ɪraxtai)

    - Cherati (keraːti): Sprache, die hauptsächlich in Vingada-Cherat gesprochen wird

    - Chuncasgalda (xunkasgaːlda): Skikapherra für „Hoher Magiergroßrat", ist für sämtliche Organisationsfragen der Magierwelt zuständig (soweit ich weiß…)

    - Chuncasgalda-Prüfung: dreiteilige Prüfung, um in den Chuncasgalda aufgenommen werden zu können

    - Kramor (kraːmɔr): Albensprache

    - Korennpherrak (kɔrɛnˀfɛraːkʰ): Skikachta-Schrift, in der auch Skikapherra oft geschrieben wird

    - Muraji A-icélé (muraːʒiː aːˀiseleː): altes Skikapherra für „ich bin tot" und ein sehr seltsamer Name für ein kleines Mädchen

    - Solekorek (soleːkorɛkʰ): Skikapherra/ Skikachta Plural für Magielernende, unabhängig von Alter, Geschlecht, Spezies oder Art der Ausbildung; Singular: Solekorak (sole: korakh)

    - Mesolekorek (mesoleːkorɛkʰ): Skikapherra Plural für Mitlernende/ Kommilitonen in der magischen Ausbildung, abgeleitet von Solekorek; Singular: Mesolekorak (mesoleːkorakʰ)

    - Kellrah’serat (kɛlraːˀseraːtʰ): Skikapherra Singular für Magier*in, der*die die Ausbildung vollendet hat; Plural: Kellrah’seret (kɛlraːˀserɛtʰ)

    - Pherrak’ta (fɛraːkʹtʰa): Skikapherra Singular für magiebegabte Person, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Spezies; Plural: Pherrak’tae (fɛraːkʹtʰæ)

    - Sanpherray (sanfɛrɛɪː): Skikapherra für Person/en ohne magische Begabung, unabhängig von Alter, Geschlecht, Spezies; nutzbar als Substantiv oder Adjektiv

    - Schelmerei: alljährliches Verkleidefest vom jeweils elften bis zum dreizehnten Februar

    - Konklusionsnacht: 31.12., Fest zum Ende der zehn Mittwinternächte und Ende des Jahres

    - Neubeginn: 1.1., Fest, um das neue Jahr zu begrüßen

    Personen:

    - Mânil T. Sosteya (ʹmaːnil t zosʹtæːaʰ): ich, der Hauptprotagonist und Haupterzähler

    - Tyler: irgendwie ich, aber irgendwie definitiv nicht ich…

    - Dominique: auch nicht ich, es ist kompliziert…

    - Suketo Karpelkh (sʊkeːto kaɾpɛːlkʰ): Erzähler und angeblich der beste Privatlehrer weit und breit, brillianter Magier, personifizierte schlechte Laune und bekennender Misanthrop

    - Lilian Korrashem (Koɾaʃɛːm): Erzählerin und Mesolekorak, Magiestudentin und wandelnde Enzyklopädie

    - Tyrone (taɪˈɹoʊn) von Grundelberg: Mesolekorak, blöder Wichser und zukünftiger König, Sohn von Günther von Grundelberg (Mutter bislang unbekannt)

    - Eule: Erzählerin und meine mysteriöse beste Freundin, die ihren Geburtsnamen nicht verraten möchte und nicht weiß, dass sie heißt wie meine Plüscheule…

    - Eule Eule von Plüsch zu Federfell (Erzähler*In): weise, vermutlich androgyne Plüscheule, die eigentlich mehr weiß als alle anderen

    - Shela (ʃiːla): Erzählerin und Mesolekorak, Suketos Adoptivtochter, begabte Magierin, Traumfrau

    - Amadeus: Mesolekorak, Suketos Adoptivsohn

    - Nelly: Köchin, Putzkraft, der gute Geist und heimlicher Chef des Hauses

    - Ernst-August: seltsamer Hausmeister (vielleicht ein bisschen verrückt…?)

    - Olga Grantelforst: Heilerin

    - Putzi: sehr großes, laut Suketo sehr niedliches Krokodil

    - Leopold: minderbemittelter Leibwächter von Tyrone

    - Leila (Erzählerin) Ramon und Naima (Naˀima) Sosteya: meine Geschwister

    - Anik und Cornelius Sosteya: meine Eltern

    - Oma: meine Oma, deren Namen noch nicht erwähnt wurde

    - Zane (zɛːɪn): Leilas Freund (meistens)

    - Demitar Laboriell (deːmitar laːboːriʹɛl): völlig verrückte Frau, die mich für einen extrem mächtigen Magier hält

    - Yvette: sollte weniger über Sechzehnjährige lästern!

    - Ajiba-Lucretia (aːʒiba lukreːtsia): die Vorsitzende vom Chuncasgalda

    - Kurt: sehr alter Zauberer, Chuncasgaldamitglied

    - Walfriede: hat einen tollen Hut! Chuncasgalda-Mitglied

    - Nazira (nasiːra): Albin? Chuncasgaldamitglied

    - Zephrem (t͡sɛfɾɛm) und Desiderius: üble Vergangenheit, über die keiner spricht

    - Verena und Fritz-Heino von Grundelberg: das regierende Königspaar

    - Günther von Grundelberg: älterer Bruder von König Fritz-Heino, Vater von Tyrone

    - Keith (kiːθ): Freund aus meiner alten Schule

    - Mike, Merle, Andrea, Cindy, Christian, Matthias, Jannick, Elisa, Selina, Frederick: ehemalige Mitschüler

    - Ila: Leilas beste Freundin, Mitschülerin

    - Kasimir Luftikus: Berühmt berüchtigter Luftmaler mit komischem Künstlernamen

    - David Bowie: ein großartiger Musiker aus einer fernen Welt, dessen Musik auch nach Mehrleben gelangt ist

    - Ziggy Stardust: eine Kreation von David Bowie

    - Filou: wird nicht namentlich erwähnt, ist aber nach unserem Familienkater benannt, kommt nur ein paar Sekunden vor, verändert im zweiten Teil der Geschichte aber einiges…

    - Der mysteriöse Typ aus dem Prolog: keine Ahnung, ist echt mysteriös

    VERWIRRENDER ANFANG

    MÂNIL:

    Es zerriss mich, das grelle Licht blendete mich, zerfetzte mich und durchleuchtete mein Hirn. Es riss all die dunklen Stellen hervor: Dinge, die ich längst vergessen hatte; Zeug, an das ich nicht mehr denken wollte und vor allem Dinge, die ich nicht gewusst hatte, die jemand ganz bewusst zugeschaufelt hatte. Die Barriere in meinem Kopf, von der ich nichts geahnt hatte, war auf einmal fort und ich wusste plötzlich, was diese Stimme, die mich seit Monaten verfolgte, bedeutete.

    Da saß ich am Strand, mit brennenden Händen, umgeben vom Weltuntergang und für kurze Zeit schien mein Kopf klarer als je zuvor und ich konnte beinahe die ganze Geschichte erkennen, das, was ich wirklich war…

    Noch immer versengten mir die Flammen, die aus mir herauskamen, die Haut. Meine angestaute Wut brachte den Boden selbst unter mir zum Beben, doch ich kam trotzdem irgendwie wieder auf die Beine. Der nasse Sand fühlte sich heiß zwischen meinen Zehen an und das Wasser um meine Knöchel brodelte. Der nächste Blitz zerschlug die Klarheit und schickte mich ein paar Monate in die Vergangenheit. Dorthin, wo dieser ganze Schlammassel begonnen und das Chaos seinen Anfang genommen hatte. Ich hoffte, dass das nicht einer dieser Erinnerungsstreifen war, die man hat, kurz bevor man stirbt. Doch ohne meine Erlaubnis vorher einzuholen, ging mein Hirn auf die Reise.

    DA, WO'S EIGENTLICH LOSGEHT

    MÂNIL:

    Wir hatten Mitte Februar, also dreieinhalb Monate bevor ich beinahe den Weltuntergang beschwor, da flüsterte jemand in mein Ohr: Mânil, aufwachen. Vermutlich schon zum fünften Mal. Zugegeben, ich habe einen wirklich tiefen Schlaf. Unwillig blinzelnd, rieb mir träge den Schlaf aus den Augen und stellte fest, dass ich gerade im Literaturkurs gepennt hatte. Keith, der neben mir saß, hatte mich geweckt. Dummerweise war das in den letzten Tagen auffällig oft passiert und fast immer in Literatur. Das schien seit einer Weile ermüdend auf mich zu wirken.

    Ein naheliegender Grund könnte natürlich das Buch sein, das man uns aufgehalst hatte. Ich mochte ja sonst Geschichten über Ritter und Magier und all so was, doch dieses spezielle Exemplar war Folter: Dieser Autor klang wie nicht von dieser Welt, er wiederholte sich in jedem Satz und verballerte Unmengen an Papier, um dem geneigten Leser zu versichern, dass er einen nicht anlog. Die tiefgründigen Diskussionen, die unsere Lehrkraft dazu mit sich selbst führte, waren zudem so langweilig, dass ein behagliches Wegdösen kaum zu vermeiden war. Aber davon mal abgesehen: Glaubte der Mann denn allen Ernstes, dass er uns, einem Haufen 16-Jähriger, weismachen konnte, dass auch wir metaphorisch auf der Suche nach irgendeinem heiligen Becher waren?! Ich war froh, wenn ich morgens den Weg ins Badezimmer fand, aber da hörte es bei mir zurzeit auch auf.

    Ich gähnte und hob meinen Kopf von meinen vollgemalten Ordnern, die mir als Kopfkissen dienten. Die Uhr über der Klassenzimmertür teilte mir zum Glück mit, dass wir bereits in zehn Minuten erlöst sein würden.

    Des Weiteren stellte ich fest, dass unser eifriger Lehrer nicht nur langweilig und scheinbar zusammenhangslos, sondern auch viel zu rasant diskutierte, denn ich hatte absolut keine Ahnung, wovon er da redete. Der Schinken umfasste vierhundert Seiten und ich war noch nichtmal auf Seite sechzig.

    Ich hatte seit Tagen nicht mehr so gut geschlafen wie jetzt gerade.

    Wieso hast du mich geweckt?, nörgelte ich Keith an. Ich hab’ gerade was echt Gutes geträumt.

    Du fingst an zu stöhnen, war die trockene Antwort. Das war nicht mehr tragbar.

    Das sah ich zwar ein, grunzte jedoch trotzdem undankbar vor mich hin. Lustlos blätterte ich in meinem Buch und stellte einen Rückstand von mindestens hundertzwanzig Seiten fest. Bevor das zu sehr auffallen würde, zog ich in Betracht, mir vielleicht doch die nächste Pause mit schlechter Lektüre zu vermiesen.

    Zudem hatte unser Literaturlehrer uns gerade erst in seinem letzten Wutausbruch mitgeteilt, er würde Briefe an unsere Eltern schreiben, wenn wir uns weiter so hartnäckig gegen den momentanen Unterricht sträubten.

    Ich verstand mich trotz meiner sehr liberalen Haltung zu Dingen wie Hausaufgaben oder Regeln, gut mit unserem Literaturlehrer und wollte das nicht gar zu sehr ausreizen. Also setzte ich mich tatsächlich in der nächsten Pause in die Fensterbank und versuchte, mich mit meiner liebsten Swingpunk-Band im Ohr auf das Buch zu konzentrieren. Wenigstens war ich nicht der Einzige, der bisweilen Schwierigkeiten mit der Auswahl an Büchern hatte, die man uns zu lesen zwang… Ich gähnte wieder. In meinem Kopf hatte es zu dröhnen begonnen und ich hatte das untrügliche Gefühl, mich demnächst herzhaft übergeben zu müssen. Auch wenn ich das gern behaupten würde, lag das nicht am Buch, vielmehr schien ich krank zu werden. In letzter Zeit war ich ziemlich neben der Spur: Ich schlief kaum noch und wenn doch mal, träumte ich wirres und gruseliges Zeug und ich bekam neuerdings andauernd Kopfschmerzen. Ständig während des Unterrichts einzupennen, war sonst auch nicht meine Art. Wenn ich mich langweilte, nutzte ich die Zeit sonst lieber, um zu zeichnen oder andere sinnvolle Dinge zu tun. Gerade hatte ich so einigermaßen die umständliche Handlung des letzten Absatzes durchschaut, obwohl das nicht leicht war. Der Autor nannte nur ungern die Namen seiner Protagonisten, sondern bezeichnete alle zwanzig Anwesenden als „er", was das Leseverständnis massiv behinderte.

    Da kam Cindy in den Klassenraum.

    Cindy gehörte zu den Tussies der Klasse. Die hingen immer mit diesen enorm coolen Typen herum, die alle paar Minuten auf den Boden rotzten, deren viel zu große Hosen in Kniegegend hingen und um die ich stets einen großen Bogen machte, da mich deren Verhalten völlig befremdete. Ich hatte keine Ahnung, was Cindy und ihre Freundinnen an denen fanden. Manchmal beschlich mich der Verdacht, dass meine Altersgenossen das als besonders männlich empfanden und hin und wieder fragte ich mich, wieso mir sowas völlig egal war.

    Ich nahm nun an, sie wolle mir mal wieder raten, mir die Haare schneiden zu lassen und mir weniger enge Klamotten zulegen, weil ich modisch gesehen, ihrer Ansicht nach, für einen männlichen Sechzehnjährigen so daneben war, wie man nur sein konnte. Das allerdings würde nur über meine Leiche geschehen. Ich hatte seit dem Kindergartenalter lange Haare, ich mochte grelle Farbkontraste und mir gefielen meine hautengen Jeans nun einmal.

    Unwillkürlich dachte ich darüber nach, was akut das kleinere Übel wäre: dieses Buch oder eine Unterhaltung mit Cindy. Ich kam so schnell zu keinem Ergebnis. Überraschend verschonte sie mich mit ihren üblichen Vorträgen. Sie saß bloß da und schaute mich an, als fragte sie sich, was ich da wohl triebe. Ich drehte die Musik etwas leiser, sah sie widerwillig an und sagte: Hey.

    Wieso, um alles in der Welt, konnte ich nicht einfach dasitzen und weiterlesen? Eventuell hätte sie das ja verscheucht? Vielleicht war ich zu höflich. Tatsächlich wollte sie bloß wissen, ob ich mitbekommen hatte, dass man am Samstag in der Turnhalle eine Schelmereifete organisiert hatte. Da ich nicht der geselligste Typ war, war die Frage nichtmal unberechtigt, doch ich bejahte - auch ich las das Käseblatt, das sich Schülerzeitung schimpfte. Da stand ein solches Highlight selbstverständlich drin. Außerdem muss ich gestehen, dass ich mich für mein Leben gern verkleidete und ich genoss diese drei Tage jedes Jahr - auch wenn die in der Schule natürlich nicht komplett durchgefeiert wurden.

    Zu dem Zeitpunkt hatte ich allerdings noch keine Ahnung, wie sehr dieser Samstagabend mein komplettes Leben auf den Kopf stellen würde und so freute ich mich noch ganz naiv darauf.

    Ach ja, sagte Cindy und versuchte einen vertraulichen Ton. Damit hast du es ja, verkleiden und so. Wärst du gern jemand anderes?

    Och nö, jetzt kehrte sie auch noch die Psychologin heraus und das, wo wir noch fast fünfzehn Minuten Pause hatten und keiner da war, der mich hätte retten können!

    Sicher, sagte ich also und grinste. Wärst du an meiner Stelle doch auch, oder? Sie verdrehte beleidigt die Augen, da sie sich nicht ernst genommen fühlte und überließ mich wieder meinen Rittern.

    In meinem Schädel tobte es immer schlimmer. Es fühlte sich an, als wäre da etwas drin, was, wenn es nicht gleich hinauskönnte, unweigerlich explodieren musste. Langsam begann die Welt sich um mich zu drehen. Ich wollte nicht aus dem Fenster und womöglich noch in die vom Hausmeister sorgsam behüteten, wenn auch momentan kahlen und zugeschneiten Beete fallen. So zog ich mit meinem Buch lieber auf meinen Stuhl um. Der Hausmeister war nämlich echt empfindlich, wenn es um seine Beete ging und außerdem befanden wir uns im zweiten Stock.

    Ich legte das Buch weg und hoffte, dass diese Schwindelattacke vorübergehen würde, bevor mich einer so sah. Als die anderen nach der Pause zurück in die Klasse kamen, ging es mir aber wieder etwas besser. Trotzdem wollte Keith mit besorgtem Blick wissen, ob ich in der Zwischenzeit gestorben sei. Meiner Gesichtsfarbe nach zu urteilen, sei das durchaus nicht auszuschließen.

    Später nach Schulschluss, als wir auf dem Weg nach Hause waren, begann es wieder zu schneien. Mittlerweile lag eine herrliche, dicke Schneedecke und das würde wohl auch noch eine ganze Weile so bleiben. Die Kälte tat mir gut und gab mir das Gefühl, langsam wieder etwas klarer im Kopf zu werden. Trotzdem hatte ich schon wieder irgendwie den Gesprächsfaden verloren. Neben mir stapften Ramon, mein zwei Jahre jüngerer, ziemlich durchgeknallter Bruder und Mike, einer aus meiner Klasse, den ich nicht so scheiße fand.

    Hm. Ich klinge ziemlich misanthropisch, war ich aber eigentlich gar nicht.

    Ey Alter, die schnöde Realität verlangt deine Aufmerksamkeit. Hast du Schnee in den Ohren? Ramon knuffte mich kräftig in die Seite.

    Ich machte dieses Geräusch, das man macht, wenn einem klar wird, dass man keine Ahnung hat, was in den letzten Minuten um einen herum passiert ist, und das einen leider nur mäßig intelligent wirken lässt.

    Ich wollte dich gerade darüber ausquetschen, ob du eine Freundin hast, ob du, wenn nicht, gern eine hättest und wenn ja, wen, grinste Mike. Ramon kicherte, als hätte Mike auf irgendeine Art von dramatischer Problematik aufmerksam gemacht. Es hätte ihn vermutlich überrascht, wenn er gewusst hätte, dass da tatsächlich eine war, von der ich dachte, dass es ganz cool wäre, mal etwas mit ihr zu unternehmen. Dabei handelte es sich auch nicht um meine beste Freundin Eule, aber diesmal trotzdem um ein Mädchen. Solche Gedanken in die Tat umzusetzen, gehörte jedoch leider nicht zu meinen Stärken.

    Während ich vergebens versuchte, von diesem unsinnigen Thema abzulenken, wurde es plötzlich still um uns. Sämtliche Geräusche erstarben, die Zeit begann sich in die Länge zu ziehen, wir schienen uns in Zeitlupe zu bewegen. Selbst die Schneeflocken blieben beinahe in der Luft stehen. Ramon und Mike schienen gar nicht zu bemerken, dass ihre Stimmen kaum noch zu hören und ihre Worte nicht mehr zu verstehen waren.

    Sie sahen ihn auch nicht, wie er uns entgegenkam. Obwohl es unmöglich schien, ihn richtig anzusehen, hätte ich meinen Blick, selbst wenn ich es gewollt hätte, nicht abwenden können. Nichtsdestotrotz konnte ich mich später nicht ums Verrecken erinnern, wie er ausgesehen hatte. Er hatte etwas an sich, das mich auf unbeschreibliche Art beeindruckte, und auf einmal hatte ich ein seltsam warmes und vertrautes Gefühl im Bauch. Ich schauderte, als er immer näher geschlendert kam und wusste nicht, warum. Als er heran war, sah er mir direkt in die Augen, Ramon und Mike schien er nichtmal wahrzunehmen. Mein erster Impuls war, wegzusehen, doch etwas in seinem Blick hielt mich weiterhin gefangen und ich starrte hilflos zurück. Hinter meiner Stirn dröhnte es, als wären da kleine Zwerge mit großen Bohrmaschinen zugange. Auf einmal grinste er mich an, als wüsste er etwas Persönliches über mich, was ich nicht wusste und raunte mir zu: Nicht mehr lange, Mânil, dann hab’ ich dich. Noch wenige Jahre.

    Noch nie zuvor hatte ich eine vergleichbare Stimme gehört. Sie war bar jeglichen Geschlechts, klang wie nichts, das ich kannte, schien jedoch meine gesamte Wahrnehmung für sich zu beanspruchen. Wie gebannt starrte ich ihn an und er sagte noch etwas, woran ich mich im Nachhinein beim besten Willen nicht erinnern konnte. Als wäre nichts, schlenderte er an mir vorbei und ignorierte auch, dass ich ihm hundert Fragen hinterherrief. Er hinterließ keine Spuren im frisch gefallenen Schnee und schien sich dann zwischen den herabschwebenden Flocken in Luft aufzulösen.

    Erst da merkte ich, dass Ramon mir vor dem Gesicht herum schnipste. Ich stammelte irgendetwas, das in seinen Ohren offensichtlich keinen Sinn ergab. Er sagte etwas von Blut und wollte vermutlich wissen, ob es mir gut ginge. Mir waren die seltsamen roten Flecken vor meinen Füßen schon aufgefallen, ich brauchte jedoch einen Moment, um zu realisieren, dass es sich dabei um Blut handelte, das aus meiner Nase tropfte. Das rote Leuchten im weißen Schnee wirkte, als wolle es mir eine Art wichtige Botschaft vermitteln, die ich zu dem Zeitpunkt jedoch noch lange nicht begriff.

    Verwirrt fragte ich mich, weshalb Ramon seinen Rucksack in den Schnee fallen ließ und wäre vermutlich dazu geplumpst, wenn er mir nicht geistesgegenwärtig unter die Achseln gegriffen hätte. Das Dröhnen in meinem Kopf wurde so laut, dass es kurzzeitig meine gesamte Wahrnehmung lahmlegte. Da war nur noch dieses Gesicht, das ich nicht erkannte, das mich auslachte.

    Dann hörte ich wieder, wie Ramon wissen wollte, ob ich heute schon gegessen hätte und irgendeine andere, vage vertraute Stimme - natürlich die von Mike - meinte, ich hätte am Vormittag schon nicht gut ausgesehen. Mein benebeltes Hirn empörte sich über diese Behauptung. Mike wurde auch nicht gerade von Schönheit erdrückt - lediglich von Akne! Ich verstand erst Minuten später, wie er das gemeint hatte.

    Ohne dass ich begriff, wie ich da hingekommen war, saß ich plötzlich im Schnee an Ramon gelehnt, der mich aus meinem Pali ausgepackt hatte und mir irgendetwas Kaltes und Nasses in den Nacken legte. Ich fragte mich nur, ob man das Blut rückstandslos von meiner Lederjacke würde entfernen können.

    Das mit dem Schnee würde mehr Spaß machen, wenn du nicht halb bewusstlos wärst!, schimpfte mein Bruder.

    'Tschuldige, ich merk's mir fürs nächste Mal, grunzte ich, allerdings sehr undeutlich, da er ein Taschentuch auf meine Nase presste. Als ich kurz darauf wieder auf meinen eigenen Beinen stand, versuchte Mike, mir sein Pausenbrot anzudrehen, da er der Überzeugung war, ich würde nicht genug essen. Ich nahm es, da Ramon mir drohte, sonst noch etwas Schnee nachzulegen. Es war nicht fair, dass er, obwohl ich älter war, fast einen ganzen Kopf größer war als ich. Ihn schien diese zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit nicht weiter zu stören.

    Um davon abzulenken, fragte ich: Wer war das da gerade? Ich rechnete nicht mit einer erhellenden Antwort, aber ich wollte über etwas anderes reden als meine körperlichen Unzulänglichkeiten.

    Wer?, fragten beide wie aus einem Mund.

    Mir schwante Böses. Der Typ, der da gerade an uns vorbei gegangen… Ich hielt inne. Sie hatten beide keinen Schimmer, wovon ich sprach. Sie hatten nichts gesehen. Verdammt, du bist aber gerade so richtig neben der Spur…, meinte Ramon und klang beinahe besorgt.

    Ich hatte ja selbst keine Ahnung, was mit mir los war. Es war zumindest nicht der heiß ersehnte Wachstumsschub, da war ich mir dennoch völlig sicher…

    Unwillig putzte ich mir vorsichtig die Nase und fragte die beiden, ob sie schon einen Plan für Samstag hatten.

    Eule:

    Ich hatte gesagt, dass ich nichts schreiben will. Ich hasse es zu schreiben und kann es auch nicht besonders gut. Ich verlasse mich darauf, dass ihr Mânil nicht erzählt, was ich hier geschrieben habe, klar? Dann von mir aus.

    Eigentlich kannten wir uns schon seit dem Sandkastenalter – metaphorisch gesprochen, ich bin nicht sicher, ob Mânil je richtig im Sandkasten gespielt hat, zumal man sich da ja dreckig machen könnte. Nichtsdestotrotz war unsere Freundschaft noch keine zwei Jahre alt. Die Geschichte dazu ist ziemlich peinlich, die soll er euch irgendwann mal selbst erzählen.

    Zumindest war es, seit dieser unaussprechlichen Sache da vor zwei Jahren, so gekommen, dass wir uns regelmäßig trafen und ab und an mal was zusammen machten. Rein platonisch natürlich.

    Ich hatte ihn eine ganze Weile nicht gesehen, stand nun am frühen Abend vor dem großen Haus der sechsköpfigen Familie Sosteya und klingelte. Ich konnte schon von draußen hören, dass Mânil wieder in seinem Zimmer saß und Gitarre spielte. Ich vermutete, dass mittlerweile nicht nur seine Familie bereute, ihm letztes Jahr zum Wintersonnenwendsfest eine E-Gitarre geschenkt zu haben, denn leider war er vollkommen unmusikalisch und als singender Gitarrist komplett talentfrei. Er wusste das zwar, aber da es ihm Spaß machte, musizierte er trotzdem konsequent weiter, machte leider nur keine nennenswerten Fortschritte. Sonst mochte ich seine unbeirrbare Sturheit, aber in dem Fall war es einfach pure Folter.

    Erst beim vierten Klingeln wurde mir die Tür geöffnet und Leila bat mich herein. Sie war die älteste der vier Geschwister und ich war immer wieder platt, wie schön sie war: dunkelbraune wallende Mähne, haselnussbraune Augen, Schmollmund, eine Wahnsinnsfigur. Dabei wirkte sie total cool und bodenständig. Ich hatte sogar das Gefühl, als wäre ihr ihr Aussehen schon fast etwas peinlich. Selbst der gemütliche Schlabberlook, in dem sie um diese Uhrzeit meist anzutreffen war, war umwerfend an ihr.

    Sie grinste, als sie mich sah und meinte: Und ich dachte, wir müssten demnächst einen Suchtrupp aufstellen. Hast dich lange nicht mehr blicken lassen.

    Ich zuckte nur die Schultern - verbale Schlagfertigkeit versuchte ich mir noch wachsen zu lassen.

    In der Küche saß Naima, die Jüngste, bei einem abendlichen Teller Cornflakes. Ramon, der zweitjüngste, leistete ihr Gesellschaft, um seine Hausaufgaben noch etwas vor sich her zu schieben. Ich war noch nicht oft oben in Mânils Zimmer gewesen, trotz allem schlichen wir bisweilen noch ziemlich umeinander herum. Also setzte ich mich zu den beiden, während Leila die Treppen hochstieg, um Mânil davon in Kenntnis zu setzen, dass sein Geflügel unten in der Küche saß. Ich fand es witzig, wie Mânil Leila anmeckerte, wenn diese mich so bezeichnete. Das tat er natürlich nur, wenn er meinte, ich bekäme es nicht mit. Ich hatte ihm nie gesagt, weshalb ich mich Eule nannte, und ich war mir nicht sicher, ob ich es je über mich bringen würde, es ihm zu erzählen. Dieser Name fühlte sich für mich auf jeden Fall echter an als der, unter dem ich geboren worden war.

    Vermutlich sprachen die Nachbarn Dankesgebete, als Mânil aufhörte zu singen und seine Gitarre wegstellte. Er kam herunter und tauchte mit betont desinteressiertem Gesichtsausdruck in der Küchentür auf.

    Meine Adresse hattest du also nicht vergessen, stellte er schnippisch fest. Ja, ich hatte mich wirklich lange nicht mehr gemeldet, aber ich war im Stress gewesen. Da war dieser Einbruch gewesen, dann musste ich untertauchen, mir diesen Typen vom Leib schaffen, es war kompliziert. Trotzdem verursachte es mir ein seltsam warmes Gefühl im Bauch, dass sie mich anscheinend tatsächlich vermisst hatten. Manchmal fragte ich mich, ob es sich so anfühlte, wenn man eine Familie hatte. Ein Thema, das ich konsequent mied.

    Oh hey, was machst du denn hier?, sagte ich fröhlich, als hätte ich gar nicht damit gerechnet, ihn hier anzutreffen.

    Na ja, ich wusste ja nicht, dass du nur Naima besuchen und mit Ramon flirten wolltest, grinste er, kam in die Küche und setzte sich zu uns an den Tisch.

    Mânil war deutlich kleiner und schmaler als sein jüngerer Bruder; er war kaum größer als ich. Seine Haut war sehr blass, selbst im Sommer, und die schulterlangen, schwarzen Haare betonten das noch. Seine Augen waren von einem ungewöhnlichen, sehr intensiven Grün und wirkten riesig in seinem schmalen Gesicht.

    Mit seinem Klamottenstil hatte er sich von seinen Altersgenossen schon immer abgehoben. Er bevorzugte wilde Farbzusammenstellungen und hautenge Hosen, die auf seinen knochigen Hüften saßen. Seine Kleidung schien er generell nach der Devise „je schriller desto besser" zu kaufen. Jetzt gerade focht eine schwarz-weiß gestreifte Hose einen stillen Kampf mit einem grellgrünen T-Shirt aus, unter welchem er ein knallviolettes Langarm-Shirt trug. Seine Ohren zierten insgesamt fünf Ringe - anscheinend waren zwei neue dazu gekommen, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte - und seine Hände waren ebenfalls mit diversen Ringen und Armbändern dekoriert. Er hatte generell schon immer sehr androgyn auf mich gewirkt, als schwebe er irgendwo zwischen den Geschlechtern und machte sich darum auch nicht viele Gedanken. Außerdem sah er jetzt schon aus wie jemand, der entschlossen war, nur genau das zu tun, was er tun wollte und der sich von nichts und niemandem beirren lassen würde. Trotzdem schien er meist nicht so ganz von dieser Welt. Die dunklen Augenringe gehörten auch schon seit eh' und je zu seiner Grundausstattung, doch jetzt gerade sah er wirklich besorgniserregend übernächtigt aus.

    Um Himmelswillen! Bleib bloß hier!, bat Ramon ihn entsetzt. Sonst fängst du wieder an zu plärren! Wir alle - einschließlich Mânil - wussten, dass sein Gesang grauenhaft war und wir wussten genauso gut, dass ihn das noch lange nicht von seinem Hobby abhielt. Trotzdem verschränkte Mânil betont beleidigt die Arme vor der Brust und versuchte einen gefährlichen Blick. Das wiederum beeindruckte Ramon nicht besonders.

    Ich weiß nicht, was du gegen seinen Gesang hast, Ramon, schaltete sich nun auch Naima in das Gespräch ein. Die Elfjährige hatte zwar auch keine Geschmacksverirrungen, war aber einfach deutlich netter als ihre Geschwister. Demonstrativ rückte Mânil auf der Eckbank bis zu ihr und legte seinen Arm um sie.

    Du bist eine gute Schwester. Wenigstens eine in der Familie hat ein Gehör für Musik, lobte er feixend. Ramon würgte und ich lachte.

    Ich konnte mich nicht dagegen wehren, dass ich mich in dieser Familie wohlfühlte und stets den Zeitpunkt wieder aufzubrechen vor mir herschob.

    Die Kleine wand sich aus Mânils Umklammerung mit den Worten: Ja, ja, ich weiß, aber jetzt lass mich mein abendliches Mahl einnehmen.

    Das Theaterstück, das sie gerade in der Schule einstudierten, schien dazu zu führen, dass Naima deutlich gestelzter redete als sonst.

    Das hat man davon, wenn man versucht ein liebevolles Familienmitglied zu sein, murrte Mânil.

    Ich selbst hatte, soweit ich wusste, keine Geschwister und vermisste auch keine – außer, wenn ich hier war. Ich kannte Mânil gut genug, um zu wissen, dass er durchaus mitschnitt, wie ich empfand, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ - und auch wenn ich eigentlich gar nicht wollte, dass jemand so tiefe Einblicke in meine Gefühle bekam. Ich hab’ es halt nicht so mit Gefühlsdingen und bei meinem Lebenswandel war das auch besser so.

    Du siehst, es ist alles beim Alten, meinte Mânil. Und jetzt erzähl mir, wo du so lange gesteckt hast!

    Ich wand mich etwas, zerwühlte mein seltsam scharlachrotes, langes Haar und hätte ihm auf einmal am liebsten all dieses miese Zeug über mich erzählt. Aber ich wollte ihn nicht unnötig in mein völlig verkorkstes Leben mit hineinziehen. Er wusste zwar nur wenig über mich, aber das war schon mehr als genug.

    Keine Ahnung, sagte ich also. Muss ich wohl vergessen haben. Wieso, hast du mich vermisst? Er akzeptierte das, aber ich wusste, dass er wieder fragen würde.

    Kurze Zeit war alles, was zu hören war, Naimas Löffel in der Schüssel und das Cornflakes-Geknusper. Auf einmal hatte ich ein seltsames Gefühl im Nacken und es lief mir eiskalt den Rücken hinab. Es war plötzlich, als hätte es einen bestimmten Grund, dass ich heute hier saß und auch, dass die anderen drei in genau der Konstellation hier waren. Es war schon drei- oder viermal geschehen, dass ich solche Eingebungen hatte, jedoch erst einmal in dieser Intensität. Das war damals vor zwei Jahren gewesen und es hatte dazu geführt, dass Mânil und ich gemeinsam Kakao tranken und uns anfreundeten. Dies hier jedoch war stärker.

    Es war, als würde ich einen Text ablesen, als ich wie automatisch sagte: Ich hab’ gehört, dass ihr am Samstag in der Schule Schelmerei feiert. Ich hatte davon nichts gewusst, bis die Worte aus meinem Mund gekommen waren, trotzdem verspürte ich keine Spur von Angst. Was auch immer die Richtung dieses Gesprächs lenkte, war zwar etwas enorm Mächtiges, doch nichts, wovor ich mich fürchten musste.

    Ja, sagte Mânil fröhlich. Willst du mitkommen? Ramon lädt dich bestimmt gern ein.

    Dieser tat nichts dergleichen, sondern trat Mânil unterm Tisch kräftig gegens Schienbein, woraufhin Mânil jedoch nichtmal eine Miene verzog. Ich verspürte eine Art kühlen Stups und erwiderte: Das wäre vermutlich auch viel sinnvoller. Ich hätte nichts davon, mit dir zu gehen, da ich dich sowieso nicht erkennen würde.

    Ich dachte da nur an die letzten Nebelnächte, wo er als Zombie unterwegs gewesen war oder die Marionette von der letzten Schelmerei und seinen Piraten zur Konklusionsnacht und stapelweise Beispiele mehr. Insgeheim fand ich es ziemlich cool, zu was für krassen Verwandlungen er imstande war, und es war offensichtlich, wie viel Spaß er an der Sache hatte.

    Mânil lachte nur und ich sagte: Es sei denn, du verrätst mir, wer du am Samstag beabsichtigst zu sein.

    Er zuckte mit den Schultern und meinte: Keine Ahnung, werde ich sehen.

    Ich staunte, dass die anderen anscheinend diesen kühlen Hauch nicht wahrnahmen, der uns quasi die Worte aus dem Mund lockte.

    Nun ja, überlegte Naima dann pragmatisch, wie sie meist war. Ist doch einfach: Ihr schaut euch alle Jungs unter 1,63 m an und der, den ihr nicht erkennt, ist es. Ich bin beinahe 1,64 m, warf Mânil gespielt beleidigt ein.

    Ramon zuckte zusammen, als hätte ihn etwas gestochen, allerdings nahm das anscheinend nur ich wahr. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er auch gar keinen Stups benötigt hätte, als er mit unschuldigem Lächeln sagte: Und was ist mit den Mädchen, die beinahe 1,64 m groß sind? Wenn wir die Jungs alle erkennen? Den Tritt, den er nun von Mânil unter dem Tisch bekam, nahm er definitiv wahr.

    Ich kicherte und bekräftigte: Ja, das ist überhaupt DIE Idee! Hast du das mal versucht, Mânil?

    Seh ich so aus?, fragte er trocken zurück, ohne wirklich zu antworten. Ich sah ihn nur an und sein Gesicht sagte sehr deutlich, dass er darauf speziell von mir keine Antwort wollte. Als wir klein waren, hatte ich ihn tatsächlich eine ganze Weile irrtümlich für ein Mädchen gehalten. Außerdem hatte er seine Androgynität noch nie selbst thematisiert und war wohl auch noch nicht so weit, dass er das wollte.

    Ich bin erst sechzehn, fügte er hinzu. Findet ihr nicht, dass ich noch ein bisschen zu jung und zu pubertär für sowas bin?

    Die Tatsache, dass du das sagst, beweist das Gegenteil. Das wäre doch mal eine Herausforderung!, konterte ich lachend. Ich fragte mich, was genau an diesem Geplänkel so wichtig sein mochte.

    Du willst also, dass ich Jannicks neuste Vermutung was meine Neigungen anbelangt, noch bestätige und erweitere?, fragte er belustigt.

    Ich dachte, sowas ist dir egal, traust du dich das etwa nicht?, wunderte sich Ramon und dann setzte er grinsend zum Todesstoß an, indem er sagte: Oder glaubst du, dass du das nicht hinkriegst?

    Mânil kniff die Augen zusammen, als hätte Ramon ihm mit diesen beiden Sätzen körperliche Schmerzen zugefügt.

    Natürlich würde ich das hinkriegen, behauptete er und klang zutiefst gekränkt. Dass er dabei die Tischkante mit seinem Blick fixierte und über sich selbst schmunzeln musste, strafte seinen Tonfall Lügen.

    Ohne mein Zutun purzelte ein skeptisches Ehrlich? aus meinem Mund.

    Aber selbstverständlich!, betonte Mânil nun und bedachte uns alle mit einem trotzigen Blick. Genauso gut hätte quer über seinem Gesicht dieses für ihn sehr typische „Zweifelst du etwa an meinen Fähigkeiten?! geschrieben stehen können. Ich weiß nicht…, überlegte Ramon und betrachtete ihn eingehend von oben bis unten. Auch Naima machte ein fröhlich zweifelndes Gesicht, sagte jedoch nichts weiter. Natürlich begriff Mânil, worauf wir hinauswollten, doch anstatt sich taub zu stellen und uns für unsere Versuche auszulachen, wie er es sonst auch in solchen Situationen gut konnte, spielte er mit. Er schien für sich zu entscheiden, dass seine Verkleide-Ehre vorübergehend wichtiger war als die ernsthaftere Frage nach seinem generellen Geschlechtsausdruck. Ohne dass es eines Schubses von außen gebraucht hätte, stand er auf, stützte sich auf dem Tisch ab, beugte sich hinüber zu Ramon und fragte herausfordernd: Willst du wetten?!"

    Heiter ergriff Ramon seine dargebotene Hand und erwiderte: Na, wenn du so drauf bestehst. Setz dich wieder hin.

    Bei Mânils Lächeln fragte ich mich unwillkürlich, für wen von beiden das jetzt nun dumm gelaufen war. Ein Ruck ging durch den Raum und das, was auch immer uns hierhergeführt hatte, war verschwunden. Ramon stand auf und meinte noch immer breit grinsend, er freue sich auf Samstag, müsse aber jetzt noch seine Chemie-Aufgaben machen. Naima schüttelte nur den Kopf und löffelte weiter ihre Cornflakes.

    Was ist?, fragte Mânil sie.

    Ojemine, seufzte sie.

    Er verdrehte die Augen und wollte wissen: Sag mal, wie lange brauchst du für so einen Teller?

    Das ist mein dritter, beschied sie ihm.

    Theatralisch vergrub er das Gesicht in den Armen und rief aus: „Was hab’ ich für verfressene Geschwister - es ist kein Wunder, dass ich so dünn bin!"

    Liegt vermutlich daran, dass du keine Cornflakes magst, stimmte sie ihm gelassen zu. Dann seufzte sie wieder mindestens ebenso theatralisch. Die beiden waren so verschieden und sich trotzdem manchmal unglaublich ähnlich. Er verschränkte die Arme vor der Brust und wartete, dass sie ihm ihr Seufzen erklärte. Als sie nichts sagte, fragte er: Glaubst du, ich weiß nicht, was ich mir da eingebrockt habe?

    Während sie sich über ihren vierten Teller Cornflakes hermachte, erwiderte sie: Doch, du bist schlauer, als du tust. Ich hab’ nur nicht gedacht, daß du dich so leicht ärgern lässt. Was ist mit dem typischen ‚Na und, damit kann ich leben’?

    Er grübelte, sagte dann aber: Dein Standpunkt ergibt Sinn und ich habe keine Argumente dagegen. Ich protestiere aber rein aus Prinzip.

    Zu gern wäre ich noch länger geblieben, doch hatte ich heute noch einen geschäftlichen Termin, den ich auf keinen Fall warten lassen durfte. Also verabschiedete ich mich. Mânil brachte mich zur Tür und wollte wissen, ob ich am Samstag dabei wäre, doch das wusste ich noch nicht. Ich mochte Schulen nicht besonders und mied sie, wenn ich konnte.

    Wenn du live miterleben willst, wie ich mich blamiere, komm vorbei, meinte er schmunzelnd und dann bat er mich noch, ich solle mich bald mal wieder blicken lassen und solange gut auf mich aufpassen. Ich denke, dass ihm klar war, dass ich in einigen eher unschönen Geschichten tief drinsteckte. Ich versprach es, dann ging ich.

    Als ich das Haus verließ, war es bereits dunkel und es schien mir, als wäre es kälter geworden.

    MÂNIL:

    Ja, ich ahnte natürlich, dass sie in eine Menge illegales Zeug verwickelt war, und ich wusste, dass die Sache mit Familie und festem Wohnsitz ein sehr wunder Punkt bei ihr war. Ich versuchte, damit so vorsichtig es ging umzugehen, ohne dass sie es merkte. Es machte sie wütend, wenn man versuchte, mit ihr in bestimmten Dingen rücksichtsvoll zu sein und eine wütende Eule war in jedem Fall zu vermeiden. Ich hoffte, dass sie mir eines Tages genug vertrauen würde, um mir zu erzählen, was so furchtbar schief lief bei ihr und was dazu führte, dass sie stets wirkte, als sei sie auf der Flucht.

    Doch egal wie, was für mich zählte, war, dass sie meine beste Freundin war. Meinen Eltern gegenüber war es natürlich immer einfacher gewesen, sie als Mitschülerin vorzustellen. Alles andere hätte unweigerlich zu unnötigen Komplikationen geführt.

    Nun ja, da stand ich nun und fragte mich, wie ich in diesen Schlamassel geraten war. Dann dachte sich der leicht größenwahnsinnige Teil meines Egos, dass ich meine Sache am Samstag nur so richtig gut zu machen brauchte, dann würde mich schon niemand erkennen. Außerdem hatte ich ja noch drei Tage Zeit, um mir etwas richtig Tolles auszudenken, was mich in ein überzeugendes Mädchen verwandeln würde. Andererseits wurde ich ja vielleicht auch krank oder starb oder so was…

    Über die nächsten beiden Tage gibt es nichts weiter zu berichten. Mir wurde weiterhin ständig schlecht, mein Kopf drohte zu explodieren, ich schlief nicht und wenn doch mal, hatte ich wirre Albträume.

    Als ich am Freitag in Literatur schnarchend vom Stuhl kippte, schmiss mich unser Lehrer tatsächlich raus. Ich wurde nach Hause geschickt mit der Anordnung, mich vernünftig auszuschlafen und dafür, dass ich seinen wertvollen Unterricht verschlief, hatte ich den Auftrag bekommen, ein ewig langes Gedicht auswendig zu lernen. Zum Glück war ihm nicht klar, dass mir der Montagmorgen für so einen Auftrag reichte. Ich würde damit gewiss nicht mein Wochenende verschwenden, ich hatte andere Sorgen. Auch ein Grund, wieso ich trotzdem erst zum regulären Schulschluss zu Hause aufkreuzte. Es reichte, wenn meine Eltern sich um Ramons Arbeitsmoral sorgten.

    Mittlerweile hatte ich das völlig absurde Gefühl, dass in naher Zukunft irgendetwas total Spektakuläres und Sensationelles mit mir oder um mich herum geschehen würde. Ich vermutete, dass ich wirklich krank wurde oder vielleicht verlor ich auch den Verstand - wen hätte das schon überrascht? Eventuell war es auch doch nur ein massiver Anfall von Pubertät…

    Am Nachmittag rief Keith mich an und wollte wissen, wie ich diesen ersten Rauswurf meiner Schullaufbahn verkraftet hatte. Zu seiner Beunruhigung hatte ich im ersten Moment überhaupt keine Ahnung, wovon er redete. Dann erzählte ich ihm, was mich sonst so beschäftigte und dass ich vermutete, verrückt zu werden. Von der beknackten Wette erzählte ich ihm natürlich nichts. Er fand, ich sei nicht besonders pflegeleicht und damit hatte er vermutlich mehr als Recht.

    Nachdem er aufgelegt hatte, erklang aus der Leitung auf einmal diese seltsame fremdartige Stimme, die mir versicherte, es würde nicht mehr lange dauern. Erschrocken unterbrach ich die Verbindung und weil das den Schreck nicht völlig eliminierte, warf ich aus einem wirren Impuls heraus den Hörer an die Wand. Danach war ich froh, dass wir mehrere Telefonstationen im Haus hatten…

    Die Sorgen, die meine Eltern sich in letzter Zeit auch um mich machten, schienen in der Tat nicht ganz unberechtigt.

    Dann war Samstag. Ich hatte nach wie vor kein konkretes Bild vor Augen, wie ich es anstellen würde, diese Wette zu gewinnen. Am frühen Nachmittag meinte Naima zu mir, ich solle langsam anfangen, mir um meine anstehende Verwandlung Gedanken zu machen. Was glaubte sie, was ich die ganze Zeit tat?!

    Sie selbst hatte mit ihrer Klasse schon gestern Vormittag gefeiert, war als Hase gegangen und hatte dabei sehr knuffig ausgesehen. Leila hatte sich mittlerweile zurückgezogen, um die Vampirin in sich zum Vorschein zu bringen. Sie würde der gesamten Oberstufe den Kopf verdrehen. Ramon, der zwar mit vierzehn noch nicht ganz zur Oberstufe gehörte, aber trotzdem mitwollte, war schon heute Nachmittag mit einem Heiligenschein aus Plastik und Glitter aufgekreuzt und meinte, die Rolle des Heiligen passe ausgezeichnet zu ihm. Der Heiligenschein kollidierte nur minimal mit seinen blonden, kunstvoll zerzausten und blau gesträhnten Haaren.

    Ursprünglich hatte ich irgendetwas Dämonisches geplant, bis Ramon mit dieser hirnverbrannten Idee dahergekommen und ich drauf eingegangen war.

    Ich zog den Samstag so lang ich konnte, aber am späteren Nachmittag musste ich langsam anfangen, meinen großspurigen Worten Taten folgen zu lassen. Also nahm ich mich zusammen und ging rüber zu Leila. Ihr Teppichboden war mit Klamotten bedeckt, als hätte sie sich noch nicht ganz für ein Outfit entscheiden können. Nur in Unterwäsche stand sie vorm Spiegel und malte ihr Gesicht weiß an.

    Du siehst etwas blass aus, brauchst du Hilfe?, fragte ich. Die nächste halbe Stunde verbrachten wir damit, dass sie mir unterschiedliche Outfit-Kombinationen vorführte und wir berieten, was am vampirigsten wirkte. Am Ende entschied sie sich für das, was sie zu diesem Zweck ohnehin gekauft hatte.

    Und wie sieht's bei dir aus?, wollte sie wissen und dieses kleine Lispeln, das sie an sich hatte, solange sie diese beiden Vampireckzahn-Aufsätze über ihren eigenen Zähnen trug, würde heute vermutlich reihenweise Herzen brechen.

    Du solltest immer so rumlaufen. Gefällt mir, mal nicht der Weißeste weit und breit zu sein, erwiderte ich, doch sie sah mich weiter fragend an.

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