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Im Spiegel des Zwillings
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eBook344 Seiten5 Stunden

Im Spiegel des Zwillings

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Über dieses E-Book

Otto arbeitet als Inspizient an einem der unzähligen Theater Berlins.
Zwei Wochen vor dem Jahreswechsel beginnen die Endproben zu Shakespeares "Ein Sommernachtstraum".
Auf rätselhafte Weise verschlägt es Otto über Nacht in eine unbekannte Welt. In diesem fremdartigen Reich begibt er sich auf die Suche nach Antworten und begegnet einem seltsam exotischen Volk.
Nachdem er überraschend zurückkehrt, muss er von der Polizei erfahren, dass seine Verlobte ermordet worden ist. Hängt das in irgendeiner Weise mit seiner Entdeckung der anderen Welt zusammen?
Er beginnt auf eigene Faust zu ermitteln und hilft dem Kommissar bei der Aufklärung des Mordes, verbringt aber mehr und mehr Zeit in der Fremde.
Zunehmend verknüpft sich das Hier mit dem Dort, bis Otto am Ende dem Mörder gegenübersteht, doch wo wird das sein?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum25. Juni 2017
ISBN9783742782656
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    Buchvorschau

    Im Spiegel des Zwillings - Ute Neas

    Prolog - Der Aufbruch

    Noch vor einem Moment befand er sich in einer fremden Welt. In letzter Zeit verschlägt es ihn immer häufiger dorthin. Dieses Mal ist etwas großartiges passiert, er hat endlich ein paar Worte der unbekannten Sprache verstanden. Nun können ihm jene Wesen endlich sagen, wer sie sind und was sie von ihm wollen.

    Er versucht sich noch einmal an seine erste Begegnung mit ihnen zu erinnern. Schon jetzt verblassen die Erinnerungen. Eines hat sich aber tief in sein Gedächtnis eingebrannt, die Angst, die sich damals seiner bemächtigte. Ohne eine Vorwarnung, ganz plötzlich war es geschehen. Dieses erste Aufeinandertreffen hatte aber die Anderen noch viel mehr erschreckt als ihn, so sehr, dass sie in ihrer Panik ein furchtbares Unwetter heraufbeschworen. Erst viel später wird er herausfinden, was sie so erschreckt hat, denn nicht die Tatsache, dass ein Mensch in ihre Welt eindrang, war der Grund dafür.

    Aber begonnen hat alles viel früher.

    An einem Morgen, der genauso anfing, wie viele andere zuvor, brachte ihn irgendetwas, völlig unerwartet und von ihm unbemerkt, in eine andere Welt. In dem einen Moment war er, vor seinem Badezimmerspiegel, mit der alltäglichen Prozedur des Rasierens beschäftigt und im nächsten nur noch mit der Frage: Wo bin ich? Von einer Sekunde auf die andere fand er sich auf der Wiese einer unbekannten Waldlichtung wieder. Im wilden Grün zelebrierte das im Wind tanzende Gras seine Vollkommenheit. Am Blauen, wolkenlosen Himmel stand die Sonne genau im Zenit. Wenn es einen Schatten von ihm gegeben hatte, so war der vollständig unter seine Füße gekrochen. Eine kleine braune Feder segelte neben seinen Füßen zu Boden und kurz darauf ertönte über ihm ein hohes Kreischen. Mit zurückgeworfenem Kopf suchten seine scharf gestellten Augen die Lüfte nach dem unbändigen Schreihals ab und erspähten hoch oben am Firmament einen Bussard, der dort seine Kreise zog. Irgendetwas in seinem Schnabel glitzerte und funkelte bis weit in die Ferne.

    Bevor sein Nacken steif werden konnte, erreichte die Hitze des Tages seinen Körper. Er hörte auf zu zittern, löste sich aus seinem starren Entsetzen und schaute sich um, indem er sich einmal langsam um sich selbst drehte. Auf der einen Seite, in einiger Entfernung, hinter dem Wald, der ihn umgab, glaubte er, so etwas wie eine Stadt, erkennen zu können. Große, weiße Gebilde blitzten durch das Laub hindurch und ragten über es hinaus.

    Er wusste nicht, wie lange er auf dieser Lichtung unbeweglich gestanden hatte, bevor seine Füße sich endlich in Bewegung setzten, um ihn in die Richtung der unbekannten Stadt zu tragen. Das weiche, saftige Gras kitzelte seine Fußsohlen. Er sah verwundert an sich hinab und blickte auf die nackten Füße am Ende seiner Gliedmaßen, kein Schuhwerk, keine Socken boten ihnen Schutz. Früher, als kleiner Junge, war er oft und gerne barfüßig durch den Wald gelaufen, doch das lag nun schon lange zurück. Würden seine zartbesaiteten Füße das jetzt noch aushalten? Es blieb ihm nichts anderes übrig, als dies herauszufinden und so lief er unverändert, sich damit abfindend, jeden Kieselstein und jeden Dorn zu spüren, weiter.

    Noch immer kreiste der Bussard über ihm, und schien ihn mit seinen hohen, kreischenden Rufen vertreiben zu wollen. Möglicherweise sah der sich bei seiner Jagd gestört. Vielleicht saß in einer der Baumkronen dessen Junges und drohte schon zu verhungern, weil es bereits viel zu lange nichts zu fressen bekommen hatte. Um den Jäger der Lüfte zu beruhigen, verließ er die helle Lichtung und begab sich in den dämmrigen Wald. Es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und wieder etwas erkennen konnten. Von dem, was er für eine Stadt gehalten hatte, war nun nichts mehr zu sehen, aber er wusste noch, in welcher Richtung sie lag. Die Angst, die ihn durch den unbekannten, finsteren Wald begleitete, wich bald von ihm, denn es schien fast so, als würde der Wald ihm wohlgesonnen sein. Seine nackten Füße konnten sich fast den ganzen Weg lang über samtweiches Moos bewegen. Auch unbekannte, gefährliche Tiere begegneten ihm nicht, vielleicht gab es überhaupt keine. Während seines gesamten Marsches fiel genügend Licht durch das dicke, grüne Laub, so lief er niemals Gefahr, den Weg aus Versehen zu verlassen, den ihm der Wald so komfortabel wies und von dem er hoffte, dass der ihn sicher ans Ziel brächte. Nachdem er eine Weile den ihm gewiesenen Pfad gefolgt war, sah er endlich wieder etwas Weißes zwischen den Baumstämmen hindurchschimmern. Er war davon überzeugt, dass es sich dabei um die Häuser einer Stadt handelte, obwohl das, was er sah, so weiß war, wie die nassen Laken in den engen Gassen Kairos, die dort voller Stolz aufgehängt werden, nachdem sie von den nubischen Frauen mit einem fingerhutvoll Azurblau gewaschen wurden, Stolz auf das strahlende Weiß ihrer Wäsche. Auch wenn das Weiß hinter den Bäumen ebenso gut hätte Schnee sein können, wären die Temperaturen andere gewesen, er glaubte fest daran, dass er dort auf eine Art von Zivilisation treffen würde, die anders wäre, als die im Norden Afrikas oder jene am Fuße des Kilimandscharo, anders als alles, was er bisher gesehen hatte. Und genau deshalb lief er zielstrebig weiter, geradewegs darauf zu. Nach einiger Zeit wurde es um ihn herum wieder heller, der Wald begann sich langsam zu lichten, schon bald ließ das Blätterdach wieder das Licht der Sonne zu ihm vor. Dann endlich, er schlüpfte noch durch ein paar gewaltige, uralte Eichen hindurch, da sah er sich augenblicklich einer so ausgefallenen Konstruktion gegenüber, die erst durch ihre Einfachheit und Geradlinigkeit auf ihn eine starke Faszination ausübte. Vor ihm erhob sich ein gigantischer, makellos geformter, schneeweißer Zylinder, geradezu pompös in seiner Perfektion. Und dahinter standen noch mehr, viele mehr, jeder glich dem anderen bis ins kleinste Molekül, eine Komposition in Harmonie. Kein Theater dieser Welt könnte das auf die Bühne zaubern, was er hier sah. Entweder tat sich vor ihm eine Stadt besonderer Art auf, oder er war in die Garderobe eines, von Hüten besessenen, altmodisch gekleideten Riesen gestolpert.

    Zaghaft setzte er einen Fuß vor den anderen und begann das nächstgelegene Objekt zu umkreisen.

    Ein Teil davon, sehr weit oben, war rundherum durchsichtig, so dass man dort vermutlich bis weit über das Land blicken konnte. Gegen Ende seiner Runde, entdeckte er etwas, das wie eine Tür aussah. Es konnte sich also tatsächlich um ein Wohnhaus handeln. Aber sie war verschlossen, bot keine Klinke, Schalter oder ähnliches, das er hätte bedienen können, um sie zu öffnen. Weit und breit war niemand zu sehen. Auf sein Pochen und Hämmern gegen die Tür, rührte sich im Innern nichts, ebenso wenig auf sein lautes Rufen, das er mangels Klingel auch noch einsetzte. Die ganze Gegend wirkte wie ausgestorben, oder war sie verlassen worden? Auf einmal kam er sich ganz verloren vor, wie er in dieser unbekannten Welt stand und die Leere anschrie. Hier musste es einfach irgendwo Leben geben. Vielleicht sollte er weiter vordringen in den Ort. Seine suchenden Augen entdeckten einen Weg der abwärts führte, dorthin, wo die schneeweißen Zylinder noch dichter beieinander standen, und er folgte ihm. Nach ein paar Schritten hinab machte der Weg eine Biegung nach rechts. Diese hinter sich lassend, konnte er jetzt bis ganz nach unten sehen, und dort, am tiefsten Punkt dieses merkwürdigen Ortes, da entdeckte er sie, auf einem freien Platz.

    Obwohl er nichts über die Fremden wusste, oder gerade deswegen, denn auch die Neugier trieb ihn an, überwand er seine Angst und setzte sich, ein wenig zornig, in Bewegung. Ihm blieb gar keine Wahl, wenn er herausfinden wollte, warum er hier war, musste er zu ihnen.

    Auf seinem Weg nach unten, zeigte sich, dass dieser Ort viel größer  war, als er geglaubt hatte. Der Weg, den er hinablief, schien im gleichen Maße, wie er voranschritt, zu wachsen, dehnte sich scheinbar aus und wurde immer länger. Irgendwann war es aber doch so weit, er tauchte ein in das Getümmel auf dem Platz.

    Anfänglich wusste er überhaupt nicht, was er da sah. Das Bild eines ziemlich verwahrlosten Mannes ließ ihn zusammenzucken. Bei genauer Betrachtung konnte er irgendwo zwischen den zerzausten Haaren, den Bartstoppeln und dem Dreck, den der Wald auf dem Gesicht hinterlassen hatte, sich selber erkennen. Tatsächlich hatte ein verdunkeltes Fenster ihm sein Spiegelbild zurückgeworfen. Aber nichts konnte ihn jetzt mehr  aufhalten. Er suchte nach Antworten, und dafür musste er weiter. Bevor er jedoch jemanden ansprechen konnte, da sah er plötzlich wieder sich, im Badezimmerspiegel seiner Wohnung. Die Hand, die noch immer den Rasierapparat hielt, hing schlaff an seiner Seite herunter.

    Hatte er das alles geträumt?

    Die Nachricht

    Das Telefon draußen im Flur klingelte. Mit jedem zügellosen Läuten kehrte Otto Schritt für Schritt zurück in die uns bekannte Welt. Als er endlich das Telefon erreichte, da verstummte es. Der ungeduldige Anrufer hatte aufgegeben. Ihn fror, unerwartete eisige Kälte stieg von seinen Füßen empor. Bei klirrender Kälte stand er barfüßig vor dem Telefon im unbeheizten Flur seiner Wohnung. Über Nacht hatte plötzlich der Winter Einzug gehalten.

    Ein Blick auf die Uhr mahnte ihn zur Eile. In einer halben Stunde war Probenbeginn, und als Inspizient sollte er die Bühne vor den Darstellern betreten. Er wollte nur noch rasch nachsehen, ob SIE zuhause war, doch, wie so oft in letzter Zeit, schlug ihm die Leere ihres Zimmers mit schmerzhafter Wucht entgegen. Eine unerklärliche Angst saß ihm im Nacken, als er hinaus ins Freie trat. Es gibt Tage, da spürt man das Unheil nahen. Dies war ein solcher.

    Pünktlich wie immer, traf er im Theater ein und begann die Probe zur festgesetzten Zeit. Als sie gerade eine halbe Stunde lang geprobt hatten, unterbrach die Regisseurin plötzlich die Arbeit, schickte das Ensemble in eine Pause und beorderte Otto hinunter zur Pforte, wo ihn dringend ein paar Leute zu sprechen wünschten. Was konnte so wichtig sein, dass deswegen, mitten in den Endproben zum Sommernachtstraum, das halbe Theater lahmgelegt wurde? Ihm fiel nichts dazu ein, außer einem Vorfall, der sich vor langer Zeit zugetragen hatte.

    Er war damals dreizehn Jahre alt und saß mit ein paar Freunden erwartungsvoll im Kino. Sechshundert Menschen hatten es ihnen gleichgetan. Sie alle waren gekommen, um den mit Ungeduld erwarteten Film „Es war einmal in Amerika", zu sehen. Nun starrten sechshundert Augenpaare gebannt auf die Bilder, die die Leinwand füllten. Robert de Niro verließ gerade nach langer Haft das Gefängnis, wurde von seiner alten Jugendgang, die inzwischen erwachsen geworden war, euphorisch empfangen, und in ein Auto zu einer Nutte verfrachtet, als sich plötzlich der Ton des Films veränderte und eine Zeit lang viel zu leise und unverständlich blieb. Die größtenteils jugendlichen Zuschauer wurden schon ärgerlich und begannen sich lautstark über diesen unakzeptablen Zustand zu beschweren, da kam eine Frau in den Saal, trat vor die Leinwand und erkundigte sich laut, ob ein Otto so und so anwesend sei. Etwas konsterniert gab er sich zu erkennen, woraufhin die Frau ihn, wegen einer wichtigen Angelegenheit, nach draußen bat. Seine Freunde, er und wahrscheinlich auch die meisten anderen Zuschauer, sie alle nahmen an, dass etwas ganz Furchtbares passiert sein musste. So einfach ging man auch damals nicht in ein Kino, ließ den Film unterbrechen und Jemanden herausholen.

    Nachdem Otto den Saal verlassen hatte, teilte man ihm mit, dass er Besuch hätte und führte ihn ins Foyer. Dort erwartete ihn, zu seiner großen Überraschung, ein Freund vom vergangenen Sommer, den sie gemeinsam in einem Ferienlager verbracht hatten. Drei Wochen lang waren sie zusammen durch Dick und Dünn gegangen. Otto hatte das alles fast schon vergessen, schließlich wohnten sie weit voneinander entfernt, ein Telefon besaß damals kaum jemand und im zarten Alter von dreizehn Jahren fährt man noch nicht alleine quer durchs Land, um einen flüchtigen Freund zu besuchen. Dieser hier war auch nur auf der Durchreise und hatte in Ottos Heimatstadt ein paar Stunden Aufenthalt, die er unbedingt mit seinem Freund verbringen wollte.

    Sie hatten sich viel zu erzählen, lachten über Vergangenes und trauerten um den Abschied, der allzu schnell kam. Die Zeit war wie im Fluge vergangen, und sein Freund musste wieder zum Zug.

    Seither haben sie sich nicht wiedergesehen, aber diese zwei Stunden werden für Otto noch lange in Erinnerung bleiben. Leider hat sein Freund ihm nie verraten, wie er es fertiggebracht hatte, das Kinopersonal zu überzeugen, ihn dort rauszuholen, und das nur, um einen kurzen Plausch mit seinem Freund zu halten. Doch jene amüsante Geschichte lag nun schon lange zurück, und an diesem heutigen Tag, drei Jahrzehnte danach, würde es mit Sicherheit nicht so glimpflich enden.

    Mit schlotternden Knien stieg er die Treppe hinab. Er musste aufpassen, dass er nicht hinstürzte. Diese Angst, die sich am frühen Morgen bei ihm eingenistet hatte, gebar sich jetzt als ausgemachtes Schreckgespenst.

    Beim Pförtner standen zwei Männer die er nicht kannte. Eine einzige, kaum wahrnehmbare Kopfbewegung des Pförtners, deutete ihm an, dass dies die Herren waren, die auf ihn warteten.

    Der Jüngere von beiden, mittelgroß und ungesund dünn, mit altmodischem Oberlippenbart, einer glänzenden Nickelbrille, die vielleicht vor dreißig Jahren modern gewesen war, und schütterem, dunklem Haar, stellte den anderen Herrn als Kriminalhauptkommissar Adam vor, sich selbst aber nicht. Dann fragte er Otto nach einem Dokument, mit dem er sich ausweisen könne. Dabei dehnte er jedes Wort derart in die Länge, als spräche er in einer ihm fremden Sprache. Otto fiel auf, wie sehr der Mann darum bemüht war, gelassen zu wirken. Da man ihm jedoch die Anstrengung ansah, die es ihn kostete, wirkte er noch unsicherer, als er ohnehin schon war, ein wenig so, wie ein kleiner Junge bei seiner ersten Verabredung mit einem Mädchen. Zudem fiel sein Körper langsam in sich zusammen und schien sich mehr und mehr zu krümmen. Obwohl Otto beinahe Mitleid mit dem schmächtigen Mann hatte, huschte ihm die Andeutung eines Schmunzelns über das Gesicht. Dieses kleine Zwischenspiel entging dem aufmerksamen Kommissar nicht. „Mensch reißen sie sich zusammen Kriminalmeister Grell. Entschuldigen sie bitte, das ist sein erster Tag mit mir im Außendienst., wandte dieser sich nun an Otto. „Hätten sie vielleicht einen Ausweis dabei den sie uns zeigen könnten? Ottos Hände zitterten heftig, als er in die Gesäßtasche seiner Hose griff. Er konnte ihnen nicht mehr trauen und war froh, als der Kommissar für ihn den Ausweis aus der Brieftasche fingerte. Er wäre dazu außerstande gewesen. Das ist das Schlimmste, dass einem die einfachsten Dinge nicht mehr gelingen wollen, wenn der Körper von Angst regiert wird. Nachdem der Kommissar, der das komplette Gegenteil seines Kollegen war, geradezu einschüchternd souverän, nachdem er festgestellt hatte, dass Otto die Person war, die er vorgab zu sein, riet er ihm Platz zu nehmen, und Otto ließ den Körper, der nicht mehr der seine war und sich dankbar für die Erleichterung zeigte, in einen der beiden ledernen Sessel vor der Pförtnerloge fallen.

    Kaum war er in den Sessel gesunken, begann sein schlimmster Albtraum Gestalt anzunehmen. „Sie leben mit Katharina Valla zusammen, ist das korrekt? „Ja, wir sind verlobt, wieso?, kam es kläglich aus Otto heraus, denn jedes einzelne Wort musste zuerst eine Schlacht gewinnen, bevor es einen Weg hinaus ins Freie fand. „Ach so, sie wollten heiraten, das wussten wir nicht, dann tut mir umso mehr leid, was ich ihnen jetzt mitteilen muss: Katharina Valla ist heute, in den frühen Morgenstunden, im Monbijoupark, nahe dem Brunnen, ermordet aufgefunden worden. „Was für ein Brunnen? Im Monbijoupark gibt es keinen Brunnen. Otto wusste überhaupt nicht was er da sagte, redete irgendetwas daher, sein Gehirn hatte schlagartig ausgesetzt. „Beruhigen sie sich, bitte. Ich konnte sie nicht schonender informieren, aber ich glaube, der Brunnen ist relativ neu, er wurde wohl erst vor kurzem dort aufgebaut, Oranienburger Straße Ecke Monbijoustraße, am Parkeingang. An das, was dann alles folgte, kann Otto sich nur bruchstückhaft erinnern: „Wir wissen noch nichts Genaues… keine konkrete Zeit, irgendwann gestern Nacht… mehrere Stichwunden… der linke Ringfinger fehlt…

    Das Letzte bekam er mit und blickte unwillkürlich auf den Verlobungsring an seiner linken Hand. Ein funkelnder Stern schien, wie durch Magie, über den schwarzen Stein hinwegzugleiten, er hatte etwas Sonnenlicht eingefangen und gab es auf diese Weise wieder frei. Katharina hatte ebenfalls einen an der linken Hand getragen, und in nicht einmal zwölf Wochen sollten beide Ringe auf die rechte Hand hinüberwechseln und ein ewiges Bündnis besiegeln. Wollte sie sich jetzt doch davor drücken? Wieder zeigte der Kommissar seine gute Beobachtungsgabe, fragte Otto nach der Bedeutung des Ringes und, ob Katharina auch einen getragen hatte. Offenbar war ihrer verschwunden, mit dem Finger, der ihn trug. „Das sind unsere Verlobungsringe, und sie wäre mit Sicherheit nicht ohne ihren aus dem Haus gegangen. Otto stand kurz davor, ihnen den Hintersinn dieses Steines zu erklären, als ihm klar wurde, dass das hierfür wahrscheinlich überhaupt nicht hilfreich wäre. „Ach so, wir werden danach Ausschau halten. Vielen Dank. Das wäre vorerst alles, außer einer Sache: Könnten sie, wenn es nicht zu viel verlangt ist, so schnell wie möglich ins Rechtsmedizinische Institut in der Turmstraße kommen, um ihre Leiche zu identifizieren! Anschließend hätten wir da noch ein paar Dinge zu klären. Irgendwo in der Ferne hörte Otto die Glocken einer Kirche läuten. „Das bedeutet, es besteht immer noch die Möglichkeit, dass sie es gar nicht ist? „Diese Hoffnung sollten sie sich lieber aus dem Kopf schlagen. Es ist nur zwingend erforderlich, dass sie jemand so rasch wie möglich identifiziert. Erst danach dürfen wir die genauen Umstände ihres Todes untersuchen, und wenn sie das tun würden, könnten wir ihrer Familie diesen schmerzvollen Gang ersparen.

    Otto versprach zu kommen, und jenes sonderbar, ungleiche Paar wandte sich teilnahmslos dem Ausgang zu. Sie hatten bekommen, was sie wollten und ließen Otto, dessen Welt sie mit wenigen Worten in Trümmer gelegt hatten, in diesem Trümmerhaufen zurück. Unerklärlicherweise hatte das Zittern seines Körpers aufgehört, der war jetzt ganz ruhig. Aus den Tiefen seines Seins bohrte sich ganz langsam eine schreckliche Emotion an die Oberfläche, kein Schmerz, ein Gefühl der Leere und des Nacktseins. Gläsern schien er zu werden, seine Haut durchsichtig, für jedermann einsehbar, wie auf den Bildern dieser Körperscanner, die man inzwischen auf so manchem Flughafen vorfindet. So verletzlich, wie er sich jetzt fühlte, blieb er rührungslos, zusammengekauert dort sitzen, wo er war und träumte sich auf eine saftige, grüne Wiese. Es roch so herrlich nach frisch gemähtem Gras.

    „Otto, ist alles in Ordnung? Was ist denn passiert?" Die Regisseurin hockte vor ihm. Wo war die plötzlich hergekommen? „Ach nichts. Machen wir jetzt weiter? Soll ich alle ein-rufen? „Nur, wenn du dich dazu in der Lage siehst. „Na klar, warum auch nicht?"

    Als er wieder zur Bühne kam und die Probe fortsetzte, fragte ihn niemand, was los gewesen sei. Das fand Otto sehr merkwürdig, denn schließlich hatten sie alle mitbekommen, dass nur seinetwegen die Probe zu so früher Stunde unterbrochen worden war, und normalerweise hätten sie wissen wollen, warum. Irgendjemand musste geplaudert haben. „Der Pförtner!", schoss es ihm durch den Kopf, der hatte als einziger alles mit angehört. Am liebsten wäre er sofort zu ihm gegangen und hätte ihn zur Rede gestellt. Er schwor sich, das nach der Probe auf jeden Fall nachzuholen, aber bis dahin sollte sich sein Verdacht als Irrtum herausstellen.

    Kurz nachdem Otto wieder alle Leute auf, vor und hinter der Bühne auf ihren korrekten Positionen wusste, und eben im Begriff war, die Probe fortzusetzen, da erschien ganz unverhofft der Intendant des Hauses am Inspizienten Pult, und bot ihm an, sich frei zu nehmen. Nein, wieso denn? Ich weiß, warum die Polizei da war. Bevor ich dich aus der Probe holen ließ, haben sie mir erklärt, worum es geht. Ich kann mir also vorstellen, wie es dir geht, und hätte Verständnis, wenn du jetzt nicht weiterarbeiten kannst. Das regle ich schon irgendwie. Nicht nötig, ich mache weiter. Otto setzte sogleich alle erforderlichen Lichtzeichen und rief zur Bühne, es könne jetzt weitergehen, damit der Intendant sehen konnte, dass es ihm ernst war. Nun war Otto klar, was vor sich gegangen war. Der Intendant hatte es von der Polizei erfahren, die Regisseurin vom Intendanten und das Ensemble von der Regisseurin. Otto fragte sich, ob auch schon die Kollegen von der Klimatechnik Bescheid wussten, die ihr Domizil ganz tief unten im Keller hatten. Es empörte ihn, dass der Klatsch, den das Theater über alles liebte, nun ihn zum Thema hatte, während sein bisheriges Leben, da unten an der Pförtnerloge, ein jähes Ende fand. Er hatte keine Zeit mehr länger darüber oder über andere Dinge nachzugrübeln, die Probe verlangte nach seiner ganzen Aufmerksamkeit.

    Otto blieb also. Wie ein gut programmierter Roboter versah er seinen Dienst bis zum bitteren Ende. Nach der Vormittagsprobe wurde geleuchtet, bis an die Abendprobe heran. Ohne eine Pause dazwischen, rief er danach gleich wieder alle zum Stückbeginn ein. Nach einem halbwegs gelungenen Durchlauf, bat er über seinen Ein-Ruf alle Darsteller zur Kritik ins Konversationszimmer, schloss sein Inspizienten Pult ab und entschied sich, dieses Mal an der Probeneinschätzung nicht teizunehmen. Wenn es Kritik an seiner Arbeit gab, konnte ihm die Regisseurin oder ihr Assistent diese am nächsten Morgen mitteilen. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen.

    Endlich neigte sich dieser qualvolle Tag seinem Ende zu und Otto betrat, auf einen Whisky erpicht, die Theaterkantine. Hatte dort soeben noch ein reges Treiben geherrscht, stellte sich abrupt betretenes Schweigen ein. Irritiert schaute er sich um und sah die vielen fragende Augen auf sich ruhen. Bevor irgendjemand ihn ansprechen konnte, verließ er den Raum auf der anderen Seite wieder und trat hinaus auf die Straße.

    Er ging in die nächstgelegene Kneipe, in der ihn mit Sicherheit niemand kannte und bekam endlich seinen lang ersehnten Whisky. Dies war der Beginn einer Nacht der endlosen Exzesse. Er zog von Kneipe zu Kneipe und schüttete in sich hinein, was hineinging. Ob er dabei irgendwen getroffen hat, dass wusste er später nicht mehr. Als der Morgen graute standen immer noch ein Bier und ein Whisky vor seiner Nase auf dem Tresen eines Lokals, dass er noch nie zuvor gesehen hatte, und von dem er nicht einmal wusste, wo es sich überhaupt befand. Statt irgendwo in Berlin hätte er sich ebenso gut auf dem Saturn befinden können. Nachdem die meisten Menschen ihren Weg zur Arbeit zurückgelegt hatten, und der Kneipier seinen Laden schließen wollte, war es auch für Otto Zeit aufzubrechen. Ein neuer, langer Probentag lag vor ihm. Als er sich vom Barhocker hievte, wurde ihm klar, dass er viel zu betrunken war, um arbeiten zu gehen. In dem Zustand hätte er kaum den Weg zum Theater gefunden. Er riss sich zusammen, versuchte sich zu konzentrieren und rief dort an. Im Betriebsbüro fragte man nicht einmal nach dem Grund, als er ihnen mitteilte, dass er sich außerstande sähe, jetzt zur Probe zu kommen. Da am Morgen nur kleine Einzelproben angesetzt waren, sollte seine Abwesenheit kein größeres Problem darstellen und bis zur Abendprobe wollte er wieder fit sein.

    Seine neu gewonnene Freiheit nutzte Otto dafür, in die nächste offene Kneipe einzukehren, wo er sich wieder Bier und Whisky bereitstellen ließ. Während er ein um das andere Glas trank, wartete er darauf, dass er endlich etwas Anderes spürte, als diesen dauernden Druck, der auf ihm lastete, doch lange Zeit veränderte sich nichts. Eine nie gekannte Ruhe hatte sich seiner bemächtigt, als wäre er zu einer leeren Hülle verkommen, einzig dazu da, dieses Vakuum zu umschließen. Schweigend saß er da, an seinem Tisch und trank sein Bier und seinen Whisky, ohne einen Gedanken. Das Einzige, das ihm ab und zu passierte, waren Bilder, die ihm erschienen, vor seinem geistigen Auge. Da war dieser dürre, schnauzbärtige Polizist, dessen Gesicht jedoch Katharinas Züge trug. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte er das wahrscheinlich sehr komisch gefunden, aber jetzt stieß ihn das einfach nur ab. Die Stunden gingen ins Land, dann endlich wich der Druck von ihm, er landete sanft auf einer Wolke und begann sich aufzulösen, wurde körperlos. Mit dem frisch aufgekommenen Wind zerstreute er sich und glitt hinüber in ein unbekanntes, düsteres Land.

    Als er wieder zu sich kam, umgab ihn Dunkelheit, die Nacht war über die Stadt hereingebrochen. Der Tag war ihm irgendwie abhanden gekommen, als hätte er niemals existiert. Orientierungslos irrte er durch Gestrüpp, verfing sich darin, stolperte, stand wieder auf und wähnte sich in einem Wald. Wo war er? Er hatte doch die Stadt nicht verlassen? Übelkeit überkam ihn und zwang ihn dazu, stehen zu bleiben. Von irgendwoher drang Licht durch das Laub der Bäume, ein unbeweglicher heller Schein, der nicht vom fernen Mond stammen konnte. Die abnehmende Sichel hing, Wolken verhangen, direkt über ihm. Er hörte eine S-Bahn vorbeirasen, sie musste sich in der Nähe befinden. Also war er noch immer in der Stadt und bei der Lichtquelle handelte es sich vermutlich um eine Straßenlaterne, die hinter den Bäumen einen Weg beleuchtete. Wahrscheinlich befand er sich in einem Park. Schon im nächsten Augenblick erkannte er ihn. Aber er verstand nicht, was ihn in den Monbijoupark  verschlagen hatte. Bilder tauchten schemenhaft auf, die viel zu rasch wechselten. Er sah kurz einen Brunnen aufblitzen, der zu schweben schien, auf dessen Rand ein alter, zerzauster Bussard saß, der den Finger eines Menschen im Schnabel hatte. Schon einen Moment später erschien ihm sein Intendant mit einem merkwürdigen Schnurrbart und einer altmodischen Nickelbrille, beides Dinge, die Otto noch niemals an ihm gesehen hatte. In dieser Aufmachung stand er auf der Bühne und zeigte mit einem fremden Finger, den er in der Hand hielt, auf die Drehbühne, die sich immerfort drehte und rief dabei: Schneller, schneller!" Aus der Unterbühne traten Unmengen an Blut. Darin tanzten Elfen ganz ausgelassen herum, dass das Blut in alle Richtungen nur so spritzte, wie Regenwasser, in dessen Pfützen fröhlich hüpfende Kinder sich austoben. Ein heller Stern funkelte in der Ferne und eine Frau schrie wie am Spieß. Otto spürte wie der Boden unter seinen Füßen nachgab. Die Welt um ihn herum begann sich in einem rasenden Tempo zu drehen. Er ließ sich auf das fast schon gefrorene Erdreich nieder. Die Kälte, die seinen Körper sofort erfasste, war ihm egal, er wollte nur noch eines, dass diese Bilder aufhörten. Doch selbst als er die Augen schloss, drangen sie weiter auf ihn ein. Erst nach einer gefühlten, grauenvollen Ewigkeit, als er seinen Körper kaum noch spürte, hörten die Bilder endlich auf. Dunkelheit und Leere breiteten sich wieder in ihm aus.

    Bei seinem Wiedererwachen hatte sich der Mond verzogen, er war von der Sonne verdrängt worden, welche nun die Welt mit einem hellen, gleißenden Licht überflutete. Seine kaum noch spürbaren Glieder waren steif gefroren und der Rest seines Körpers hatte dieses feuchte, kalte Bett vermutlich auch nicht unbeschadet überstanden. Was für ein Traum, dachte er und versuchte die Erinnerung daran schnell abzuschütteln, als ihm auf einmal bewusst wurde, dass dies der erste Albtraum nach einer sehr langen Zeit gewesen ist. Früher allerdings, da hatten ihn häufig schlechte Träume gequält, Träume, in denen er so manchen Kampf ausgefochten hatte, bis sie eines Tages plötzlich verstummten. Viel zu oft hatten sie ihn schreiend aus dem Schlaf gerissen.

    Ein Blick auf sein linkes Handgelenk verhieß nichts Gutes, man hatte ihn beraubt. Die Uhr von seinem Großvater war weg. Die leere Innentasche seiner Jacke offenbarte ihm erst das ganze Ausmaß dieser räuberischen Nacht, auch die Brieftasche war fort, aber am schlimmsten war der Anblick seines linken Ringfingers, dessen Nacktheit Otto fast Tränen in die Augen trieb. Was wird Katharina sagen, wenn sie sieht, dass mein Verlobungsring weg ist, dachte er, und es schien fast so, als hätte es die beiden letzten Tage überhaupt nicht gegeben. Er hatte sie einfach ausgelöscht und der Leere gestattet diesen Raum einzunehmen. Alles woran er sich erinnerte, waren die Bilder eines Traumes, eines langen, bösen Albtraumes, mehr nicht. Er grübelte nur noch darüber nach, wie er den verloren gegangenen Ring Katharina erklären sollte. Er beschloss, sich das später zu überlegen, denn im Moment verlangte sein Körper nach Wärme und Essen. Er

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