Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Barthannyu
Barthannyu
Barthannyu
eBook835 Seiten12 Stunden

Barthannyu

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Wer oder was ist Barthannyu? Diese Frage wird sich der neugierige Leser als erstes stellen. Der Roman in drei Teilen erzählt die Geschichte von Menschen jenseits ihres Daseins, wo sie sich ihren Ängsten, inneren Konflikten und gleichzeitig äußeren Feinden stellen müssen.
Joseph kann seinen Augen nicht trauen. Nach kurzem Überlegen stellt er fest, dass er eigentlich tot sein müsste, doch er hatte sich schon lange nicht mehr so lebendig gefühlt.
Fasziniert und überwältigt von diesen Eindrücken tritt er seine bisher schwierigste Reise an und lernt, zu was Menschen fähig sein können.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum24. Apr. 2015
ISBN9783738690682
Barthannyu
Autor

Ulysses M. S. Jackson

Ulysses M. S. Jackson ist ein Lebenskünstler und Autor aus Mississippi mit deutschen und amerikanischen Wurzeln. Schon seit sehr jungen Jahren trug er die Barthannyu Idee in sich, jedoch erst seit ausgedehnten Reisen durch die Kontinente konnte er dies Atmosphäre und Inspiration finden, den Roman zu Papier zu bringen.

Ähnlich wie Barthannyu

Ähnliche E-Books

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Barthannyu

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Barthannyu - Ulysses M. S. Jackson

    Inhaltsverzeichnis

    Teil I

    I. Die jungen Hände

    II. Das Dorf

    III. Eine Welt im Wandel

    IV. Der leuchtende Pfad

    V. Suzuya

    VI. Nicht mehr allein

    VII. Das Gebirge

    VIII. Der General

    IX. Neue Horizonte

    X. Ein neues Leben

    XI. Der Kampf gegen die Angst

    XII. Loyalität und Zweifel

    XIII. Kein Leben im Zwang

    XIV. Der Wald von Nawara

    XV. Exil

    XVI. Kontrahenten

    XVII. Die Schlacht von Nawara

    XVIII. Übermacht

    XIX. Die einzige Instanz

    XX. Ein Weg gabelt sich

    XXI. Zivilisation

    XXII. Illusion und Realität

    Teil II

    I. Errungenschaften

    II. Die Wiedergeburt

    III. Menschen der Wüste

    IV. Der Befehl

    V. Die Eisgrenze

    VI. Der Rat von Darum

    VII. Böses Erwachen

    VIII. Ein höheres Urteil

    IX. Zwietracht

    X. Ein Lotse geht von Bord

    XI. Fremde Freunde

    XII. Am Rand

    XIII. Zeit der Entscheidung

    XIV. Darum erwacht

    XV. Vor vielen Sonnen

    XVI. Zehn Freiwillige

    XVII. Der Wohltäter

    XVIII. Weg durch Vernunft und Wahnsinn

    XIX. Gefangene

    XX. Die Idealstadt

    XXI. Das Ende der Lehre

    XXII. Zwölf, allein gegen alle

    XXIII. Begegnung in der Finsternis

    Teil III

    I. Der Tod im Norden

    II. Das Wiedersehen

    III. Der Geläuterte

    IV. Der Reine und der Niedere

    V. Das Feuer des Südens

    VI. Der Brief

    VII. Geist des Untertanen

    VIII. Der Weg des Helden

    IX. Kein Wort des Friedens

    X. Nerkes, der Milde

    XI. Der König von Maratí-Bartachá

    XII. Der Beginn einer Reise

    XIII. Der dreizehnte Gefangene

    XIV. Ein Rest bleibt zurück

    Barthannyu

    Ulysses M. S. Jackson

    Teil I

    I. Die jungen Hände

    Warm legten sich die Sonnenstrahlen auf die Haut und angenehme Sommerluft umwehte das Gesicht eines jungen Mannes, der an einen Baum gelehnt in einer Waldlichtung lag.

    Ein wenig schläfrig öffnete er langsam seine Augen. Durch die nur einen kleinen Spalt geöffneten Augen sah er die Pracht des sonnigen Tages. Obwohl ein eigentlich sehr schönes Erlebnis, erschrak er sich heftig. Seine immer noch zu Schlitzen verengten Augen öffneten sich weit. Er fühlte, als würde er träumen, aber nein, er kannte Träume zu gut und er wusste, dass es Realität war, denn die Situation, die er empfand war real.

    Wo bin ich? Was ist passiert? Ich bin doch…

    tausende Gedanken gingen ihm durch den Kopf und dennoch befand er sich in einem Zustand tiefster Verwirrung, da er sich einfach nicht erklären konnte, wo er war. Als er eingeschlafen war, war es nicht warm, es war doch mitten im November…

    Die Gedanken rasten weiter, war er überhaupt eingeschlafen? Nein. Oder doch? Er versuchte sich krampfhaft zu erinnern: Es war der 07. November, es war ein stark verregneter, dunkler und depressiver Herbsttag. In diesem Moment kitzelte das Sonnenlicht seine Nase, sodass er sie mit dem Handrücken kratzen wollte und -

    Joseph traute seinen Augen nicht, schon zum zweiten Mal binnen einer Minute: Was er sah war eine Hand, die nicht die seine war. Die Hand von Joseph war 77 Jahre alt- die Hand vor seinen Augen war vielleicht 15, maximal 20. Er blickte sich an, so gut er konnte, seine Sachen, die er anhatte, kamen ihm vertraut, aber zu warm für die momentane Temperatur vor, aber diese Hände nicht. Sie fühlten sich anders an, fremd. Hastig befühlte er sein Gesicht, alles war weich und sogar den Bart, den er zu tragen pflegte, konnte er nicht fühlen. Ein gellender Schmerz durchfuhr ihn, der Schmerz seiner eigenen, jugendlichen Faust. Ins Gesicht schlug er sich, er wollte aufwachen, den Irrtum beseitigen, doch es war keiner da. Der Schmerz war real, dauerte an. Er wachte nicht auf, da er schon wach war. Schnell stand er auf und schaute sich um. Tatsächlich - eine sommerliche Waldlichtung, Bäume, eine kleine Wiese, ein Weg. Alles in einer bestimmten Weise vertraut und schön. Sommerliche Temperaturen von vielleicht 25 Grad. Der Weg trennte den Wald von einer weiten Aue, die sich kilometerweit erstreckte, ihm bot sich ein einzigartiges Bild, keine Wolke am Himmel, kein Ort in der Weite der Landschaft. Lediglich der Weg zeugte von Zivilisation, obwohl auch dieser unbefestigt und stellenweise mit Gras überwachsen war. Joseph ging ein Stück am Weg entlang, das half ihm, sich ein bisschen zu beruhigen. Er fühlte sich verzaubert, fast wie entführt.

    Kann es sein? Nein- das, aber, was ist als letztes passiert? Was war bloß passiert?

    Umso zwanghafter er versuchte, Anschluss an seine Gedanken zu finden, desto komplizierter wurde es, etwas Plausibles, Einleuchtendes zu finden. Da war der eine Gedanken, der ihn nicht losließ, seit er seinen jungen Handrücken gesehen hatte: Er war tot, er musste tot und im Paradies sein.

    Hier war es sicher sehr angenehm, aber das Paradies? Niemand war da, Joseph war ganz alleine. Immer hatte er sich das Paradies als Ort mit einem großen Empfang vorgestellt, mit Engeln und toten Bekannten weniger als einen Ort, an dem man einfach am Wegrand aufwacht. Andererseits wichen Vorstellung und Realität häufig voneinander ab.

    Joseph durchsuchte seine Taschen ab, ohne etwas zu finden. Es genügte ihm schon überhaupt Kleidung am Leib zu tragen.

    Kann man seine Sachen einfach „mitnehmen"?

    Er stellte sich so viele Fragen, doch langsam begann er auch, Dinge mit Freude zu sehen.

    Innerlich wuchs sein Lachen, Josephs Mundwinkel bewegten sich nach oben, so schlenderte er einige Zeit den Weg hinab, ohne zu wissen, wohin er eigentlich führte, er fühlte sich frei, vollkommen befreit. Er fühlte sich fabelhaft, und dieses Gefühl besiegte seine Unsicherheit, dass er nicht wusste, wo er eigentlich war, dass er nicht wusste, wie er an diesen seltsamen Ort gekommen war und er auch keinerlei Ahnung hatte, was er hier sollte.

    Was jetzt?

    Fragte er sich mehrmals und ging den Weg weiter. Erreichte er auf dem hügeligen, steinigen Weg den Kamm, ging es augenscheinlich immer so weiter: Der Weg führte am Laubwald entlang, mal nach oben, mal hinunter, immer fast gerade am scheinbar unendlichen Wald. Zur anderen Seite des Weges erstreckten sich natürliche Felder und Wiesen, bis am anderen Horizont wieder ein Waldrand zu sehen war. Hin und wieder rannten erschrockene bunte Eidechsen vom wärmenden Weg und Joseph dachte sich, dass es wohl ganz wie daheim im Sommer auf dem Land war. Allerdings war es sommerlich heiß und bereits nach einer kurzen Zeit setzte das drängende Gefühl von Durst ein.

    Ich bin wohl nicht befreit von irdischen Gefühlen.

    Joseph lächelte wieder mild und hielt nach einer Quelle, einem Fluss oder wenigstens einem Bach Ausschau. Aber hier auf dem Weg und in dessen näherer Umgebung fand er nichts, gar nichts, alles war heiß und trocken. Inzwischen stark schwitzend sprang Joseph über den kleinen Graben, der Wald von Weg trennte und suchte im Wald nach etwas Trinkbaren. Die Schönheit und die unberührte Wildheit ergriffen Josephs romantisch geprägte Seele. Es war eine einzigartige Schönheit: Überall Laub, Pilze, alte, dicke Bäume und umgefallene Baumstämme. Niemand schien sich um den Wald zu kümmern, er sah keine Zäune, keine Begrenzungssteine, keine Pfähle und auch keine Markierungsfarbe an den Bäumen. So bahnten sich seine Augen den Weg durch das Dickicht des Waldes, als er etwas fokussierte.

    Aha, perfekt,

    dachte er sich, lächelte noch mehr als zuvor und sah Wasser mit Moos bewachsene Steine herunter rinnen, bis es sich in einer Vertiefung sammelte und als Rinnsal weiter durch den Wald floss. Unbesorgt trank er und fand einen Moment der herrlich frischen Erlösung als hätte er nie zuvor etwas Besseres Getrunken. Nach fünfzehn abgezählten, großen Schlücken erhob er seine leuchtenden Augen und sah erneut durch den Wald.

    Er bemerkte, wie sanft der schwache Sommerwind die Äste und Zweige bewegte, wie es leise rauschte und manchmal ganz verstummte. Vögel zwitscherten fröhlich und kleine Tierchen bahnten sich hörbar ihren Weg durch das Laub und das Unterholz.

    Doch plötzlich erschrak er. Es raschelte im Laub, aber anders, als Eidechsen und Mäuse, viel gleichmäßiger und schwerfälliger. Hastig sah er sich um, konnte jedoch nicht genau schätzen, aus welcher Richtung das Rascheln kam, er blickte nach rechts, nach links, nach unten und sogar nach oben, doch lange erkannte er nichts. Ein kleiner Busch bot ihm seiner Meinung nach den idealen Schutz davor, entdeckt zu werden und erlaubte ihm dabei gleichzeitig die Gegend gut zu beobachten. Er kauerte sich hin und blickte weiter, wobei er bemerkte, wie leicht es ihm plötzlich fiel, sich hinzuknien, kein Knochen, kein Muskel tat ihm mehr weh, er schien vollkommen belastbar und gelenkig zu sein. Bei dem Gedanken vergaß er kurzzeitig, sich umzuschauen und es durchfuhr ihm durch Mark und Bein, da nicht weit von ihm eine tiefe Stimme zu hören war.

    „Gisch geruga."

    Joseph zuckte zusammen und riss reflexhaft den Kopf nach hinten, wo er in das Gesicht eines bärtigen, dunkelhäutigen, großen Mannes blickte. Der Mann blickte entschlossen und stark, ohne dabei aggressiv oder feindselig zu wirken, obwohl er in seinen Händen ein Gewehr hielt, welches er nicht auf Joseph richtete, sondern nahe am Körper hielt. Hinter ihm waren vier weitere Menschen, die abwechselnd Joseph und abwechselnd den Bärtigen anblickten.

    „Gaschi, issikiadu schu dikia-u"

    Erneut, aber weniger laut sagte der Bewaffnete etwas, was Joseph weder verstehe, noch in irgendeine Sprache einordnen konnte. Der Fremde hätte Araber oder auch ein Perser sein können, aber diese Sprachen stellte er sich anders vor. Die übrigen vier Männer hinter ihm sahen bis auf einen ebenfalls sehr dunklen Menschen allesamt verschieden aus.

    Zaghaft und vorsichtig musterten Josephs Augen die anderen. Alle waren bewaffnet. Einer war sehr klein, gerade einen Meter fünfzig hoch, dicklich und sehr hell, das Besondere an ihm waren seine Augen, extrem rund- noch nie hatte er solche Augen bei einem Menschen gesehen. Keine Schlitze, keine Mandelaugen, keine Katzenaugen, keine Kulleraugen, nein, exakt runde Augen, die unaufhörlich zwischen ihm und dem Großen hin und her wanderten. Ein weiterer war ebenfalls von eher hellem Typ, allerdings mit Sommerbräunung, kernig, muskulös und mit Stoppelbart, seine Waffe trug er lässig auf den Schultern und der vierte, der unendlich schwarz, fast bläulich war, dessen Augen weiß und leuchtend-aufmerksam funkelten. Joseph hatte ebenfalls noch nie einen so dunklen Menschen gesehen. Er schien keinerlei Körperbehaarung zu haben, aber hatte extrem große Segelohren, die weit abstanden und fast durchsichtig schimmerten. Der große an der Spitze blickte zurück, legte seinen Kopf zur Seite und die anderen taten es ihm fast synchron nach.

    In einem sanften Ton bedeutete der Große Joseph aufzustehen, wobei er einen Schritt auf ihn zu machte und ihn ganz leicht und an dessen Oberteil nach oben zog.

    Stehend bemerkte Joseph, dass er trotz seiner 1,84 Meter fast einen ganzen Kopf kleiner war als der Große.

    Vielleicht meinen die es gut mit mir? Was sind das für Leute. Engel?? Nein, die brauchen doch keine Feuerwaffen, um ihrem Willen Nachdruck zu verleihen…

    Der Große begann zu brummen und machte dabei unaufhörlich Bewegungen mit Schultern und Händen, alle sechs gingen nun zur Quelle, wo sie tranken, Wasserflaschen aus Blech befüllten und in der Sprache redeten, die Joseph vollkommen fremd war.

    Wie kann das sein?

    dachte er,

    ich habe mich fast mein ganzes Leben mit Sprachen befasst, und ich kann diese nicht einmal grob einordnen?

    Tatsächlich war Joseph enttäuscht, denn er hatte wirklich viele Sprachen im Laufe seines Lebens gelernt und sich auch mit ihrer Klassifizierung beschäftigt. Joseph selbst war Deutscher, er kam aus dem Süden Deutschlands, doch schon sehr früh begann er damit, andere Sprachen zu erlernen, zunächst Englisch und Latein in der Schule, aber für sich allein bald viele mehr. Später studierte er sogar einige Zeit Englisch und Spanisch, wobei er die Universität ohne Abschluss verließ, sowohl aus Mangel an Geld als auch aus Mangel an Lust. Schwere Zeiten, aber lange vorbei.

    Sie werden wohl nicht danach fragen,

    beruhigte er sich.

    Offensichtlich bemerkten die Männer die Tatsache, dass er kein Wort verstehen konnte, denn sie lachten laut und alberten herum. Wirkten aber freundlich und warmherzig. Der Dunkle lächelte ihn an und gab ihm einen zerknitterten Strohhut, und bedeutete Joseph mit einer Handbewegung, ihn aufzusetzen, anscheinend ging es wieder in die pralle Sonne.

    „Danke",

    erwiderte er und setzte sich ihn auf, wenn ihm der Hut auch nicht ganz passte. Alle packten ihre Flaschen in ihre Taschen und rafften sich auf, obwohl sie gerne etwas länger an der Quelle geblieben wären. Wieder auf dem Weg zeugte der Dunkle an eine Stelle am Horizont, sagte etwas und alle bewegten sich wortlos auf diesen Punkt zu. Natürlich marschierten sie weit über diesen Punkt hinaus, alle schwitzten, ab und zu Gespräche, ab und zu Schweigen, Getuschel, Gelächterein Witz den Joseph nicht verstand, ein Witz über ihn? Trotzdem wirkten die Männer so, als ob sie Joseph helfen wollten und er fügte sich seinem Schicksal mit ihnen zu gehen.

    So schwenkten seine Gedanken zurück zum Anfang, aufs Neue fragte er sich, was er hier sollte und wie er hierher gekommen war. Er war sich seiner Lage vollkommen bewusst, und das seitdem er in der Lichtung aufgewacht war. Also wirklich zu lange, um in einem Traum zu sein. Alles, was er fühlte, die Hitze, den Schweiß, der sein Hemd mit der Haut zu verschmelzen schien, die Männer und ihre Stimmen, alles war echt, wirklich, real. Joseph hatte während des gesamten Marsches Zeit zu denken. Wieder versuchte er sich an die Geschehnisse vor seinem Erwachen an der Lichtung zu erinnern, so versuchte er zu rekonstruieren, was das Letzte war, was er zuvor erlebt hatte, was für ein Tag war das, welcher war davor.

    „Donnerstag!"

    Er schrie diesen Tag beinahe hinaus, die Blicke der anderen fixierten ihn erschrocken, währenddessen er abwinkend lächelte, den Kopf schüttelte und auszudrücken versuchte, dass alles in Ordnung war.

    Donnerstag,

    leise ließ er seine Gedanken weiterspielen, die anderen richteten ihre Blicke wieder auf den Horizont.

    Es muss Donnerstag gewesen sein, es war ein grässlicher, kalter und dunkler Novembertag, ein Tag, so depressiv und dunkel, wie ein Novembertag nur sein konnte.

    Ich war unterwegs, alleine, natürlich allein, nachts, zu Fuß, der Weg, der Wind...

    Es fiel ihm zunehmend schwer zu schweigen, wie gerne hätte er seine Gedanken mit jemandem geteilt.

    Na klar, wie jeden Donnerstag Abend bin ich meinen guten Freund Thomas besuchen gegangen, da war dieser widerliche Schneeregen und er hat mich noch gewarnt…..

    Tatsächlich waren das die Worte seines alten Freundes Thomas, mit dem er sich nicht nur deswegen gerne traf, weil er wie er schon seit über drei Jahren keine Frau mehr hatte, die ihm einen solchen kalten, dunklen Novembertag etwas schöner machen konnte.

    Er sinnierte weiter:

    Wie hat er darauf bestanden, dass ich bleibe, über Nacht, aber ich musste ja am nächsten Tag dringend zum Arzt, gleich früh, und die Abende bei Thomas können lange dauern.

    Bin ich auf dem Weg umgefallen??? Die Strecke ist nicht lange und bietet keine Schwierigkeiten, nur das kalte Wetter, ich hatte doch immer feste Kleidung!

    Langsam verzog sich sein Gesicht, sein Mund wurde schnurgerade, sein Blick wurde blitzartig ernst.

    Wer hat mich gefunden, wo hat mich jemand gefunden? Um Gottes Willen, liege ich jetzt in irgendeinem Kühlschrank oder in einer Holzkiste. Was denken meine Freunde? Meine Kinder? Sind sie traurig, sie können ja nur ahnen, oh, im Himmel...

    Wenige Menschen vertrauten real auf einen Himmel, und noch weniger konnten ihn sich jetzt an einem glühend heißen Sommertag wer weiß wo vermuten, genauer gesagt konnte das wohl niemand. Für alle anderen war er also tot. Dies war ein äußerst bedrückendes Gefühl, doch er war nicht imstande, irgendetwas zu tun, schon gar nicht jetzt.

    Ich muss jemanden finden, der mich verstehen kann, der meine Sprache spricht.

    Er wollte Antworten auf unzählige Fragen. Durchgehend kreisten seine Gedanken um die gleiche Sache: Seine Freunde, seine beiden Kinder, sich selbst.

    Der Gedanke war so absurd, denn er hatte ja noch nie etwas Vergleichbares erlebt, und Joseph hatte vieles erlebt in seinen 77 Jahren. Sie gingen Stunden durch die weite Gegend, wobei Joseph nur sporadisch auf die Landschaft achtete, die ohnehin seit Stunden gleich erschien.

    Er bemerkte kaum, dass sich die beide Wälder, der links des Weges und der hinter den mit Sträuchern und Gras bewachsenen Ebenen dazwischen, immer näher kamen, bis der Weg ganz im Wald verschwunden war. Nun war es schattig, die Vögel schrien und pfiffen lauter und die Sonne schien sich langsam zu neigen. Die Strahlen der Abendsonne drangen wie Lichtspiele durch das dichte Blattwerk und jetzt fühlte dich Joseph tatsächlich wie in einem Traum, fernab jeglicher Realität. Die Luft kühlte allerdings nur leicht ab und es roch unvergleichlich intensiv nach sommerlichem Wald. Die Männer wirkten zunehmend erschöpft, ab und an tranken sie aus den Blechflaschen, trugen ihre Last und wischten sich den Schweiß von der Stirn. Seit gefühlten fünf Stunden waren sie nun gelaufen und Josephs Füße fühlten sich zunehmend müder und schwächer an.

    Da sah er in der beginnenden Dämmerung tatsächlich Lichter am Ende des Weges, der immer tiefer in den Wald zu dringen schien. Dies gab ihm Hoffnung auf eine baldige Pause, auf etwas Erholung und vor allem auf Menschen, Menschen wie er, Menschen, die ihn verstehen konnten, ihn wenigstens ansatzweise verstehen konnten, Menschen, die ihm vielleicht helfen konnten. Helfen, seinen Hunger nach Informationen zu stillen, ein Hunger, der viel größer war als der seines Bauches, der im Laufe des Weges ebenfalls aufgekommen war.

    Endlich

    Dachte er, hoffte er.

    Dann blieb die Gruppe seiner Begleiter kurz stehen.

    „Ai,"

    sagte der Große mit dem Bart, ebenfalls erleichtert, deutete auf die Lichter.

    Der kleine Dicke antwortete dem Anführer irgendetwas, drehte seinen Körper wieder in Richtung der Lichter und alle taten es ihm nach.

    Wie sehnte sich Joseph nach einer Pause, fast hätte er Gott sei Dank gesagt, und bemerkte plötzlich, wie seltsam ihm diese Aussage jetzt vorkam, wie nah, wie wichtig jetzt ein etwa real existierender Gott sein könnte. Jetzt wollte er aber erst einmal rasten, sich einfach ausruhen und in die erste Nacht dieses seltsamen Ortes gehen. Immer noch dachte er daran, dass er dann ja jederzeit im wärmenden Bett in seinem Haus aufwachen könnte, oder eben im Krankenhaus, wer konnte das sagen. Aus näherer Entfernung erkannte Joseph die Umrisse von Häusern, irgendwelchen Haufen und sich bewegende Objekte - Menschen- innerlich jubelte er, war aber auch auf eine Enttäuschung gefasst. Im Dämmerlicht und dem Schein der Lichter wirkte der Ort als die Spitze aller romantischen Vorstellungen, die er je in seinem Leben gehabt hatte, alles war so gemütlich, so schön, so heimisch, es könnte tatsächlich sein persönliches Paradies sein, wo er nun auf Stefan, Manuel und alle anderen alte Freunde stoßen würde, die er im Laufe seines Lebens schon verabschieden musste.

    Wie lange sie schon hier sind! Werden sie mich begrüßen und wie?

    Fragte er sich leise, macht sich aber klar, dass es wohl nur eine sehr abwegige Art seines für ihn typischen Wunschdenkens war. Die Männer bewegten sich weiter und weiter auf die Lichtung mit den schimmernden Umrissen zu, die Hoffnung in Josephs Herz wuchs ins Unendliche, seine Begleiter schienen froh, endlich einen bewohnten und vertrauten Platz gefunden zu haben.

    II. Das Dorf

    Umso näher sie dem Ort kamen, desto verwunderter wurde der Ausdruck in Josephs Gesicht. Seine Miene versteinerte fast, nicht vor Entsetzten, aber vor Verwunderung.

    Im Schein der Lichter entfaltete sich ein seltsames Bild des Ortes, welches in einer ganz besonderen Weise im Widerspruch zu den romantisch-heimischen Gefühlen von Joseph stand:

    Der Weg führte nicht direkt in den Ort, sondern teilte sich und wanderte einmal oval um die Siedlung herum. Das Licht kam von Laternen, die ca. vier Meter hoch rundherum um das Dorf am Wegrand aufgestellt waren und anscheinend mit einer nach oben offenen Glaskugel abschlossen. Die Flammen der Laternen brannten tänzelnd und ungleichmäßig.

    Der Sonnenuntergang legte sich in seiner vollkommenen Pracht über das Dörfchen, das sich exakt an die ovale Wegbegrenzung von Außen hielt, obwohl Joseph nicht wusste, ob zuerst der Weg gezogen oder zuerst das Dorf gebaut wurde, aber es sah so aus, als wenn der Weg das Dorf wie ein Korsett in seinen Grenzen hielt. Zwischen den Häusern existierten keine befestigten Wege, kein Pflaster und kein Teer. Nur vor manchen gab es hölzerne Terrassen, die zur Eingangstür führten.

    Josephs Augen überblickten die Häuser, die anderen Gebäude und die kleinsten Winkel, die dazwischen lagen. Die Häuser sahen ganz anders aus, als Joseph sich passende Häuser für so einen Ort vorstellte. Da er sich bereits ein exaktes Bild dieser Häuser ausgemalt hatte, fiel es ihm jetzt schwer, diese Häuser so zu akzeptieren, wie sie waren. Nicht quadratisch im Grundriss, sondern rund und mit nur einem Eingang. Das Untergeschoss glich einem großen Brunnen aus Stein und oben war meist ein Aufbau aus Holz und Zweigen, manchmal auch mit metallischen Elementen beschlagen. Es sah in den Augen Josephs zwar schon ein wenig nach Mittelalter aus, es existierte keine elektrische Beleuchtung in diesem Ort und viele Tiere rannten umher, was schon in Josephs Vorstellung passte, aber die eher lieblosen, kalt wirkenden, fast fensterlosen Gebäude sahen so uneinladend und abweisend aus, dass sie auch als Kerker hätten dienen können. Menschen eilten umher, deren Gestalt gut zu erkennen war, aber deren genaues Aussehen im Dämmerlicht bereits schwierig zu erkennen war.

    Sie redeten eifrig miteinander, in einem Sprachgewirr, das Joseph wieder fremd war, aber sie redeten alle so ähnlich wie die Männer, die ihn begleiteten. Betriebsam liefen Grüppchen von Menschen umher, trugen Körbe oder Zettel mit sich. Die meisten trugen recht kurze, zweckmäßige Kleidung, wie eine Art T-Shirt und kurze Hosen, wobei sich die Kleidung der Männer und der anwesenden Frauen kaum unterschied. Zu einem mittelalterlichen Bild passte das Ganze nicht wirklich.

    Mit Kopfbewegungen wiesen die Männer Joseph den Weg, nahmen aber auf die Tatsache Rücksicht, dass er sich äußerst neugierig in einer für ihn vollkommen anderen Welt bewegte, also staunend, prüfend und sehr langsam gehend. Es roch neben dem sommerlichen Waldgeruch, der schon die ganze Zeit in der Luft gelegen hatte, auch sehr vertraut nach Gebratenem, nach kühlem Stein und nach Kohlefeuer.

    Man sah größere, ochsenähnliche Zugtiere, aber kein einziges motorisiertes Fahrzeug. Die Tiere besaßen keine Hörner und waren recht groß und mussten zudem von ihrem Führer zur Bewegung getrieben werden. Sie schrien, was die Tiere wenig zu interessieren schien.

    Die Menschen blickten flüchtig auf die Gruppe, anscheinend kannten sie sie, aber das Interesse für Joseph ließ sich doch erahnen, denn sie sahen vor allem auf seine unsicher umher gleitenden Augen, schienen sie doch zu ahnen, wer er war (Das bedeutete woher er kam).

    Eines fiel Joseph ebenfalls auf: Nahezu alle waren bewaffnet. Alle trugen eine Waffe mit sich, mal sicher in der Hand, mal locker umgebunden. Meist Gewehre, die recht modern aussahen und ebenfalls wenig in das archaische Bild des Dorfes passten.

    Die Menschen wirkten irgendwie angespannt und Joseph konnte sich noch nicht erklären warum. Manche grüßten die kleine Gruppe, in der er sich unsicher vorwärts bewegte, indem sie den Kopf nach hinten legten, andere waren entweder zu beschäftigt oder ignorierten sie. Besonders offen oder gastfreundlich wirkten sie jedenfalls nicht, etwas schien sie zu ängstigen oder zu bedrücken, warum sollten sie sich auch sonst bewaffnen. Das alles machte auch Josephs eigene Stimmung genauso angespannt, trotz des lauen Sommerabends. Er dachte immer nur daran, was in fünf oder zehn Minuten passieren würde, nicht mehr, was vor zehn Stunden passiert sein musste, wie er hierher gekommen sein mag. Nein, einzig der Gedanken seiner Bestimmung an diesem Ort beschäftigte ihn nun.

    Die Männer um ihn steuerten auf ein zentral gelegenes Haus zu, das mit einer Art Plane bedeckt war und ebenso wie die anderen aus schwerem Stein bestand. Wie ein steinerner großer Iglu mit einer großen Tür und kleinen Fensterschlitzen. Die Männer gingen gerade darauf zu und hielten kurz vor der Tür an. Im Gebäude selbst schien niemand zu sein, es war ruhig und kein Licht drang durch die Schlitze von Innen nach Außen, nur ein beständig kühler Luftzug, wie ihn Joseph aus alten Dorfkirchen kannte, in denen es ganzjährig Innen kälter war als Außen. Über der Tür befand sich ein Schild mit einer Zeichnung, die eine martialisch wirkende Faust zeigte. Zudem waren am Gebäude außen Plakate angebracht, die von der Sonne ganz ausgebleicht waren und in großen, für Joseph vollkommen fremden Buchstaben anscheinend irgendeine Information oder Botschaft verbreiten sollten.

    Der ganz dunkle Mann öffnete die Tür mit einem großen, seltsam anmutenden Eisenschlüssel, das Schloss knackte laut und die Tür öffnete sich nach innen, hinter ihr verarg sich ein kleiner, dunkler Raum. Die Männer öffneten einen Schrank and er Wand und zogen einen nach unten geöffneten Glasballon heraus. Sie stülpten ihn über eine metallene Apparatur und drehten an zwei Rädchen. Dann drückten sie einen Knopf und Licht erstrahlte den Raum hell und flackernd.

    Alles war mit Holz ausgekleidet und es hingen Bilder von verschiedenen Personen an der Wand, umrahmt von Fahnen, etwas kitschig anmutendem Schmuck und Plakaten. Es roch nach Holz und Erde, ein ähnlicher Geruch, wie in einem Felsenkeller, in welchem man Kartoffeln lagerte, doch hier schien man alles andere als Kartoffeln zu lagern (Joseph fragte sich zu diesem Zeitpunkt, ob die Menschen hier Kartoffeln überhaupt kannten). Die Männer gingen auf eine weitere Tür zu, öffneten sie und traten in einen Raum, in welchem es nichts gab, außer einer Hölzernen Klapptür am Boden. Bei diesem Anblick wurde Joseph sichtlich nervös und unruhig.

    Unaufhörlich fragte er sich, zu welchem Zweck das Gebäude diente und vor allem was hatte er damit zu tun? Konnte er nicht einfach weitergehen und sich einen angenehmeren Ort aussuchen um die Nacht zu verbringen, oder war er eine Art Gefangener dieser Männer? Sie wirkten nicht bösartig, aber konnte er ihnen vertrauen? Er konnte das unmöglich abschätzen. Was war, wenn sie ihn einsperrten oder sogar töten wollten? Aber alles ging zu schnell, um etwas unternehmen zu können, so ging er schweigend mit ihnen, obwohl er gerne tausend Fragen gestellt hätte. Zackig öffnete der Große die Klappen der Tür, die krachend auf den staubigen Boden fielen und einen dunklen Treppengang zum Vorschein brachten. Der Dicke drückte einen Knopf an der rechten Seite des Ganges und ein wieder flackerndes, dämmeriges Licht erfüllte den Gang nach unten, dessen Ende man nicht erkennen konnten. Nur hängende Lampen an der Decke, Holzbalken, die den niedrigen Tunnel stützten und Holzbretter an den Seiten des Ganges. Der Große lächelte Joseph an, als ob er sagen wollte, dass alles in Ordnung sei und wechselte ein paar Worte mit den anderen in der Gruppe. Dann stiegen sie hinunter. Es war hier sehr kühl und Joseph fröstelte es nicht nur wegen der Kälte im Gang, sondern auch wegen der Ungewissheit darüber, was ihn an dessen Ende erwarten würde. Es erwartete ihn eine weitere Tür, aber diesmal eine andere als die vorherigen Holztüren. Diese schien aus massiven Eisen gefertigt zu sein mit schweren Beschlägen und ebenso festen Nieten. Es befand sich weder ein sichtbares Schloss, noch ein Griff an der Tür, nur eine Faust aus Eisen, ähnlich der Faust auf dem Schild vor dem Gebäudeeingang. Der Anführer der Gruppe schlug mehrfach fest mit der flachen Hand in einem bestimmten Rhythmus gegen die Tür und wartete. Ein gellender, tiefer Schrei ertönte von der anderen Seite der Tür, den der große mit einem tiefen Bassruf zu kontern versuchte. Erst geschah ein paar Sekunden nichts, dann öffnete sich die schwere Tür, hinter der sich ein mittelgroßer Mann mit ungepflegten Äußeren und einem langen Bart befand, der grimmig dreinblickte und ein paar Fragen an die Gruppe richtete. Mehrmals deutete er auf Joseph, der fragen zurückblickte, aber im Großen und Ganzen wirkte die Unterhaltung ruhig und harmlos. Neben dem Bärtigen gab die Eisentür eine faszinierende Unterwelt preis. Tunnel führten in mehrere Richtungen, es roch feucht und modrig, es gab Türen und weitere Balken. Eine weitere Gruppe von Bewaffneten eilte durch das System und grüßte den Kopf senkend während des Vorbeigehens die Gruppe von Joseph.

    Die Mitglieder der Gruppe klopften Joseph plötzlich auf die Schulter und bewegten sich auf einen der Gänge zu, die sich vor ihnen auftaten, als Joseph, der ihnen folgen wollte, vom Bärtigen an der Schulter zurückgehalten wurde.

    „A tu erdu er?"

    Fragte er, ohne dass Joseph mit der Frage etwas hätte anfangen können. Doch unbeirrt fragte der Bärtige ihn weiter, zumindest hörte er sich die gesamte Zeit über fragend an.

    „Ai,"

    Unterbrach er schließlich. Er winkte ihm zu und eilte danach schnell durch den Korridor, ständig zu Joseph zurückblickend, um sicherzustellen, dass dieser ihm auch folgte. Joseph folgte ihm, aber er verkrampfte zunehmend und wurde unsicher. Er fragte sich schließlich, ob ihm hier überhaupt irgendjemand helfen könnte. Sie eilten vorbei an weiteren Bildern, Tunnelabzweigungen, Türen, Männern und auch Frauen mit Waffen und ohne Waffen, es schien ein reges Treiben hier unten, ohne dass Joseph auch nur den Hauch einer Ahnung hatte, was hier unten getrieben wurde und wozu diese Tunnel dienen sollten.

    Am Ende eines Tunnels bat sich eine Tür, die von zwei schwer bewaffneten Männern bewacht wurde, welche aggressiv und entschlossen wirkten und ihre Gewehre stramm in der Hand hielten. Sie schienen so steif, als wären sie Statuen. Ihre Augen aber folgten Joseph und dem bärtigen Sonderling, der ihnen laut und deutlich etwas sagte. Dann drehten sie sich synchron um, öffneten die beiden Flügel der großen Tür hinter ihnen und ließen die beiden eintreten.

    Joseph stand nun in einer Stube mit einer niedrigen Decke und Portraits an der Wand, aber zum ersten Mal sah er auch etwas, das ihn tatsächlich interessierte: Eine Karte.

    Sie zeigte Flüsse und Gebirgszüge, zudem auch Orte und scheinbar auch Städte. Nichts davon kam Joseph bekannt vor, obwohl er früher jegliche Karten studiert hatte, er war ein Genie in Erdkunde und kannte alle Karten, Flüsse, Hauptstädte und Grenzen der Welt. Das, was die Karte zeigte, gehörte offensichtlich nicht dazu., aber es bot eine Orientierung, wenn er nur wüsste wo er sich eigentlich befand. Zudem konnte er auch die Schrift, mit welcher die Karte versehen war, nicht lesen.

    Am Ende des kleinen Zimmers befand sich ein massiver Schreibtisch, der vollkommen vermüllt war mit Papier, Pinseln und Bildern. Am Schreibtisch dämmerte ein älterer Herr vor sich hin und blickte erst zu den beiden eingetretenen, als sie sich schon in der Mitte des Raumes befanden. Er hatte eine Art Uniform an und eine dicke Brille auf der großen Knollnase. Ansonsten hatte er wenig Besonderes: Weiße Haare, ein faltiges Gesicht und müde Augen. Er sagte leise etwas zu dem Bärtigen, der etwas antwortete und das Zimmer zackig und schnell verließ. Der Alte stand auf und berührte Joseph an der Schulter. Dieser hoffte nun auf wenigstens ein paar kleine Antworten und brachte es einfach hervor:

    „Wo bin ich hier?"

    Eine einfache und nicht zu verwechselnde Frage.

    Nur wenn ich frage, kann er antworten, nur wenn ich zeige, ich spreche, kann er wissen, wie ich spreche und ob er überhaupt antworten kann.

    Dieser Gedanke bestärkte ihn:

    „Wo bin ich hier?"

    Fragte er ein zweites Mal, laut und deutlich, um sicherzugehen auch verstanden zu werden.

    Der alte Mann lächelte und stöhnte offenbar belustigt, er schien Josephs Lage nachvollziehen zu können.

    „Du Namen!"

    Joseph traute seinen Ohren nicht, zum ersten Mal seitdem er hier angekommen war schien sich für ihn eine Unterhaltung anzubahnen, seit er hier angekommen war. (Er war noch nicht allzu lange an jenem Ort, doch ohne Konversation war dies eine lange Zeit für ihn.) Überglücklich lächelte er, seine Freude und die Erleichterung konnte er kaum verstecken. Er wollte sofort loslegen und seinen Fragenkatalog stellen, doch der Alte winkte ihn ruhig ab und deutete mit seinem faltigen Finger auf ihn.

    „Du Namen!"

    „Joseph, Joseph!"

    „Gut, ich schlecht Deutsch, Erde viel Sprache!"

    Erde viel Sprache? Er meint das die Erde viele Sprachen hat, oder etwas anderes?

    Joseph war verwundert über die Aussage des Alten, konnte ihn kaum verstehen und dennoch warf er neue Fragen auf. Auf die Frage ob er auch Englisch spräche antwortete Joseph mit ja, weshalb der Alte ihm in sehr gebrochenem Englisch zu erklären versuchte, dass er ein gewisser Ga Taran wäre und gerne Sprachen lernte, dass wäre hier wohl sehr nützlich:

    „You new, you questions! I cannot talk much, sorry!"

    Wieder begann in Josephs Kopf der dringliche Wunsch, tausend Fragen auf einmal zu stellen und wieder winkte der Alte sanft ab.

    „Here safe, out, not! Go away to forest!"

    Fuhr er fort. Es ist also nicht sicher.

    „Wo? Wo ist es nicht sicher?"

    Here not save?

    Englisch sprach der Alte nicht besser als Deutsch, das stand fest darüber hinaus war Joseph noch verunsicherter, als je zuvor. Doch bereits bei seiner Frage drangen wieder zwei Männer durch die Tür, gingen sicheren Schrittes auf ihn zu und deuteten ihm an, mitzukommen. Da Joseph spürte, dass er nichts mehr tun konnte, um mehr Antworten zu erhalten, ging er widerstandslos, aber sichtlich enttäuscht mit ihnen von der Stube aus wieder in das Labyrinth aus Gängen. Der Alte mit der Knollnase und der Uniform blieb an seinem Tisch gelehnt und schaute Joseph nach. Auf seinem Gesicht erschien ein faltiger Ausdruck der Besorgnis, ähnlich wie bei einem Vater, der genau weiß, dass sein Sohn etwas machen muss, dass er muss, aber keine Freude daran haben wird und er auch selbst nicht helfen kann. Joseph war erschöpft und auch ein wenig genervt. Es war schon Mitten in der Nacht geworden, er war den ganzen Tag unterwegs und wusste nicht, warum eigentlich, was hier gespielt wurde und wie er sich verhalten sollte. Aber er hatte dieses beklemmende Gefühl der Hilflosigkeit mit dem nagenden Gefühl der Erschöpfung getauscht, der Sehnsucht nach einem Bett, nach einer Kleinigkeit zu Essen, nach einem Gespräch. Die Gänge waren im gedämmten Licht angenehmer, als ihre Enge und Länge vermuten ließ, denn sie strahlten ein wohliges Gefühl der Wärme ab, welches die Müdigkeit in Josephs Glieder noch verstärkte. Er gähnte sichtbar, und ohne sich noch die Mühe zu geben, die Hand vor den Mund zu halten. Seine Begleiter blickten abwechselnd ihn, abwechselnd einander an. Solange bis sie anscheinend selbst die langen Augenränder des Neuankömmlings nicht mehr ertragen konnten. Sie gingen noch schneller, mal bogen sie rechts ab, mal links, mal gingen sie minutenlang gerade aus, bis sie wieder vor einer massiven Holztür innehielten. Einer der beiden drehte den Knauf der Tür, welcher diese schwer und reich verziert verschloss, wobei sich Joseph nach dem Sinn fragte, denn der Gang sah nicht nach einem Ort aus, der sehr frequentiert wurde. Die Tür tat einen knackenden, schnalzenden Ton. Der Mann drückte sie mit einiger Kraft nach innen. Der Schimmer des Ganges fiel in den Raum, und erlaubte so Sicht auf einige Bettgestelle, welche mit alten Laken bezogen waren. Der andere Begleiter entzündete eine unter einer Glaskugel befindliche Leuchte, welche den Raum relativ hell erleuchtete, ähnlich der Lampe am Tunneleingang in dem Haus . Dann eilte er wieder zur Tür hinaus, als ob er etwas Wichtiges vergessen hätte. Der andere deutete auf die Betten. Joseph sah sich kurz um, der Raum entpuppte sich als Schlafsaal, mit an die 25 Betten. Der Raum war im Vergleich zu dem kleinen Büro, welches er zuvor betreten hatte relativ groß, und auch etwas höher.

    Aber froh, so viele Betten zu sehen, begab sich Joseph auf das, welches ihm am bequemsten schien und machte es sich etwas zurecht. Er starrte an die dunkle Decke aus Holz und ließ die Augen nochmals durch den Raum gleiten. Sein Begleiter wartete, aber sah Joseph nicht mehr an. Er dämmerte langsam ein und konnte sich kaum mehrt wach halten, er sah nur noch, wie der andere kam, etwas brachte, abstellte und die beiden die Türe schlossen, er schlief ein.

    Ein Topf auf dem Herd, heiß, er pfeift. Eine Szene in einer alten Küche und einem noch älteren Haus. Joseph sah sich an, ja, sich und dann wieder den Topf.

    Plötzlich Milch. Die Milch, welche sich im Topf befand, kochte langsam über, schäumend, und dann immer gewaltiger brodelnd auf die heiße Platte des Herdes, zu braunem, schließlich schwarzem Schaum werdend. Es roch übel, das müsste es zumindest, aber es tat nichts dergleichen.

    Joseph erschrak zu Tode, eine schwarze Gestalt auf der anderen Seite des Herdes, welcher an inmitten des Raumes stand. Eine schwarze Gestalt mit Spitzhut, welche unnatürliche Bewegungen vollzog, den spitzen, schwarzen Hut nach unten samt Oberkörper, nach vorne und wieder nach oben, viel schneller, als ein Mensch es könnte - Joseph hatte eine beklemmende Angst, obwohl er nur zusah, die Figur bestand aus einem Teil, man konnte Arme erkennen, jedoch kein Gesicht, keine Regung, nichts - es wird hell.

    III. Eine Welt im Wandel

    Joseph schrak auf, schweißgebadet und außer sich. Der Raum war in das Dämmerlicht der Glasbeleuchtung getaucht, vollkommen. Die Bettgestelle warfen Schatten und ließen dem vom Albtraum Geplagten keine wirkliche Erholung. Joseph sah sich in alle Richtungen um, kam langsam zu sich, doch entgegen seiner Hoffnung, war er immer noch HIER, nicht da, wo er sein wollte, in seinem vertrauten Bett neben den Bildern, nein er war HIER, in einem ihm fremden und völlig unbekannten nichts. Keiner schien ihm helfen zu können, und selten hatte er sich so allein gefühlt wie unter der Erde an jenem noch so unbekannten Ort. Seit über einem Tag hatte er mit niemanden wirklich reden können, und seine Fragen schienen niemand zu interessieren, es beschlich ihn dieses Gefühl der Hilflosigkeit, welche sich mit dem dieser Welt und ihren Bewohnern Ausgeliefertsein vermischte. Er wollte weinen, schreien, doch etwas Seltsames hielt ihn davon ab. War es die Neugier, welche er in sich hegte, waren es die Fragen, die er stellen wollte, um diese grässliche Neugier zu stillen, oder war es die Tatsache, dass er sich, wenn er ehrlich zu sich war, seit Jahrzehnten körperlich nicht mehr so wohlgefühlt hat. Wieder war er allein, so allein wie am Vortag auf der Lichtung, wo alles begann. Er war nur mit sich und musterte ein zweites Mal seine Hände, die noch genau so jung wirkten, wie er sich fühlte. Keine Flecken, keine tiefen Furchen in der Innenhand, keine grauen Härchen auf der Außenseite.

    Er erholte sich nun doch langsam von seinem unruhigen Schlaf und suchte ein zweites Mal den Raum ab.

    Da entdeckte er ein Tablett aus Korbgeflecht, das die beiden Männer in den Raum gebracht hatten, bevor Joseph einschlief. Er ging hin und betrachtete die Dinge, die darauf gestellt waren: Ein kleiner Spiegel, ein kleines Messer, eine Karte, die der in der Stube des alten Mannes ähnelte und ein Teller mit einer dickflüssigen, lauwarmen Suppe.

    Die Tatsache, dass kein Löffel daneben lag interessierte ihn jedoch weniger, als die, was der Spiegel in sich barg. Er zitterte, als er ihn aufnahm. Langsam führte er den Spiegel zu seinem Gesicht, dabei hielt er die Augenlider noch fest zusammengepresst. Er musste sie aber öffnen und er sah in sein Gesicht und drehte ihn gleich wieder weg.

    Nein.

    Er brachte es kaum aus sich heraus und drehte ihn ein zweites Mal um, er sah sich und starrte sich an.

    „Das ist nicht möglich",

    sprach er nun laut aus. Er betrachtete alle Winkel seines Gesichts, alle, dies tat er mehrmals und sehr sorgfältig. Das letzte Spiegelbild, welches er zuletzt von sich selbst zu Gesicht bekam, vor diesem, schien wie ein Zerrbild seiner selbst, denn zuletzt müsste er vor 50 Jahren so ausgesehen haben, wie ihm dieser Spiegel vorgab. Doch auch bei dreifacher Kontrolle des Spiegels, stelle er fest: Es war ein ganz normaler, einfacher, fast schäbiger, alter Handspiegel. Tatsächlich musste er jetzt lächeln, über beide Ohren strahlte er, denn das Spiegelbild blieb immer das Gleiche, er war wieder jung, sein Jugendgesicht lächelte ihn an, mit weißen, echten Zähnen, leichtem Bartwuchs und dunklen Augen. Er turnte umher, ohne sich zunächst Gedanken zu machen, warum und wieso, denn er war einfach überglücklich und voller Tatendrang, er nahm die Suppe ohne ein Zögern zu sich, sie schmeckte nach frischen Kräutern und Speck, steckte das Messer in seine Hosentasche und richtete sich die Haare. Er besah mit dem Spiegel auch seine Kleidung, es war keine Kleidung, die er kannte, eine einfache braune Hose aus fremden Stoff, ein olivgrünes Hemd ohne Knöpfe an einem schlanken, gesunden, jungen Körper. Er fragte sich auch nicht, wieso er gerade diese seltsame Kleidung anhatte, denn alles war genauso, wie er es sich wünschte.

    „Ich bin neugeboren!"

    Schrie und jubelte er. Die Tatsache, dass er dafür tot sein müsste, klammerte er aus,

    „und wenn schon,"

    schmunzelte er,

    „weiter geht’s."

    Selbstbewusst richtete er sich erneut die Haare und ging auf die Tür zu, da fiel ihm ein, dass er die Karte vergessen hatte. Er ging zurück zum Tablett und schaute sie sich genauer an. Sie war nur auf einer Seite beschrieben und zeigte eine Landschaft im kleineren Maßstab. Die Schrift war ihm zwar unbekannt, aber ein Pfeil zeigte Scheinbar in nördliche Richtung, wie in allen anderen Karten auch. Dann schien sie Wald aufzuzeigen, Wald durchkreuzt von Wegen und auch Ortschaften und einzelne Häuser. Außerdem war die Karte mit zwei Markierungen versehen. Eine zeigte ein Strichmännchen mit einer kleinen Kritzelei und einem Pfeil. Joseph deutete dies als seine jetzige Position. Die andere Markierung war ein „X etwas weiter von seiner vermuteten Position entfernt. Er erkannte die Ortschaft, unter der er sich wohl jetzt befand, die er gestern im Dämmerlicht kennen gelernt hatte. Oval und w von einem Weg umzogen zudem von mehreren durchkreuzt. In der Nähe gab es mehrere „Siedlungen und auch einzelne andere Gebäude, eines davon trug dieses X. Er sollte wohl also dorthin gehen.

    „Warum nicht,"

    Murmelte er nun wieder zu sich und ging wieder zur Tür.

    Er drückte sie auf und befand sich wieder im Korridorsystem. Doch niemand schien mehr hier zu sein. Wohin sollte er jetzt gehen, rechts oder links? Da er von der rechten Seite gekommen war, beschloss er, die andere zu nehmen. Er ging dem schwach beleuchteten Korridor nach, der sich in dieser Richtung nicht mehr mit einem anderen kreuzte. Er ging und ging, während der Gang immer enger und düsterer wurde. Dennoch lief er unbeirrt weiter, er musste schließlich weiter, er wollte auch weiter, raus, an das Licht oder eben in die Nacht. Der Gang war nun nicht mehr gebrettert und schien auch in sonst keiner Weise mehr bearbeitet zu sein, wie eine Höhle aus Stein und Erde. Doch dann entdeckte er Lichtstrahlen, auf die er sich zügig zu bewegte. Die Strahlen fielen sanft auf die Steine und wurden intensiver und heller, bis das Licht ihn schon fast blendete. Er war draußen. Die Höhle spuckte ihn an einem Waldrand aus. Der Wald war in die wärmende Morgensonne getaucht und schützte den Hügel, aus dem er gerade gekommen war. Er blickte sich um und sah nur Waldrand, Wiese und den Hügel hinter ihm, welcher ebenfalls bewaldet war. Keine Hütte, kein Weg, kein Mensch. Er ging über die Wiese und bog am Hügel vorbei. Ein Weg kam zum Vorschein und er erkannte die Ortschaft wieder, aus der er kam. Mache Schornsteine rauchten, die meisten wegen der Wärme aber nicht und nur ein paar Gestalten schoben sich müde über die Wege.

    Er sah auf die Karte und überlegte kurz: Welche Seite ist die des Weges, wo er nun steht. Da es sehr früh war, nahm er die Morgensonne zur Hilfe und richtete die Karte aus.

    Passt,

    bestätigte er sich selbst und machte sich auf den Weg zu diesem X. An einem Bach machte er Halt, trank und befeuchtete sein Gesicht. Viel gab der Bach im Hochsommer nicht her, aber es reichte, um ihn munterer zu machen. Er beeilte sich jetzt und rannte fast den Weg entlang. Ihm bot sich eine atemberaubende Waldlandschaft, welche ihm altertümlich und unberührt vorkam,

    Herrlich!

    Er lächelte breit. Alles schien ihm so vertraut, Vögel, Bäume, Laub und ein sanfter Wind. Er strahlte, sorglos und fröhlich in den Morgen- bis er plötzlich ein Stöhnen vernahm, ein dumpfes, gequältes Stöhnen.

    Ein Bär? Irgendetwas anderes Gefährliches? Oder ein Mensch, der nach Hilfe suchte?

    Da er es nicht genau bestimmen konnte, ging er zunächst in Deckung, etwas abseits hinter einer umgestürzten, großen Wurzel. Er wartete eine Minute, zwei und immer wieder streckte er seinen Kopf hinter der Wurzel hervor. Dann sah er es. Es war ein schrecklicher Anblick:

    Zwei Männer bewegten einen Wagen, einer zog, der andere schob, beide sahen ernst und entschlossen aus, aber trotz ihrer Größe eingefallen und müde. Auf dem Karren lag ein dritter, voller Blut. Je näher er kam, desto besser konnte man die Züge seines verkrampften Gesichts erkennen. Er biss die Zähne zusammen, vor lauter Blut konnte man ihn kaum als Mensch identifizieren. Die Männer trugen Waffen, der Dritte hielt ein dreckiges, blutiges Tuch und stöhnte weiter, während die anderen ihm ständig etwas zu murmelten und ihn weiter des Weges schoben. Da Joseph sich der Absicht und Gefährlichkeit der Männer nicht im Klaren war, ging er lieber nicht aus seiner Deckung hervor, aber scheinbar halfen sie dem dritten auf dem Wagen. Also alles in Ordnung, wenn man das so sagen konnte, denn offensichtlich war ja etwas nicht in Ordnung.

    Was soll das?

    Fragte sich Joseph. Nach einer Weile ging er weiter, allerdings wieder um einiges nachdenklicher als zuvor. Er schaute noch mal auf die Karte, doch der Markierte Ort müsste sich in der Nähe des Weges befinden, in einer Lichtung, die den Wald zur rechten Seite des Weges von einem nächsten Wald trennte. Er ging und ging, schaute und war sehr vorsichtig. Schreie von Tieren hörte er viele, doch nichts mehr klang wirklich nach einem Menschen, doch er war auf der Hut, in der Tasche umklammerte seine schweißnasse Hand den Griff des Messers, das, so dachte er, ihn im Ernstfall wohl auch nicht schützen könnte. Seine Blicke schweiften über die Bäume über den Weg und den Teppich aus Laub, der Wald sah jedoch an jeder Stelle gleich aus.

    Immer gleich, aber auch verdächtig, tückisch, sogar –bedrohlich. Nach seiner Begegnung war Joseph nicht mehr so überzeugt von der Waldidylle und betrachtete den Wald hier als eine Art Versteckspiel, nur ohne den gewöhnlicherweise spaßigen Hintergrund. Anscheinend war das kein Spiel, alles schien ernst, fühlte sich ernst an, real und beunruhigend. Immer wieder spielte er die Szene in seinem Kopf nach, versuchte sich die Begebenheit zu erklären, vielleicht waren es Jäger und sie hatten eine unangenehme Begegnung, oder Soldaten- aber sie waren nur drei, nur drei allein im Wald. Joseph summte ein Lied vor sich her, ein düsteres Lied, aber immerhin erfüllte es die Stille mit einem Klang, denn er war wieder allein. Er hatte Zeit zu denken, über alles mögliche und so versuchte er weniger an die jetzige Situation zu denken, als an vergangene Zeiten, sein Alleinsein im Alter, seine Freunde, seine Spaziergänge. Er gestand sich

    Ein, dass er eigentlich nie wirklich allein war, nie, nicht einmal in seinen letzten Tagen, an welche er sich erinnern konnte. Immer hatte er Freunde, auch wenn sie zuletzt weniger und weniger wurden. Er ging oft alleine spazieren, er aß oft allein, aber 24 Stunden war er so gut wie nie allein, konnte er doch zumindest mit jemanden reden. Viele Länder hat er besucht, nahe Länder, ferne Länder, viele Menschen getroffen, viele Sprachen gelernt, manche besser, manche schlechter. Er versuchte sich an alle seine Reisen zu erinnern, doch verständigen konnte er sich immer irgendwie. Hier- hier war es bedrohte sie vielleicht etwas. Dieses könnte auch etwas mit dem Mann auf dem Wagen zu tun haben. Oder sind sie arm? Arm, dass sie in kleinen Steinhäuschen ohne Elektrizität und fließend Wasser leben müssen, zumindest hatte er hier bisher noch keinen Wasserhahn und auch kein WC entdeckt. Kein elektronisches Licht, keine elektronischen Geräte. Ja, diese Leute leben in Armut, zumindest in materieller Armut, und vermutlich auch in geistiger Armut, sonst wären sie wahrscheinlich fröhlicher. Langsam begann die Sonne höher zu steigen, während das Schatten-Licht-Spiel im Wald sich in seinen schönsten Facetten zeigte. Joseph träumte wieder etwas und wurde von den warmen und angenehmen Temperaturen auch wieder etwas beruhigter, bis er sah, dass der Wald auf der rechten Seite endete und eine Lichtung freigab. In dieser erblickte er einen kleinen, gepflasterten Hof, ein doppelstöckiges Gebäude mit sehr spitzem Dach, ähnlich wie ein etwas breiterer Turm, und kleinen Fenstern. Joseph wurde zunehmend nervös –

    Das ist er also, der Punkt, aber was kann ich hier erfahren?

    Er griff noch einmal zur Karte, schaute darauf, verglich seinen Weg vom Ort bis hierher, wo das X eingezeichnet ist, alles musste stimmen, hier sollte es sein, die Frage die sich stellte war nur: Was? Er blickte hochkonzentriert auf das Haus zwischen den scheinbar unendlichen Wäldern, schaute irgendwer hinaus, konnte man vielleicht etwas erkennen? Doch die kleinen, milchigen Fenster ließen keinen Blick zu, niemand war zu sehen, vielleicht schliefen die Bewohner ja noch, vielleicht auch nicht, vielleicht war niemand da, vielleicht war das X auch gar nicht für ihn bestimmt, sondern lediglich ein alter Vermerk, der nun aber keine Rolle mehr spielte, und es war einfach keine andere Karte da. Jetzt hatte er das Haus schon fast erreicht, es war aus schweren Balken, an den Fenstern liebevoll verziert mit Schnitzereien und erinnerte ein wenig an ein Bauernhaus in den Alpen oder vielleicht in den ländlichen Regionen Osteuropas, die er öfters bereist hatte.

    Er roch schon das Holz, welches in der Sonne vor sich hin gebraten wurde. Da an der Seite, von welcher er kam kein Eingang war, beschloss er, um das haus herumzugehen, und nachzusehen. Ein Wasserfass und einige Holzstücke waren hier, Gras wuchs aus den Fugen des Pflasters und da hörte er etwas, ein Geräusch, das von um der Ecke kam, ein klappern, ein Murmeln. Erst erschrak er, doch dann anders, niemand konnte ihn wirklich verstehen, nicht einmal der Alte mit den komischen Sprachanwandlungen. Was sollte das, ein gebildeter Mensch muss doch wenigsten eine größere Fremdsprache beherrschen, Englisch, Spanisch oder Deutsch, wenn nicht Russisch, aber nichts? Nie wurde er je so wortlos und fremd behandelt, als wäre er von einem anderen Stern, na ja, das war das Problem, mit Sicherheit konnte er auch nichts Gegenteiliges behaupten. Die Leute hier schienen rau zu sein, abgehärtet und misstrauisch, so wie es aussah,

    machte er sich bewusst, dass er ja eigentlich nach jemanden suchte, also gab es jetzt kein zurück. Er sagte mit all seiner Kraft:

    „Hallo!"

    wieder

    „Hallo"

    und ging so selbstbewusst wie er nur um die Ecke des Hauses.

    „Hal…,"

    er sah einen alten Mann mit einem merkwürdigen, kleinen Hut, der ihn neugierig, aber mild anschaute.

    „Hallo" wiederholte er, jetzt leiser.

    „Hallo,"

    antwortete der Mann sicher und lächelte, was ihm eine noch milderen und beruhigerenden Eindruck verlieh. Josephs Schrecken waren vorerst genommen, sein Gesicht entspannte sich unweigerlich zu einem breiteren, offenen Lächeln, der Mann hatte ihm geantwortet! In seinem Kopf setzte die Gedankenmaschine wieder ein:

    Er versteht mich! Das heißt, er kann mir TATSÄCHLICH helfen!

    Sofort fragte er:

    „Verstehen Sie mich? Verstehen Sie, was ich sage?"

    Der alte lächelte abermals

    „Ach,"

    seufzte er,

    „es kommen immer wieder Leute vorbei, die mich das fragen, immer werden sie hergeschickt, und ich wünschte, ich könnte ihnen helfen!"

    Jetzt wurde die Miene des Alten doch etwas ernster, aber immerhin sprach er perfekt Josephs Sprache, zwar mit einem gewissen Akzent, ansonsten jedoch fehlerfrei.

    „Wo bin ich hier? Was ist das alles? Die bewaffneten Männer, die Orte, die Wälder? Muss ich mir Sorgen machen? Wie bin ich hierher gekommen?"

    Für seine Antwort nahm er sich diesmal etwas Zeit, er schnaufte tief, durch die Nase ein, zwischendurch hörte man den Wind, der sanft durch die Wälder rauschte.

    „Du bist hier angekommen! Dennoch bist du immer noch auf der Reise"

    Antwortete er. Joseph konnte kaum darauf warten, dass der Alte weitererzählte, der offenbar alle Zeit der Welt hatte.

    „Du hast dir viele Fragen gestellt, doch nicht ein jeder hier kann sie auch beantworten, wahrscheinlich aucb ich nicht."

    „Ja, das ist mir auch schon aufgefallen!"

    Kam es Joseph hervor.

    „Du musst dir jetzt einige Dinge anhören, die dich verwirren, die neu für dich sind, dir Freude machen, aber dich vielleicht auch beängstigen."

    Der Alte fuhr fort:

    „Doch bevor ich dir das erzähle, ich bin Ioan, wie ist dein Name?"

    „Joseph!"

    „Joseph, ein schöner Namen, das kann ich mir gut merken."

    Der Alte lächelte:

    „Es kommen so einige zu mir, und viele Namen kann ich kaum aussprechen, manchen kann ich nicht helfen, da sie mich nicht verstehen, dann muss ich sie weiterschicken, das wird dann noch schwieriger. Das erste, das du wissen musst, und das hast du dir bestimmt schon gedacht ist: Du hast die Reise hinter dir, deine Erste Reise, das heißt, nicht erschrecken- du bist tatsächlich-tot!"

    Joseph zuckte zusammen, er registrierte die Gänsehaut, die sich auf seinem gesamten Körper bildete und gleichzeitig auch die Freude über die Tatsache, dass damit die Sache nicht aufhörte. Die Tatsache, die er schon vermutete, aber bis zu diesem Zeitpunkt immer etwas ins Lächerliche zog.

    „Ich bin tot?"

    „Ja, das bist du, das heißt, deine Zeit auf der Erde ist vorüber, sie war deine erste Station auf der Reise durch die Realitäten!"

    „Reise? Also was für eine Reise?"

    Der alte Ioan versuchte nun, Joseph etwas zu beruhigen.

    „Ich habe doch gesagt, es wird dich verwirren, und es ist sehr viel an Information, und vieles musst du auch selbst erleben, dir selbst erarbeiten, dafür bist du ja hier, doch vorerst gebe ich dir eine kleine Starthilfe!"

    Jetzt lachte er schelmisch und klopfte auf Josephs Oberschenkel, wie bei einem kleinen Jungen, der er im Prinzip hier auch war.

    „Warte hier!"

    Ioan erhob sich von der kleinen Bank, auf der er saß und sagte zu Joseph, der die ganze Zeit über vor ihm stand:

    „Pass auf, Freund! Ich kann deine Aufregung gut verstehen, aber ich bin ohnehin sehr klein, also setz dich einfach, denn es wird etwas länger dauern. Magst du guten Kaffee?"

    Joseph bejahte.

    „Perfekt, dann lass uns erst einmal aufwachen und zur Sache kommen, mach es dir bequem und beruhige dich, alles ist gut!"

    Ioan ging ins Haus, die Holztüre ließ er offen, seinen Hut hängte er an einen außen befestigten Haken währenddessen Joseph mit offenem Mund zurückblieb, er konnte sich nicht setzen, noch nicht, sein Bauch rebellierte, seine Nerven spielten verrückt. Wie vom Donner gerührt ging er auf dem Hausvorsprung auf und ab und dachte nach, zweifelte, lachte kurz, redete mit sich selbst und wurde dann wieder stumm. Dieses Gefühl war einfach unbeschreiblich, ein Gefühl aus Verwirrung, Freude und Melancholie, da er unweigerlich an seine Hinterbliebenen dachte, aber nicht zu ihnen sprechen konnte, nicht mit ihnen kommunizieren konnte, sie nicht beruhigen konnte. Für einen Traum war alles zu real, die Gefühle, das Erleben, zudem war eine viel zu lange Zeit vergangen. Er begann sich tatsächlich an den absurden Gedanken zu gewöhnen, dass er tot sei. Aus dem Haus drang inzwischen ein kräftiger, angenehmer Duft von frischem Kaffee, die Sonne kletterte auf ihren Zenit und ein zweiter Gedanke verfestigte sich: Das Jenseits könnte schlimmer sein! Prompt nach diesem Gedanken kam Ioan durch die Tür, stelle ein Tablett mit Kaffeekännchen aus Blech, Tässchen und Zucker hin, Milch fehlte, aber egal, was zählte war jetzt Ioans Einführung. Vorsichtig goss er den Kaffee aus der Blechkanne in die Tässchen, schwarz und undurchsichtig, wie es auch Joseph mochte.

    „Zucker nimm dir am besten selbst, ich mag es süß, schwarz wie die Nacht, süß wie die Liebe und heiß wie die Hölle!"

    Joseph lachte, irgendwoher kam ihm dieser Spruch bekannt vor.

    „Ich komme wie du aus Europa, doch wichtig ist das jetzt nicht mehr so sehr, nicht einmal, dass wir von der Erde sind, denn wir sind jetzt hier, und hier ist alles ein bisschen anders!"

    „Also gut fangen wir an",

    unterbrach ihn Joseph ungeduldig,

    „ich glaube dir das einfach mal, also mit der Reise, aber mich interessiert zuerst:

    Wie bin ich hergekommen und zweitens: Was ist das hier für eine Welt?"

    „Die meisten nennen sie Kalia",

    vorsichtig nahm Ioan einen Schluck Kaffee und begann seine Ausführungen:

    „Also, wie bist du hergekommen, das hast du dich bestimmt als Erstes gefragt, eine gute Frage, denn so genau weiß das kaum einer. Ich mache einen Versuch, dir alles zusammenzufassen was ich weiß, gib dir Mühe, mich nicht zu unterbrechen, es ist wirklich etwas verzwickt. Also die Erde ist etwas wie deine erste Station gewesen, und es war Zeit zu gehen, da du alles gelernt hast und erleben durftest, was du für deine weitere Reise brauchst. Dein alter Körper, vergleiche ihn mit einem alt gewordenen Anzug oder einer Ausrüstung, die in die Jahre gekommen ist. Du brauchst einen neuen, besseren, um weiterzumachen und dich zu entfalten-Dein Bewusstsein oder nenne es Seele zu entwickeln. Also hast du sie abgegeben und bist weitergezogen, denn deine Seele ist alles, dein Informationsspeicher, deine Gefühle und dein Wesen, auf einem bestimmten Weg, an den sich niemand, auch ich nicht erinnern kann, bist du nun hierher gelangt. Du kannst dich gut an deine alte Existenz erinnern und kannst alte Fähigkeiten nutzen, hier neue zu entwickeln oder zu vertiefen. Wie du siehst, bist du kein Baby, sonder ein junger Mann, der du nun für eine längere Zeit bleiben wirst."

    „Längere Zeit? "

    „Keine Sorge, ich werde alles was ich weiß mit dir teilen, unterbrich mich nicht! Längere Zeit heißt hier an die hundert Jahre, ein Jahr ist hier länger und auf eine besonderen Weise intensiver als du es von früher kennst. Ich bin hier bestimmt schon fast 700 Jahre und habe viel gesehen, hier verändern sich Dinge weniger schnell, Entscheidungen werden für gewöhnlich langsamer und weiser getroffen, das heißt, bis vor kurzen, aber später dazu mehr."

    Josephs Augen wurden immer größer, doch Ioan ließ sich davon nicht beeindrucken, wer weiß, wie oft er die Geschichte schon erzählt hat.

    „Du bist wie gesagt schon älter hierher gekommen, oder sagen wir reifer, als du auf die Erde gekommen bist. Darum gibt es hier auch keine Geburt, keine Babys und Kleinkinder und wie du siehst, auch keine Milch!"

    Er lachte erneut, das war zumindest eine gute Erklärung für das Fehlen der Milch zum Kaffee, dachte sich Joseph:

    „Das bedeutet es gibt keine Erziehung, keine Familie?"

    Joseph wollte fortfahren, doch der alte Ioan ließ ihn nicht.

    „Doch, Erziehung gibt es, wer weiß, ich denke, dass Erziehung die einzige Begründung für diesen Ort hier ist. Du musst Erfahrungen sammeln, neue, mehr, als noch in der Schule des irdischen Lebens!"

    Jetzt atmete er wieder ganz tief, schaute geradeaus auf den Waldrand und flüsterte fast:

    „Eine Familie wie du sie bisher gekannt hast kommt vor, ist aber wesentlich seltener, meist ersetzt die Freundschaft Familie, das Wichtigste ist: Liebe bleibt Liebe.

    Joseph wirkte ein wenig erleichtert, für seine Ohren hörte sich das alles zwar seltsam, aber auch ein wenig nach einem wahr gewordenen Traum an. In diesem Moment spürte er, dass er ein Stück weit angekommen war, die neue Wahrheit akzeptierte und sein Drang nach Informationen gestillt war, zumindest ein bisschen, er konnte jetzt ruhig sitzen und zuhören, ohne ständig dazwischen fragen zu müssen. Es wurde vertrauter in der Konversation, Joseph nickte, der Alte erzählte. Doch dann kam es Joseph wieder, eine Frage hatte er noch, die er loswerden wollte, die Frage nach den Umständen hier in der Umgebung, die bewaffneten Menschen, der verletzte Mann auf der Liege, das Tunnelsystem, also fragte er ihn danach.

    „Ich dachte schon, du bringst mir so eine Frage!"

    Er runzelte die Stirn, fasste sich an die Schläfe und blies in seine Backen, wobei er die Augen weit öffnete.

    „Das Leben hier ist keineswegs frei von Problemen, denn nach all meiner Erfahrung, die ich hier sammeln durfte, wächst man nur an seinen Herausforderungen. Als ich hierher gekommen bin, war alles noch ganz anders, in einem fast paradiesischen Zustand des süßen nichts tun, einfach Leben. Hier kann man auch sterben!"

    Joseph zuckte ein bisschen zusammen, doch hörte er weiter wie gebannt zu-

    „Aber man kann nicht erkranken, zumindest hätte ich nie davon mitbekommen!"

    „Nicht erkranken?"

    Platzte es aus Joseph heraus, wie aus einem ungeduldigen Schuljungen, doch der Alte zeigte Verständnis für dessen Begeisterung für diese Tatsache.

    „Ja, es ist wahr! Mach dir keine Sorgen, hier kommt es nur darauf an, zu leben, es kann wirklich schön sein! Dieser Planet hier scheint ein riesiges Ausmaß zu haben, unendliche Vielfalt an verschiedenen Landschaften, Kontinenten, ich war hier viel unterwegs, habe viel gesehen, es ist wirklich wunderschön! Alle Bewohner auch anderer Zivilisationen des Weltalls, welches du von früher kennst, und nach denen du dich bestimmt oft gefragt hast, sind hier, auch die verschiedenen Tiere und Pflanzen."

    Josephs Augen vergrößerten sich weiter und weiter, er starrte Ioan förmlich an:

    „Also daher sehen die manchmal so, auf eine bestimmte Weise, fremd aus und sprechen Sprachen, die ich in keiner Weise einordnen kann?"

    „Ja,"

    entgegnete Ioan,

    „deshalb gestaltet sich auch die Kommunikation etwas schwieriger, mit der Zeit lernt man das auch. Ich selbst habe mich mit vielen, vielen Sprachen befasst! Sowohl mit denen von der Erde, als auch von den anderen Planeten, aber auch dort leben oft viele, viele unterschiedliche Völker, die

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1