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Unbekannt und Heimatlos
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eBook339 Seiten4 Stunden

Unbekannt und Heimatlos

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Über dieses E-Book

Eine schier unglaubliche Geschichte, die, einer absolut naturverbundenen Frau. Nur mit ihrem knielangem Haar bekleidet, trotzte sie jahrelang der erbarmungslosen Natur in den Wäldern und Bergen der Pyrenäen. Erst als ihre Existenz bekannt wurde, begann für sie der kläglichste Abschnitt ihres Daseins. Die zweigeteilten Ansichten der Bevölkerung führten zu heftigen Auseinandersetzungen, sodass letztendlich die Obrigkeit eingriff. Jedoch gelang es niemand, ihre Geheimnisse zu lüften.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum10. Feb. 2014
ISBN9783847674795
Unbekannt und Heimatlos

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    Buchvorschau

    Unbekannt und Heimatlos - Heinrich Voosen

    Vorwort.

    Diese Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit.

    In den Französischen national Archiven befinden sich mehrere offizielle Dokumente und Schriften, welche die Authentizität der Ereignisse bezeugen.

    Epoche und Schauplatz.

    Frühes 19 Jh. – französische Pyrenäen.

    Cover Design

    Heinrich Voosen

    Januar 2014

    Alle Rechte vorbehalten.

    Prolog.

    Das Tal von Vicdessos ist wahrscheinlich das schönste und das wildeste der Täler von Ariège. Einige Dörfer verstreut am Fuße der Berge und bewaldeten Hängen, Weiler hier und da zwischen Kiefern, Buchen, Fichten und Eichen sowie die Wälder von Auzat, Soubrouque, Freychinede, Suc und Sentenac.

    Vicdessos, der Hauptort des Kreises, besetzt das Zentrum eines hügeligen Tales. Mehrere Bäche, die während der kritischen Jahreszeiten anschwellen, vereinen sich dann, über Geröll und zwischen den Felsen in reißende Gebirgsströme. Stromaufwärts, einige Stunden Fußmarsch nach Süden, liegt Andorra und Spanien. Hinter dem Hochtal von Artigue stößt man auf das Massiv vom Montcalm und dem Pic de Soulcem; Seen, Wasserfälle und Flächen von ewigem Schnee. Das schwarze Gestein ist dort oben gespickt mit glänzenden Kristallen. Alle diese Felsen, von La Font des Manières bis le Pla de Soulcem und le Bioufret nennt man die Silberspitze, La Pointe d’Argent.

    L’Artigue ist dieses Tal, welches sich in Richtung Spanien ausdehnt. Für die Bauern von Vicdessos und Umgebung waren die Sommerweiden von Soulcem sehr beliebt; nirgendwo findet man gleich fette Gräser, Gräser, die den Duft von Lakritze verbreiten. le Soulcem ist auch einer der Bäche, die sich in gefährliche Ströme verwandeln. le Soulcem ist ein „beschützter Ort" sagt man. Die Tiere werden niemals krank. Die Hirten sagen: Da, wo es mehr Frösche gibt, als dass man sie noch zählen könnte, da ist kein Platz mehr für Unheil.

    le Rioufret, gleichzeitig Bach und Wasserfall, welcher sich unweit der Madelon in den Soulcem ergießt, ist auch der Durchzug der Bären. Im Herbst, nach dem Abzug von Vieh und Schafherden nehmen sie Besitztum der Gegend. Die Bären lieben den Geruch der Kühe und Schafe, wälzen sich mit Vorliebe in den Ausscheidungen der Haustiere in den Umzäunungen nahe den Orrys.

    In dieser Umgebung, im äußersten Süden Frankreichs, begann im Frühling des Jahres 1800, die nahezu unglaubliche Geschichte einer geheimnisvollen und unbekannten Frau.

    Niemand wusste und weiß, bis zum heutigen Tage, wo sie hehr kam, wo und wie sie jahrelang gelebt haben könnte. Sie hatte sich zu einem Menschen der freien Natur entwickelt. Ihre Lehrmeister waren die Bären und Wölfe ..., die Bäume und Pflanzen, Sonne Wind und Regen ..., dennoch war sie immer noch ein Mensch ...!

    1

    Es war im Frühling des Jahres 1800. Die Brüder, Sylvain und Josef Barona, erreichten etwa zwei Wochen früher als im letzten Frühling, mit ihrer Herde den Eingang zum Pla de Soulcem. Der erste Schnee war sehr früh gefallen, und die Schmelze hatte auch etwas früher eingesetzt. Josef war bereits freudiger Stimmung, denn in einem oder zwei Tagen würden sie ihr Orrys erreichen. Beide hofften, dass die Winterstürme und besonders die Bären, nicht zu viele Schäden angerichtet hatten.

    Ihre Sommerbehausung war bei Weitem keine luxuriöse Unterkunft. Es war eine kleine mannshohe Hütte, ein Trockenmauerwerk, an einen Hügel angelehnt, überdacht mit Erdschollen, auf welchem, sich mit den Jahren, eine wilde Vegetation breitgemacht hatte. Der Großvater hatte sie noch errichtet. Eine niedrige Tür, welche im Sommer immer offen stand, damit der Rauch der Feuerstelle entweichen konnte, war die einzige Öffnung. Im hinteren Teil des Orrys hatte Sylvain eine Schlafstätte eingerichtet. Im vorderen Teil, neben dem Eingang befand sich die Feuerstelle. Ein zu recht gesägter Holzklotz diente als Tisch und zwei dreibeinige Höcker, die auch zum Melken der Kühe benutzt wurden, war die gesamte Ausstattung.

    Neben dem bewohnten Orrys befand sich noch eine ähnliche, nur etwas kleinere Konstruktion. Die Überdachung war so niedrig, dass man sich nur gebückt darin bewegen konnte. In diesem Raum hatten schon viele von diesen schmackhaften Käsen gereift und auch in diesem Sommer sollten noch Einige hinzukommen.

    Tagsüber, wenn Josef zwei- oder dreimal in der Woche, Butter und Milch hinunter ins Tal brachte, überwachte Sylvain die Tiere, die frei auf den herumliegenden Grasflächen weideten. An den anderen Tagen war Josef bemüht, mehr oder weniger nützliche Arbeiten zu verrichten. Am Spätnachmittag brachte Sylvain, unterstützt von ihrem Hund Rex, die Herde zurück zum Melken in eine Art Park unweit des Orrys. Die Tiere blieben dann dort eingezäunt bis zum nächsten Morgen.

    Es waren nun schon fast drei Wochen vergangen seitdem die beiden Brüder Barona, ihr Sommerlager dort oben bezogen hatten. Die wenigen Reparaturen, am und um ihr Orrys, waren in diesem Jahr nun auch abgeschlossen. Josef, der fast jeden Tag hinunter ins Tal spazierte, konnte dann und wann eine kurze Pause einlegen. Er konnte zu Hause etwas plaudern und beim Aufstieg ein wenig Abwegs herum schnüffeln.

    Es gab da ein wunderschöner Ort, wo er sich schon früher manchmal ausgeruht hatte. Eine bezaubernde Ecke inmitten eines Buchenwaldes. Hier und da ragten unregelmäßige, erratische Felsblöcke aus der Walderde. Einige strenge Fichten erhoben sich majestätisch um ein natürliches Wasserbecken. Ein kleiner Bach, in welchem, von den Bergen herab, ein glasklares und kühles Wasser plätscherte, hatte diesen im Laufe der Zeit gegraben. Hier war der Schatten zart, mit goldenen Strahlen, die überall durch das Blätterdach hindurch stachen. Es herrschte eine tiefe Stille, nur gestört vom Plätschern des Bächleins, dem gleiten einer Echse im Laub und dem Flattern eines Vogels in den Zweigen.

    An jenem Nachmittag breitete Josef seine schlichte Wegmahlzeit auf einem jungen Farn aus: eine Scheibe Brot, das seine Mutter am frühen Morgen frisch gebacken hatte und ein Stück Käse. Er stärkte sich mit Genuss, doch er war auf irgendeine Art erregt. Er hatte ein Vorgefühl, als würde dieser Tag einer der schönsten seines Lebens sein, als würde ein unbekanntes, glückliches Ereignis ihn erwarten.

    Als er seinen Hunger gestillt hatte, packte er die Überreste in seinen Tragekorb. Dann streckte er sich ins weiche Laub, neben einer jungen Buche, und wäre es auch nur für einen kurzen Augenblick. Durch das satte Grün ihrer Blätter verfolgte er die kleinen weißen Wölkchen, die am Himmel dahin zogen.

    Josef musste wohl kurz eingeschlafen sein. Er merkte es an den Schatten, die sich, wenn auch nur leicht, verschoben hatten, auch fühlte er sich ein wenig benommen. Ohne den Kopf zu bewegen, ließ er seine Blicke um sich herum schweifen. Kein unbekanntes oder auffälliges Geräusch war zu hören. Doch dann, als er den Blick, dem Bächlein entlang, weiter nach oben richtete, sah er plötzlich eine außergewöhnliche Gestalt, und dass kaum dreißig Schritte höher weiter dem Hang entlang. Im ersten Augenblick konnte er dieses Etwas nicht zuordnen. War es ein Mensch oder ein Tier? Schnell wurde ihm jedoch klar, dass es nur ein Mensch sein konnte, so unglaublich, wie es ihm auch schien. Die Tierwelt dieser Gegend kannte Josef so gut wie jeder Jäger.

    In einer vorsichtigen Bewegung, langsam und ohne das geringste Geräusch zu verursachen, drehte er sich in eine Bauchlage, um so, diese ungewöhnliche Gestalt genauer beobachten zu können. Es war wirklich ein Mensch.

    Angelehnt an einem Felsblock, welcher zu dem Zeitpunkt gerade in der prallen Sonne lag, blickte sie hinaus über das grüne Tal, hinüber, zu dem dahinter liegenden Bergmassiv Montcalm. Zunächst konnte Josef nur die Beine erkennen, denn ein sehr heller und wilder Haarwuchs verdeckte fast den ganzen Körper. Er hatte in seinem jungen Leben noch nie eine Person mit solch langem und vor allem solch blondem Haar gesehen. War es nun ein Mann oder eine Frau? Er war sich immer noch nicht so ganz sicher. Dann plötzlich, in einer energischen Bewegung, warf sie mit beiden Händen gleichzeitig, ihre üppige Mähne über ihre Schultern. In seinem Alter hatte Josef noch nie andere Frauen oder gar Mädchen in seinem Alter gesehen, als die, eingehüllt in einem Haufen Stoffe. Er glaubte kaum seinen Augen und sein Herz begann zu rasen. Ob man es wahrhaben will oder nicht, der Instinkt des Menschen lässt sich nicht durch Gebote oder Verbote beeinflussen. Das Wort „nackt, war zu jener Zeit noch aus dem Wortschatz der Jugend verbannt. Was sich unter den schweren Roben verbarg, war ein streng gehütetes Geheimnis der Erwachsenen. Bis zu diesem Tag hatte Josef noch immer geglaubt, dass diese Wölbungen in den Korsagen der Frauen, irgendeine Verzierung sei. „Wie konnte ich nur so blöde sein?, murmelte er zu sich selbst.

    Noch eine Weile schaute sie unbeweglich in die Ferne, dann richtete sie sich auf und entferne sich. Josef schaute ihr noch nach, sah, wie ihr blonder Schopf sich über dem Unterholz bewegte, bis sie schließlich ganz in den Blättern verschwand.

    Es vergingen noch einige Minuten, bevor der Junge seine Gedanken wieder mehr oder weniger geordnet hatte. Die Erscheinung der Heiligen Jungfrau hätte ihn wohl kaum mehr aus dem Lot gebracht.

    Den ganzen Weg entlang den er noch zurücklegen musste bis zu ihrem Lager, stellte er sich die unglaublichsten Fragen. Es gelang ihm immer noch nicht wirklich zu begreifen, was ihm da widerfahren war. Dieses unwahrscheinliche, unbekannte Gefühl, das seinen ganzen Körper durchflogen hatte, als sie ihr Haar über ihre Schultern warf. Er verstand auch nicht wieso und woher eine absolut unbekleidete Frau mit blonden Haaren hier vor ihm erschienen war. In dieser Region Frankreichs gab es nicht eine einzige Person mit solch hellen Haaren, hier waren alle dunkelhaarig. Sein erster Gedanke war, es könnte eine Hexe gewesen sein. Er stöberte in seinen Erinnerungen herum nach Merkmalen, die er über Hexen gehört oder gesehen hatte, doch er fand nichts, was mit dem Aussehen dieser Frau übereinstimmte. Er war sich sicher, eine Hexe konnte es nicht sein. Aber, wer oder was sonst? Vielleicht eine wilde Frau? Eine wilde Frau …, er hatte noch nie gehöht, dass so etwas überhaupt existierte.

    Der Tag ging bereits zu Ende. Sylvain war schon dabei die Tiere zum Melken zusammenzutreiben als Josef endlich mit seinem Tragekorb auf dem Rücken und einem guten Stück Feuerholz auf der Schulter in Sichtweite kam. Ein wenig außer Atem warf er das Holz neben dem Eingang der Hütte ab und entledigte sich dem Tragekorb. Sylvain rief ihm schon von Weitem zu:

    „Du bist spät dran heute, ich fing schon an, mir Sorgen zu machen!"

    „Ich habe wohl wieder zu lange mit Großvater diskutiert." Erwiderte Josef ohne seine Beschäftigung zu unterbrechen.

    Doch als sein Bruder näherkam, merkte dieser sofort am Verhalten seines Gehilfen, dass doch etwas Besonderes vorgefallen sein musste.

    „Wenn du dein Gesicht sehen könntest!, lächelte Sylvain. „Was ist passiert?

    Josef hatte nicht geglaubt, dass er immer noch nicht sein gewohntes Auftreten gefunden hatte, und improvisierte eiligst eine Geschichte, doch sein Bruder blieb skeptisch, er glaubte Josef nicht so ganz. Der Kleine schien ihm irgendetwas zu verheimlichen.

    „Oh, nichts besonders. Es war nur ein Bär ... ja, es war ein Bär, der mich einige Zeit verfolgt hat. Du kannst dir leicht vorstellen, dass ich etwas verstört bin."

    „Ein Bär?, erwidert Sylvain erstaunt. „Ich an deiner Stelle hätte den Holzklotz abgeworfen, sogar den Tragekorb auch noch, und wäre gelaufen so schnell mich meine Füße getragen hätten!

    „So schlimm war es nun auch wieder nicht, meinte Josef. „Das Holz habe ich ja erst später aufgehoben …, außerdem war es ja auch nur ein junger Bär.

    Er bemerkte doch nun, dass sein Bruder ihm nicht den Glauben schenkte, den er erhofft hatte, und versuchte so schnell wie möglich das Thema abzuhaken.

    „Schau her Bruder, die Mutter hat heute in der Frühe frisches Brot gebacken, ich konnte nicht widerstehen, mir unterwegs ein Stück abzuschneiden. Du solltest das Gleiche machen. Ich fange dann schon mal mit dem melken an."

    Ohne ein weiteres Wort zu sagen, griff er einen Eimer, seinen Melkschemel und verschwand zwischen den Kühen. „Du mein Freund, dachte Sylvain, hast wieder irgendetwas angestellt. Die Butter ist ganz bestimmt wieder zu spät, oder in einem traurigen Zustand, zu Hause angekommen, und ich glaube eher, dass es der Vater war, der dir die Läuse geschüttelt hat."

    Der Vorfall wurde nicht mehr erwähnt, nicht im Laufe des Abends und auch nicht am nächsten Morgen. Nur als die üblichen Arbeiten des Vormittags erledigt waren. Als Josef sich auf den Weg ins Tal aufmachte und Sylvain sich langsam mit der Herde entfernte, rief dieser noch in einem etwas ironischen Ton:

    „Komm nicht zu spät zurück, und nimm dich in acht vor den Bären, besonders vor den Kleinen!"

    Josef hatte die Anspielung verstanden und erwiderte nur mit einem beistimmenden Handzeichen, bevor er den Hang hinunter in Richtung Wald davon eilte.

    An diesem, und an den folgenden Tagen suchte Josef immer nach neuen Erklärungen um seine Eile zu rechtfertigen. Er nahm sich kaum die Zeit einen Happen zu sich zu nehmen, oder ausgedehnte Gespräche zu führen. Nur das Wichtigste wurde besprochen, dann verschwand er wieder.

    „Heute Nacht hat ein Tier den Zaun durchbrochen und das muss ich noch vor der Rückkehr der Herde reparieren."

    Oder er hatte noch zu roden, Brennholz herbeizuschaffen, oder sonstige dringende Arbeiten zu erledigen. Er versuchte immer und überall Zeit zu gewinnen, um so schnell wie möglich zu seinem Versteck im Wald zu gelangen. Er hoffte jeden Tag, dass sich sein Traum erneuern würde, doch nichts geschah. Er begann schon, an der Realität seiner Vision zu zweifeln. Nach und nach schwand schon sein Interesse, sodass bald der Alltag wieder seine Rechte zurückgewann.

    Ungefähr drei Wochen waren vergangen, seitdem Josef die Frau gesehen hatte und nun war dieses Abenteuer weitgehend in den Hintergrund seiner Beschäftigungen gerückt.

    An diesem Tag hatte er dem Großvater seinen Plan, die Umzäunung um einige Schritte zu erweitern, in allen Details unterbreitet. Der alte Mann fühlte sich geschmeichelt, dass der Junge ihn zurate gezogen hatte, und gab ihm sogar noch einige Ratschläge mit auf den Weg.

    Nach dieser Unterhaltung begab sich Josef nun wieder auf den Weg zurück in die Berge. Seine Gedanken waren voll beschäftigt mit neuen Ideen und er hatte, an diesem Nachmittag, nicht einen Augenblick mehr an diese Frau gedacht. Diese Geschichte schien nun endgültig der Vergangenheit anzugehören. Manchmal dachte er noch daran, aber immer weniger. Doch dann plötzlich, in einem Moment, indem er überhaupt nicht daran dachte, als er an einem Busch vorbei schritt, wurde er brutal aus seinen Gedanken gerissen. Sie war da, nur einige Schritte von ihm entfernt. Sie war unter einem hervor stehenden Felsen gebeugt und erfrischte sich. Josef konnte sie nur den Moment eines erschrockenen Blickes sehen, denn mit einem Sprung verschwand sie im Unterholz.

    Josef hatte nun die Gewissheit, dass er nicht geträumt hatte und das die Frau sich immer noch in der Gegend aufhielt. Es war also doch noch nicht alles vorbei. In seinen Gedanken begann schon sein Zaun zu zerfallen, bevor er noch nicht einmal begonnen hatte, ihn aufzubauen.

    Sie schien so scheu wie ein wildes Reh. Er müsste, so dachte er, mit äußerster Vorsicht und Geduld vorgehen, um vielleicht ihr Vertrauen zu gewinnen. In wenigen Augenblicken hatte er einen Plan. Schon an diesem Nachmittag machte er sich die Mühe bis hinauf zu dem Felsen zu klettern, wo er sie zum ersten Mahle gesehen hatte. Er brauchte nicht lange zu überlegen. Die frischen Fußabtritte im feuchten Lehm, am Rande des Bächleins, verrieten ihm das die Frau mit ihren bloßen Füßen vielleicht noch am selben Tag dort gewesen sein musste. Aus den Fährten, mehr oder weniger deutlich, die er dort lesen konnte, zog er die Gewissheit, dass sie sich regelmäßig an diesem Ort aufhielt. Zu welchem Zeitpunkt des Tages musste er nun noch herausfinden. Jedenfalls hatte er sie am Nachmittag in der ganzen Zeit nicht mehr dort gesehen.

    In dem Moment, als er seinen Weg fortsetzen wollte, kam ihm die Idee: Warum nicht jetzt schon etwas Nahrung auf dem Felsen zurückzulassen. Es wäre ja möglich, dass sie noch später am Nachmittag dorthin käme. Gedacht getan, er legte kurzerhand etwas Brot und Käse auf den Felsen und ging dann seines Weges. Er beschloss niemanden von seiner neuen Begegnung zu erzählen, sogar sein Bruder dürfte vorerst nichts erfahren.

    Am nächsten Morgen hatte er Eile das Resultat seines Experimentes zu erfahren. Schon von Weitem stellte er fest, dass Brot und Käse verschwunden waren. Nach Kurzem überlegen musste er sich eingestehen, dass es bei Weitem nicht sicher war, wer die Nahrung verschlungen hatte. Doch Josef lies sich nicht so leicht enttäuschen. Jedes Mal wenn er vorbeikam, legte er etwas Nahrung auf den Felsen, und jedes Mal war alles verschwunden. Doch die Frau sah er nie.

    Schließlich hatte er dieses unsichere Spielchen satt und beschloss mit List vorzugehen. Am ersten Tag, nachdem er am Vormittag Brot und Käse ausgelegt hatte, verkroch er sich in seinem Versteck unweit des Felsens. Er verblieb, solange es ihm möglich war, ohne dass er zu spät mit seiner Lieferung zu Hause ankam. Am nächsten Tag ging er gleichermaßen vor, nur am Nachmittag.

    Josef war außer sich, alle seine Versuche scheiterten. Doch womit er nicht gerechnet hatte, war: Diejenige, auf die er es abgesehen hatte, war genau so schlau wie er selbst, wenn nicht sogar noch aufgeweckter. Seit einigen Tagen bereits kannte sie alle seine Bewegungen und Zeiten seiner Anwesenheit. Wehrend er in seinem Versteck den Felsbrocken ununterbrochen anstarrte wurde der Beobachter ohne es zu bemerken zum Beobachteten. Er hatte nicht die geringste Ahnung, dass nur einige Meter genau über ihm, ein Paar neugierige Augen alle seine Gesten genau verfolgten. Nur wenige Augenblicke, nachdem er gegangen war, waren auch seine Gaben vom Felsen verschwanden.

    Er war vielleicht erst ein Lausbub, aber er war schon genauso hartnäckig wie ein ausgewachsener „Mountagnol" und dachte eine Art Mitteilung könnte eine bessere Lösung sein. Dann wieder, dachte er, wen sie wirklich eine wilde Frau war, dann könnte sie ja wahrscheinlich nicht lesen, oder gar seine Sprache nicht verstehen. Außerdem konnte er gar nicht schreiben. Er fand allerdings das die Idee an sich, eine der Besten war, die ihm je eingefallen war. Nach einigem Grübeln fand er die Lösung. Er würde ganz einfach ein paar Blumen zu der Nahrung legen, so brauchte er nicht zu schreiben, und sie nicht zu lesen. Gleichzeitig würde er feststellen, ob es ein Mensch oder ein Tier war. Denn ein Tier, so meinte er, würde die Blumen nicht anrühren.

    Am nächsten Morgen, sobald er sich ins Tal aufmachte, begann er damit einige Blumen zu pflücken. Er achtete darauf möglichst Verschiedene und, seines Erachtens nach, die Schönsten zu finden. Mit einigen Grashalmen band er einen kleinen Strauss und legte diesen mit etwas Nahrung auf den gewohnten Stein. Dann setzte er seinen Weg ins Tal fort, um doch seine Aufgabe pünktlich zu erledigen. Die Butter und die Milch in seinem Korb konnten nicht warten.

    Nur knappe drei Stunden später war Josef wieder am kleinen Teich angekommen. Er hatte den Felsen, der noch etwas höher im Wald lag, noch nicht erreicht, sah er schon von Weitem, dass die Nahrung und auch die Blumen verschwunden waren. Nachdem er sich vergewissert hatte das die Blumen nicht, vielleicht von einem Tier verstreut herum lagen, war er überzeugt. Es war die Frau, die immer wieder seine Gaben zu sich genommen hatte. Doch als er damit beschäftigt war die Ration Nahrung zu erneuern, überfiel ihn plötzlich ein unglaubliches Angstgefühl. Seine Gedanken erfüllten sich schlagartig mit Visionen des Grauens. Zu keinem Zeitpunkt hatte er bis jetzt daran gedacht, dass diese Kreatur, die er nur bewundert hatte, für ihn gefährlich werden könnte. Urplötzlich glaubte er zu sehen, wie sie aus dem Gebüsch hervor sprang und sich auf ihn stürzte. In panischer Angst begann er, zu laufen. Ohne sich auch nur ein Mal umzudrehen, lief er bis zum Rande des Waldes und noch weiter hinaus, bis er sich erschöpft und außer Atem ins Gras fallen lies.

    Jedoch seine Leidenschaft und seine guten Gedanken gewannen rasch wieder die Oberhand. Denn, überlegte er, wenn sie die Absicht hätte, mich zu töten, dann hätte sie es seit Langem getan. Sie hätte mich zu jeder Zeit überfallen können.

    An diesem Abend war es Josef nicht möglich den Konflikt, der in ihm wütete, vor seinem Bruder zu verbergen.

    „Schon wieder ein Bär?", fragte Sylvain mit einem ironischen Grinsen.

    „Du hast mir nicht geglaubt … oder?"

    „Ehrlich gesagt ..., kein Wort."

    Sylvain war davon überzeugt, dass dieses merkwürdige Etwas war, was es auch sein mochte, mit seinen Höhen und Tiefen, das seinen jungen Bruder seit Wochen in Aufregung hielt. Vielleicht steckte ja auch nur eine junge Freundin hinter der ganzen Geschichte. Nun wollte er endlich Klarheit schaffen.

    „Wenn wir mal in Ruhe über dein Problem sprechen würden … ganz unter uns? Schließlich bin ich dein Bruder. Ich bin doch schon einige Jahre älter als du und habe auch schon vieles erlebt. Ich könnte dir vielleicht einige Ratschläge geben. Was meinst du?"

    „Ich möchte nicht darüber reden."

    „Du machst einen Fehler, kleiner Bruder. Sprechen wir darüber. Du kannst mir vertrauen, ich werde niemanden etwas davon sagen, es bleibt alles unter uns. Ich glaube nicht, dass ich dich schon einmal verraten habe …"

    „Ja ich weiß, aber dieses Mal ist es nicht dasselbe. Ich kann nicht mit dir darüber reden, nicht mit dir und nicht mit jemand anderen."

    „Ist es denn wirklich so ernst?"

    „Nein, es ist nicht, dass es so schlimm wäre, nur es ist ein Geheimnis. Nein, ich werde schon selbst damit fertig werden."

    „Gut, wenn du meinst, dann sorge, dass du selbst damit fertig wirst. Aber … sag mir wenigstens, ob sie hübsch ist."

    „Von wem sprichst du?"

    „Ach Josef, spiel' nicht den Unschuldigen. Ich meine deine Geliebte!"

    „Ah! Daher weht der Wind. Glaube nur ja nicht, dass du mir mein Geheimnis so einfach entreißen kannst. So geht das nicht! Wenn du etwas erfahren willst, dann musst du schon schwören, auf … ich weiß nicht … auf deinen eigenen Kopf zum Beispiel."

    „Ho! Ho! Du willst es aber wissen. Hat man dir nicht gelernt das Schwören eine Todsünde ist?"

    „Schon, aber der Pfarrer hat uns auch gesagt, dass es nur eine Todsünde ist, wenn man vorhat, sein Versprechen nicht zu halten, oder nicht hält."

    „Wenn es so ist, wie du sagst, dann gut. Ich schwöre, dass ich niemanden etwas sage."

    „Niemals?"

    „Niemals!"

    „So ist es gut."

    „Also kleiner Bruder, ich höre. Es ist doch so, wie ich dachte? Es ist ein Mädel, das dich in diesen Zustand versetzt hat seit ein paar Wochen; oder doch nicht?"

    Und Josef fing an zu erzählen; er vertraute seinem Bruder schließlich sein Geheimnis an, er erzählte die ganze Geschichte vom ersten Tag an. Sylvain hatte einige Schwierigkeiten eine so unglaubliche Geschichte zu verarbeiten. Doch er glaubte seinem Bruder, denn Josef hätte niemals gewagt eine solche Zeremonie, mit Schwur und allem drum und dann anzuwenden.

    „Und du hast diese Frau nur diese zweimal gesehen?"

    „Genau so ist es."

    „Hast du zumindest darüber nachgedacht, wie gefährlich dein Spielchen ist?"

    „Ja schon, aber …"

    „Was, aber?"

    „Ich glaube nicht, dass diese Frau gefährlich ist.

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