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Uranus 401: Platons Planet
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eBook770 Seiten10 Stunden

Uranus 401: Platons Planet

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Über dieses E-Book

Die Schwestern Hypatia und Myia werden in der CORDISCHEN Gesellschaft mit der Ungerechtigkeit der von Platon propagierten Idee eines idealen Staates konfrontiert. Ihr unerlaubtes Eindringen in die Welt des Wissens öffnet ihnen die Augen, stellt für sie aber gleichzeitig eine gefährliche Zäsur dar. Der neue Blick auf eine antike Welt, die es so nie gab, und erst durch Terraforming verwirklicht werden konnte, erschließt nicht nur den beiden neue Horizonte.

Eine Reise im Kampf gegen Unterdrückung, Hass und Intrigen beginnt, die die Grenzen ihrer Vorstellungskraft sprengen wird.

Für alle Leser, die sich fragen, wie Platons Politeia in der Zukunft aussehen könnte, weshalb sein Höhlengleichnis mehr Wahrheit in sich birgt, als viele vermuten, und was es bedeutet, Teil des größten Experiments der Menschheitsgeschichte zu sein.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum4. Nov. 2019
ISBN9783749732418
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    Buchvorschau

    Uranus 401 - M. D. Strodtbeck

    TEIL I

    IM LEUCHTTURM

    Über meinen Zustand sollte ich lieber nicht zu viel nachdenken. Immerhin verspüre ich kein körperliches Leid und lebe noch. Mit diesem Gedanken versuche ich, mir meinen Lebensmut zu bewahren. Und trotzdem bleibt es nicht aus, dass ich zwischen Erleichterung und Ohnmacht, Hoffnung und Verzweiflung schwanke, wie die Schiffe in der schweren See vor den Klippen unter mir. Nur einen Anhänger aus Blech hat man mir gelassen. Er zeigt einen Vogel mit einem dreiblättrigen Zweig in seinem Schnabel.

    Die Zelle, in der ich gefangen gehalten werde, lässt genau zwölf Schritte in die Länge und achteinhalb Schritte in die Breite zu. Alles ist frisch getüncht und wirkt sauber. Nur die Tür legt Zeugnis darüber ab, dass die Zeit auch hier im Inneren vergeht. Ihre Farbe blättert wie braunes Laub im Herbst. Darunter kommt ein fein gemasertes dunkles Holz zum Vorschein. Wenn meine Finger die glatte Oberfläche berühren, erinnert mich das an die Welt, die außerhalb dieser Mauern liegt, an die Bank vor unserem Hof. Auf halber Höhe gibt es in meiner Zelle eine von außen verschließbare Luke, über die mir das Essen gereicht wird. Unter das einzige Fenster, es ist mit Gittern gesichert, habe ich meine schmale Schlafmatte geschoben. So kann ich in den Himmel blicken, während ich darauf liege. Ansonsten ist der Raum leer. Nachts wird das Fenster von außen mit zusätzlichen Läden gesichert, die Sicht auf die Gestirne bleibt mir dann verwehrt.

    Einmal täglich ist es mir erlaubt, meine Zelle zu verlassen. Dann darf ich zum Hof hinunter. Dabei komme ich auf der Wendeltreppe an einigen schmalen Fenstern vorbei. Für einen kurzen Moment kann ich dann den weiten Blick über das Meer genießen. Das Rauschen der nahen Pinien und der Salzgeruch spenden Trost in dieser unfreundlichen Umgebung. Bei einem seltenen Gespräch der Wärter habe ich erfahren, dass dieser Turm, der als mein Gefängnis dient, ursprünglich erbaut wurde, um den Steuerleuten der Schiffe den rechten Weg zu weisen. Dieser Küstenstreifen gilt als besonders heimtückisch und gefährlich. Leider darf ich nie an einem der Fenster verweilen; die Bewacher treiben mich Tag für Tag vorwärts, damit ich meine Runden auf dem Innenhof absolviere. Von den anderen Gefangenen, wenn es denn welche gibt, habe ich bisher noch keine zu Gesicht bekommen. Immer wieder schaudert es mich, wenn mir bewusst wird, wie still es hier ist.

    Eigentlich kann ich mich nicht beklagen. Seitdem ich wieder genesen bin, haben die nächtlichen Verhöre aufgehört. Kein Trontheim mehr, der mich nötigt, etwas preiszugeben, wovon ich nichts wissen kann. Keine Bedrohung, keine Gewalt. Einer der Wächter, ein älterer Mann mit schlohweißen Haaren und wettergegerbtem Gesicht, meint es sogar gut mit mir. Er wird von den anderen Isidor¹ genannt. Seinen groben Händen nach zu urteilen, könnte er früher Fischer gewesen sein. Vor wenigen Wochen legte er mir während meines täglichen Rundgangs im Hof ein dickes Buch in die Zelle. Die Odyssee² des Homer.

    Ich konnte mein unerwartetes Glück kaum fassen. Als er mir das Essen am folgenden Abend überreichte, gab mir Isidor mit wenigen Gesten zu verstehen, dass ich ihm daraus vorlesen sollte. Vermutlich hatte er selbst diese Fertigkeit nie gelernt, doch ich wagte es nicht, ihn danach zu fragen. Wir vereinbarten ein Klopfzeichen. Sobald ich es höre, setze ich mich nahe an die Luke und lese daraus mit gedämpfter, für ihn gerade noch hörbarer Stimme vor. Inzwischen richtet der alte Mann seinen Rundgang durch den Turm so ein, dass er einige Zeit vor meiner Zellentür verweilen kann. Ich genieße es, die homerischen Verse vorzulesen. Seitdem ich den abgegriffenen Band in den Händen halte, keimt wieder etwas Hoffnung in mir auf. Odysseus³, der Listenreiche, gab auch niemals auf und kehrte nach vielen Jahren in seine Heimat zurück.

    »Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung, Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat, Und auf dem Meere so viel’ unnennbare Leiden erduldet, Seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft.«

    Die Lektüre erscheint mir anspruchsvoll, doch Isidors Interesse lässt nicht nach. Innerhalb der letzten drei Wochen kamen wir gut voran. Tagelang dachte ich darüber nach, wie ich ihn um einen weiteren Gefallen bitten könnte, bis ich endlich meinen Mut zusammennahm. Der Alte gab mir nicht zu verstehen, ob er meine leise Bitte gehört hatte. Doch wenige Stunden später legte er mir zum Abendessen wortlos den ersehnten Papierbogen, ein kleines Tintenfass und einen alten Federkiel dazu. Leider war es schon zu dunkel, um mit dem Schreiben zu beginnen. In dieser Nacht fand ich vor Aufregung keinen Schlaf, endlich konnte ich meine Geschichte niederschreiben, meine Gedanken sortieren.

    *

    ¹ Griech.: »Geschenk der Isis«.

    ² Neben der Ilias das zweite große Werk des griech. Dichters Homer, es gehört zu den einflussreichsten Werken der abendländischen Literatur.

    ³ Griech. Mythologie: Held aus der Ilias und Hauptakteur der Odyssee.

    ⁴ Anfangsverse der Odyssee (Entstehungszeit 8.–7. Jhd. v. Chr.)

    PROOEMIUM5

    Allzu anmaßend möchte ich nicht klingen, immerhin schreibe ich nicht in Hexametern ⁶ . Lediglich mit schlichten Worten ist es mir möglich, meine eigene Irrfahrt zu erzählen.

    Aber auch sie handelt von Macht und von Zorn, von mancherlei Verblendung der Menschen, denen ich auf diesem Weg begegnete. Dennoch fand ich auch Weisheit und Liebe.

    Damals nannte man mich Hypatia⁷. Hypatia Agricola, Tochter des Kratimedes⁸. Ich wurde in Arkadien⁹ geboren, im achten Monat eines sehr heißen Jahres. Als alles begann, zählte ich fast zwölf Sommer. Mein Leben verlief bis dahin fernab von großen Sorgen oder Leid. Zu dieser Zeit nahm ich an, dass die Götter ihre schützende Hand über meine Schwester Myia¹⁰, Vater und mich hielten. Später sollte ich erfahren, dass andere, mir bisher unbekannte Kräfte, für unseren Schutz sorgten. Über deren Existenz wusste ich damals nichts und auch nur sehr wenig über das Leben außerhalb unseres Tals.

    In dem Gebiet um unseren Hof bis weit über die Hügel von Arkadien hinaus, wo der Alphaios die Grenze, der mir noch bekannten Welt markiert, existierte damals kein Unrecht. Zumindest sah ich es nicht, und es wurde einiges dafür getan, dass ich es auch nicht zu früh zu Gesicht bekommen sollte.

    Myia und ich wuchsen im Arkatal auf. Rund um unseren Hof kannten wir jeden Stein, jedes Versteck, jeden Baum. Hier war unsere Heimat. Arkadien ist ein schmaler Landstrich ohne eine bedeutende Stadt oder eine größere Siedlung. Ein kleiner Teil davon war unser Land, das Land meines Vaters, seines Vaters und seines Vaters Vater.

    Wenn ich mir auf unserem Hof, der sich auf einer Anhöhe zwischen Metapont im Norden und Agrigent im Süden befand, die Zeit nahm, auf die umliegenden Täler zu schauen, dann umgaben mich bis zum Horizont auf allen Seiten grüne Hügelketten, die an Wellen auf ruhiger See erinnerten. Nur wenige schroffe Felsen unterbrachen die grüne Decke und drängten dem Himmel entgegen. In den Senken bildete sich am Morgen weißer Nebel, der wie Gischt über die Wipfel zog. So zumindest stellte ich mir in meiner Kindheit das Meer vor, wie es hätte sein können, wenn es aus Bäumen und Felsen bestanden hätte. Ich kannte den Oceanus¹¹ bis dahin nur aus Erzählungen von Vater, er beschrieb ihn in einigen seiner zahlreichen Geschichten. Erst Jahre später sollte ich den wahren Ozean mit all seinen Launen zur Genüge kennenlernen.

    Die arkadischen Wälder waren dicht, manchmal dunkel und doch ein idealer Spielplatz für Myia und mich. Seine Fruchtbarkeit verdankte das Land den unzähligen Quellen, die allseits aus dem Boden traten und Rinnsale speisten, die sich ihren Weg talwärts suchten. Folgte man diesen, vereinigten sie sich in schmalen Senken zu kräftigen Bächen bis hin zu schnell fließenden Flüssen, die sich auf dem Weg zum Meer in mächtige Ströme verbanden. Einer der größten von ihnen nannte man Alphaios¹². Seine zahlreichen Quellen befanden sich in den weitverzweigten Tälern des Poros-Gebirges im Südwesten des Landes; abseits hiervon flossen die Wassermassen schließlich durch eine gleichnamige, tiefe Schlucht. Seine tosende Strömung wurde dann in nördliche Richtung geleitet. Erst in Thrakien verließ der Strom sein tiefes Tal und flankierte die kleine Stadt Zaccharo. Kurz vor der Einmündung ins Meer wurde das Flussbett breiter. Im Volksmund hieß es, dass sich der Alphaios dort mit dem Wasser der Arethusaquelle vereinigte. Gemeinsam flossen sie in den Oceanus.

    Vater erklärte uns, dass im Bereich der Mündung, wo die Meeresbucht auch als der Golf des Boreas¹³ bezeichnet wird, die felsige Küste steil zur Brandung hinabfiel. Dort entstanden die Winde, die im Herbst kräftige Stürme über die gesamte Vorratskammer trieben.

    Mir gefiel das Farbspiel der Laubbäume, die zu dieser Zeit in den schönsten Schattierungen zwischen gelb, ocker und rot leuchteten, tauchten sie doch unseren Landstrich in ein Meer voll bunter Farben. Der Winter legte schließlich über all dies alljährlich eine dicke Decke aus Schnee und Frost, die unsere Heimat zum Stillstand brachte, so als ob sich das Leben während der kalten Monate seinen Platz an einer anderen Stelle suchen würde. Die Tiere in den Wäldern hielten Winterschlaf, die Menschen strebten nach Wärme in ihren Behausungen und mieden jeden Gang nach draußen an die eiskalte Luft. So auch Vater, Myia und ich. Viele Stunden verbrachten wir vor dem wärmenden Feuer in unserer Stube, lauschten Vaters abenteuerliche Geschichten aus fernen Welten und warteten auf den Frühling.

    Sobald dann die ersten Sonnenstrahlen die dicke Schneedecke in unserem Tal zum Schmelzen brachten, kehrte auch das satte Grün mit aller Macht zurück, und die arkadischen Hügel leuchteten erneut.

    So wunderschön das Arkatal in meinen Augen auch war, kein vernünftiger Reisender würde sich die Zeit dafür nehmen, diesem unbedeutenden Landstrich besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Das pulsierende Leben spielte sich weit entfernt von unserer ruhigen Welt ab.

    Nur eine Handvoll bequem passierbare Pfade standen für die Händler zur Verfügung. Vermutlich war das einer der vielen Gründe, warum auch nur wenige Siedler auszogen, um in diesen einsamen Tälern zu leben. Jedes Stück Land musste der Natur mühsam abgetrotzt werden.

    Meine Familie lebte auf einem dieser weit verstreut liegenden Höfe. Das Leben war einsam und meist anstrengend, doch wir waren zufrieden damit. Unser Wohnhaus befand sich auf einer Anhöhe des Breiten Tales. Es bestand aus dicken, grob gezimmerten Holzplanken, die schon unzähligen Stürmen getrotzt hatten. Die Rückseite des Hauses wurde durch eine Felswand flankiert, was dem Gebäude zusätzliche Stabilität verlieh. Die zahlreichen Obstbäume des weitläufigen Gemüsegartens gegenüber dem Wohnhaus versorgten uns im Sommer mit Äpfeln, Kirschen und Pflaumen. Dazwischen lag ein geräumiger Innenhof, an dessen einer Seite sich die Ställe der Tiere befanden. Wir besaßen zwei Pferde, drei Kühe, zwei Ziegen und einiges Federvieh. Es gab immer etwas zu tun, hinzu kam die Arbeit auf den Äckern und in den Reben.

    Weil es von hier aus keinen Weg in das nächste Tal gab, wurde unser Hof der Endhof genannt. Das Nutzungsrecht für den angrenzenden Wald, einige Wiesen und Felder im Breiten Tal, hatte Kratimedes von seinem Vater Kritas und der wiederum von seinem Vater Krates¹⁴ geerbt. Doch jedes Jahr war Kratimedes, ebenso wie alle anderen arkadischen Bauern, dazu verpflichtet, den zehnten Teil seiner Getreide- und Weinernte als Pacht abzutreten.

    Vater zeichnete sich nicht durch eine beeindruckende Statur aus. Er war nur mittelgroß, nicht besonders breitschultrig, aber trotzdem hatte ihn die anstrengende Arbeit zäh und ausdauernd gemacht. Für meine Schwester und mich besaß er auf der einen Seite die Kräfte eines Herkules¹⁵, auf der anderen Seite war er listenreich wie ein Odysseus. Mit Bienenhonig lockte er große Glühwürmchen an, die man in Arkadien Phosphori¹⁶ nannte, damit wir in den dunklen Stunden des Winters mit Licht versorgt waren. Doch obwohl wir uns wunderbar mit ihm verstanden, gab es auch Dinge, die er vor uns fernhielt.

    So verschwand Vater häufig in den Höhlen hinter unserem Haus. Was er dort tat, wollte er uns nicht verraten. Ein weiteres Geheimnis betraf unsere Mutter, an die wir uns nicht erinnern konnten. Er sprach nie über sie. Besonders Myia bedrängte ihn in regelmäßigen Abständen mit ungestümen Fragen, doch Vater schwieg beharrlich. Da wir abgeschieden auf dem Endhof lebten, gab es niemanden sonst, der uns hätte Auskunft geben können.

    Während unserer Kinderzeit sahen sich Myia und ich sehr ähnlich. Beide hatten wir die dunkelbraunen Augen und die Haare unseres Vaters geerbt. Bei oberflächlicher Betrachtung unterschieden wir uns hauptsächlich in der Körpergröße voneinander. Für mein Alter war ich groß und schlaksig, wohingegen meine Schwester klein und zierlich wirkte. Wenn man genauer hinsah, entdeckte man eine längliche weiße Narbe an Myias Hals, die von einem Sturz in jüngeren Jahren herrührte. Mein auffälligstes Merkmal dagegen bestand aus einer silbergrauen Haarsträhne, auf die ich gerne verzichtet hätte. Meine Schwester liebte die Musik; früh begann sie, sich für das Lyraspiel zu interessieren. Sie übte ständig auf Vaters altem Instrument.

    ⁵ Vorwort von Dichtungen und Briefen.

    ⁶ Klassisches Versmaß der epischen Dichtung, u. a. die Ilias und die Odyssee.

    ⁷ Antike Mathematikerin, Astronomin und Philosophin.

    ⁸ Namensschöpfung aus Krates und Archimedes.

    ⁹ Benannt nach einer Gegend auf dem Peloponnes.

    ¹⁰ Tochter des griech. Philosophen Pythagoras.

    ¹¹ Nach antiker Vorstellung der Strom, der die Erdscheibe umfließt.

    ¹² Griech. Mythologie: Die Nymphe Arethusa verwandelt sich in eine unterirdische Quelle, um sich vor dem Flussgottes Alphaios zu verstecken.

    ¹³ Griech.: der Nördliche, auch Bezeichnung für den winterlichen Nordwind.

    ¹⁴ Nach Krates von Theben (um 365 v. Chr.), griech. Philosoph, Kyniker.

    ¹⁵ Griech. Mythologie: Sohn des Zeus und der Alkmene.

    ¹⁶ Griech.: »Licht tragend«, hier der Name einer arkadischen Glühwürmchenart.

    COR

    Als zwei Fremde an einem der ersten milden Frühlingstage des Jahres 401 nach der Besiedelung des Planeten Uranus den verschlungenen Weg zu unserem Hof hinauf wanderten, markierte das den Beginn eines neuen Kapitels unseres Lebens. Bis dahin war es ein ganz normaler Tag gewesen. Statt mir beim Abwasch zu helfen, war Myia auf den alten Baum vor dem Hof geklettert und machte es sich in luftiger Höhe gemütlich. Folglich erledigte ich alleine die Küchenarbeit, während unser Vater auf der schattigen Bank vor dem Haus ein Schläfchen hielt. Er hatte uns oft erzählt, wie von seinem Großvater Krates dem Älteren, einst ein bescheidener Keimling gepflanzt worden war. Daraus hatte sich inzwischen ein stattlicher Baum entwickelt, dessen Stamm von Myia und mir nur mit Mühe gemeinsam umfasst werden konnte. Hoch oben im Geäst hatten wir uns mit ein paar Brettern eine Liegefläche gebaut und schauten von dort durch die Blätter in den Himmel. So lagen wir oft in der einsetzenden Dämmerung auf dem Rücken und beobachteten den Aufgang der Monde am Himmel. Bäuchlings konnte man im Schutz des Laubes mühelos die Geschehnisse auf dem Hof beobachten.

    Während ich mich nun um den Abwasch kümmerte, saß Myia in der Baumkrone und genoss den Blick über das Breite Tal.

    Entsprechend war sie die Erste, die die blau gewandeten Fremden schon von Weitem entdeckte. Aufgeregt kletterte sie hinunter und rüttelte Vater energisch aus dem Schlaf; auch ich kam aus der Küche geeilt. Fremde verirrten sich sonst nie auf den mühsamen Weg zum Endhof. Für gewöhnlich bekamen wir nur von Quintus und seinen Söhnen Besuch, unseren nächsten Nachbarn.

    Es entging mir nicht, dass Vater sogleich besorgt wirkte. Er stellte sich auf die Bank und hielt Ausschau. Als er die Fremden auf dem geschlängelten Weg entdeckte, rief er beinahe erschrocken: »Schnell, versteckt euch! Philosophen!«

    Meine Schwester und ich sahen uns fragend an. Wieso sollten wir uns nicht zeigen dürfen? Er kniff seine Augenbrauen zusammen, um die Ankömmlinge genauer zu betrachten. Als er sah, dass wir seiner Aufforderung noch nicht nachgekommen waren, ermahnte er uns streng. Solange sich die ungebetenen Gäste auf dem Hof aufhielten, brauchten wir uns nicht wieder blicken zu lassen. Sein Ton ließ keinen Zweifel daran, wie ernst es ihm damit war. Aus seinen Augen sprach eine Unruhe, die ich bisher bei Vater noch nie beobachtet hatte. Eingeschüchtert beeilten wir uns, auf den Baum zu klettern, und so konnten wir die Ankunft der Fremden von oben aus beobachten. Besonders auffällig war die ungewöhnliche Farbe ihrer Reisekleidung. Ihre langen Mäntel waren in einem dunklen, kräftigen Blau gefärbt.

    Erst als die Wanderer den Hof betraten, zogen sie ihre tief ins Gesicht hängenden Kapuzen vom Kopf. Das kastanienbraune Haar einer hochgewachsenen Frau kam zum Vorschein. Ihr Begleiter war in etwa gleich groß, und doch wirkte er neben ihrer grazilen Figur untersetzt und stämmig. Auf seinem Kopf befand sich nur noch ein schmaler schwarzer Haarkranz. Seine Wangen und das hervorspringende Kinn des vor Anstrengung geröteten Gesichts waren im Gegensatz zu dem unseres Vaters bartlos. Die Philosophen flüsterten kurz miteinander, dann traten sie ein paar Schritte heran und neigten ihren Kopf in einer sonderbaren Geste in Vaters Richtung. Unter den Bewohnern Arkadiens war es normalerweise üblich, die rechte Hand zur Begrüßung und Verabschiedung zu reichen, doch Vater brachte nur ein unwilliges Kopfnicken zustande.

    Myia flüsterte mir verärgert ins Ohr: »Warum will er uns nicht dabeihaben? Immer schickt er uns weg, genauso wie wenn er mit Quintus¹⁷ über die Pacht spricht.«

    Meine Schwester war gerade zehn Winter alt geworden, sie hasste es, wie ein kleines Kind behandelt zu werden. Häufig regte sie sich völlig zu Unrecht auf, doch in diesem Fall lag sie richtig. Unser Vater hielt uns nur zu gerne über die Außenwelt im Unklaren. Wären die Söhne unseres nächsten Nachbarn nicht gewesen, hätten wir nichts über das Leben jenseits des Breiten Tales erfahren. Doch die Zwillinge Kleobis und Biton¹⁸ und ihr jüngerer Bruder Phinteas¹⁹, mit denen wir von Kindesbeinen an spielten, teilten ihr Wissen gerne mit uns. Sie lebten auf der anderen Seite des Tales und betrieben dort eine kleine Schankstube, den Goldtopf.

    »Was meint er damit, Hypatia? Was sind Philosophen?« Myia lag neben mir und stieß mich mit ihrem Ellenbogen in die Rippen.

    Ich dachte nach, was die Zwillinge über die Blaugewandeten erzählt hatten. »Kleobis sagte doch, dass das die wichtigsten Vertreter von COR²⁰ sind. Von allen Bewohnern des Landes genießen sie das höchste Ansehen, weil sie so weise und gelehrt sein sollen. Sie kümmern sich hauptsächlich in der Hauptstadt um die Regierungsgeschäfte und die Verwaltung.«

    »Vater hat niemals von ihnen gesprochen«, stellte meine Schwester verwundert fest. »Wozu zählen dann wir?«

    »Nun, wir sind Plebejer²¹. Oder halt die Plebs, das weißt du doch noch, oder?«

    Myia sah mich ratlos an, was meine Frage beantwortete. »Neben uns Bauern«, fuhr ich fort, »gehören auch Händler und Handwerker zu unserer Gruppe. Und dann gibt es doch noch die Servatoren, die für die allgemeine Ordnung und Sicherheit sorgen und zu diesem Zweck auch Waffen tragen dürfen. Du hast aber auch die noch nie gesehen, weil man ihnen in den ländlichen Gebieten ganz selten über den Weg läuft. Mit diesem Wissen prahlte zumindest Biton, erinnerst du dich?«

    Von Quintus’ Söhnen hatten wir auch einiges über die Geografie dieses Landes erfahren. COR lag als solides Festland in einem endlosen Ozean. Die tiefe Alphaios-Schlucht, die nur an einer Stelle überquert werden konnte, unterteilte das Land in zwei große Bereiche. Der eine Teil wurde offiziell als COR Promtuaria²² bezeichnet und umfasste die Gegenden Thrakien²³ im Norden, Boetien²⁴, Lakonien²⁵, Arkadien und Thessalien²⁶ im Süden.

    Die Plebs nannte diesen Landesteil einfach die Vorratskammer. Im oberen Teil, der Thrakien genannt wurde, gab es die Bezirke Zaccharo und Pyrgos, in Boetien, dem Landstrich südlich davon, einen etwas größeren Ort namens Gela. In Lakonien, welches sich über die breiteste Stelle von COR Promptuaria erstreckte, fanden sich die Siedlungen von Ragusa und Kyparissa. Im thessalischen Süden unsere Heimat Arkadien lagen Agrigent, Poros und Eritium. Alles Namen, die Myia und mir kaum etwas sagten. Reisen galt in der Kornkammer als beschwerlicher Luxus, und Vater hielt es für überflüssig, sich das Land anzusehen, wenn zu Hause jede Menge Arbeit wartete. Also waren wir bisher nicht weiter als nach Telephassa gekommen.

    Im Rest des Landes, das COR Consumaria hieß, befanden sich weitere größere Städte, deren Namen ich mir bisher nicht merken konnte. Nur eine Stadt, die uns stets in Erstaunen versetzte, beschrieben die Nachbarsjungen immer und immer wieder in schillernden Farben: Polipolis. Dort befand sich der Sitz unserer Regierung, das Zentrum der Macht. Obgleich unsere Nachbarn die Stadt selbst nicht mit eigenen Augen gesehen hatten, bereitete es ihnen ein herrliches Vergnügen uns Ahnungslosen von ihrer Schönheit und den prunkvollen Schätzen, die sich an jeder Ecke fanden, vorzuschwärmen. Da sie ihre Geschichten von Mal zu Mal phantasievoller ausbauten, schenkten Myia und ich ihnen bald keinen Glauben mehr.

    Eindeutig fest stand hingegen, wann die CORDISCHE Zeitrechnung begann. Denn die alten Reiche waren vor etwas mehr als vierhundert Jahren durch die Deukalionische²⁷ Katastrophe überflutet worden. Immerhin gelang es den Überlebenden, die wichtigsten Schriften der Antike zu retten. Eine davon wurde zum Fundament des neuen Staates. Jedem Bewohner wurde bereits als Kind die Hymne beigebracht, die das unfassbare Leid seiner Heimat beschrieb:

    »Das Beben, es riss alles mit,

    das Wasser kam, die Hoffnung litt,

    der Heimat fern, das Leid war groß,

    wo waren die guten Tage bloß?

    Nur noch Ruinen, von Wasser bedeckt,

    die Schreie, sie blieben unentdeckt,

    gefangen bis in Ewigkeit, die Toten,

    sie sind das, was bleibt.

    Endlich, ein Schiff am Horizont,

    dem Sturm entflohen, ganz gekonnt,

    Fortunas Dank, es bringt das Licht,

    drei Säulen erscheinen, das Elend bricht.

    Gerettet die Schriften, aus Fluten heraus,

    gelobt seien die Götter, Philosophen steht auf,

    so geboren, die Kinder des Staates von COR,

    das Alte vergangen, neue Kraft bricht empor.

    Das Streben nach Recht, in Glanz steht es da,

    das Große und Ganze, die Verheißung wird wahr,

    mit Mut wir geloben, ein glorreiches Land,

    wird gemeinsam erschaffen, mit eifriger Hand,

    drum folgen wir Platon²⁸, er knüpfte das Band,

    den Weisen wir danken, o ruhmreiches Land.²⁹«

    Von unserem Versteck aus hatten wir einen guten Überblick. Inzwischen waren die Erwachsenen mit dem Austauschen der allgemeinen Höflichkeitsfloskeln am Ende. Die Besucher sahen Vater erwartungsvoll an. Es war Sitte, dass der Gastgeber nach der Begrüßung Wasser zum Händewaschen anbot, sowie etwas zu essen und zu trinken reichte. Doch tief in Gedanken versunken, nestelte unser Vater an seiner Arbeitstunika herum und starrte dabei auf den Boden. Als selbst ihm die Blicke der Fremden aufzufallen schienen, fragte er zögernd, ob sie wegen der Pacht gekommen seien.

    Die Philosophin lächelte freundlich, sie hatte ein wunderschönes Gesicht. Laut und deutlich sprach sie: »Kratimedes, wie du dir denken kannst, sind mein Begleiter und ich nicht den weiten Weg aus Polipolis gekommen, um über das Pretium³⁰ zu diskutieren.« Sie sah zu ihrem Begleiter hinüber. »Dies hier ist der ehrwürdige Philosoph Tryphon³¹.«

    Was sollte das alles? Warum kannten sich Vater und die Philosophin? Wieso hatte er uns davon nichts erzählt?

    In ihrem freundlichen, aber bestimmten Tonfall fuhr sie fort: »Wie du weißt, gibt es in COR Gesetze, denen man Folge leisten muss. Nachdem du dich deinen Verpflichtungen widersetzt hast, war ein offizieller Besuch längst überfällig. Du kannst versichert sein, dass ich alles in meiner Macht Stehende versucht habe, um dir eine Strafe zu ersparen.«

    Die drei standen jetzt genau unter uns, das Lächeln der Frau war verschwunden. Vater brummte undeutlich etwas vor sich hin. Myia verdrehte die Augen, denn sie wusste, dass er absichtlich leise sprach. Seine Antwort schien unhöflich gewesen zu sein, denn der untersetzte Philosoph stöhnte missbilligend auf.

    Die Philosophin schüttelte fast unmerklich den Kopf und schlug beschwichtigend vor: »Bevor wir uns hier im Stehen streiten, sollten Tryphon und ich uns etwas stärken, um deinem Furor³² gewachsen zu sein. Wie wäre es, Kratimedes, wenn du uns etwas anbieten würdest?«

    »Du hast recht, ehrwürdige Philosophin«, erwiderte Vater zerknirscht. »Nehmt hier auf der Bank Platz und ruht euch aus.«

    Die Frau löste die glänzende Fibel ihres Reisemantels und legte ihn ab. Darunter kam ein weißes Gewand zum Vorschein. Ihr Begleiter öffnete ebenfalls den Verschluss seines Mantels, machte aber keine Anstalten ihn abzulegen. Er wirkte, als wäre er nur widerwillig mitgekommen. Die beiden unterhielten sich leise, bis Vater mit einer Karaffe und drei Trinkpokalen erschien. Er schenkte seinen Gästen einen Becher mit verdünntem Wein ein und setzte sich auf einem Hocker dazu.

    Die schöne Frau nippte an dem Getränk und sah Vater erwartungsvoll an. »Nun, Kratimedes, lass uns nicht weiter Zeit vergeuden. Wo sind die Mädchen?«

    Unwillkürlich zuckten Myia und ich zusammen. Es ging um uns?

    »Sie sind wie üblich auf den Pferden nach Telephassa unterwegs, um etwas auf dem Forum zu besorgen«, stammelte Vater ausweichend.

    Wir staunten, denn nie hätte er uns solch einen Ausflug alleine erlaubt, obwohl wir an jedem Markttag nach dem Vollmond der Titania³³ mit ihm dort hinfuhren. Dieser Ort lag einen längeren Ritt talabwärts entfernt.

    Die Stimme der Frau klang zunächst enttäuscht: »Wie schade! Ich hätte sie so gerne gesehen.«

    »Ein Gott gebe mir gelassene Gemütsruhe, die Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und immer die Weisheit, den Unterschied zu erkennen.³⁴«, spottete Tryphon.

    »Oh, Fortuna, was für ein Zufall? Ausgerechnet heute?«, stellte nun die Philosophin kühl fest.

    Die Schultern unseres Vaters strafften sich, als er betont freundlich antwortete: »Meine Töchter können kommen und gehen, wie es ihnen passt. Die beiden sind noch Kinder, warum sollten sie für euren Nachwuchs schuften? Vorschriften und Zwänge kommen noch früh genug. Kindheit und Jugend sind nicht zur Ausbeutung gedacht. Damit machen es sich die Patrizier sehr einfach.«

    »Wer sollte deinen Kindern in Sachen Disziplin auch ein Vorbild sein?«, fragte der Philosoph höhnisch. »Du? Ganz sicher nicht!«

    Dieser Kommentar musste Vater verletzt haben, er schwieg jedoch und starrte auf seine Hände. Tryphon lachte noch einmal freudlos auf. Es schien, als wolle er Vater herausfordern und ließ sich zu einem kleinen Vortrag hinreißen. »Unser aller Herz schlägt für unser geliebtes Vaterland. Die Gerechtigkeit besteht darin, dass sich jeder gemäß seiner Begabung bemüht. Du kennst das zentrale Prinzip, das uns alle eint. Mir wäre es sonst kaum eine Erwähnung wert, wie naheliegend es ist, dass die Kinder die Disziplin zur Pflichterfüllung als Erstes von ihren Eltern erlernen. Das gilt für jede Aufgabe, sei sie auch im Einzelnen noch so klein und unbedeutend. Im Ganzen gesehen fügen sich die einzelnen Bausteine zu den drei staatstragenden Säulen. Vivat LEX CORDIS! Es lebe der schönste, wahrste und beste Staat.«

    Unser Vater räusperte sich verstohlen und wirkte beunruhigt.

    Der Philosoph erinnerte sich an das eigentliche Thema. »Nun wird es höchste Zeit für dich, das bereits von euren Vorfahren gegebene Versprechen einzulösen. Deine Kinder müssen ihren Dienst antreten!« Tryphon trank seinen Becher in einem Zug aus und knallte ihn auf den Tisch.

    Vater unter uns zuckte zusammen, genauso wie Myia neben mir, nicht durch den Knall seines Pokals, sondern aufgrund der Worte dieses Tryphons. Ich sah Myia mit weit aufgerissenen Augen schockiert an, die sich ihrerseits die Hand vor den Mund hielt, um nicht aufzuschreien.

    »Was meint er?«, flüsterte ich ihr zu. »Welchen Dienst?«

    Myia hatte es komplett die Sprache verschlagen, ob aus Überraschung oder aus Angst, konnte ich nicht erkennen.

    »Warum haben uns die Zwillinge nie etwas davon berichtet?«, bohrte ich leise nach, doch eine Antwort bekam ich nicht.

    Der Philosoph unter uns schien seine Überlegenheit jetzt sichtbar zu genießen und fuhr nach einer kurzen Pause fort: »Ich spiele von nun an nicht mehr mit. Es reicht! Aber da ich kein Unmensch bin, gebe ich dir noch einen kleinen Aufschub. Im kommenden Herbst jedoch läuft die Frist endgültig ab. Erscheinen deine Kinder nicht zum vereinbarten Termin, werden sie von einer Syssitia³⁵ abgeholt, und du kannst dich vor der Ostraka³⁶ in Polipolis verantworten. Wäge ab, ob du dir und deinen Kindern diese Schmach antun willst.«

    Zwischen den Blättern erkannte ich, dass die Frau ihrem aufgebrachten Begleiter beschwichtigend die Hand auf seinen Arm legte. Und tatsächlich schien ihn das etwas zu beruhigen. Ein wenig entspannter fuhr er fort: »Dass mein Ministerium deine vernachlässigte Pflichterfüllung überhaupt so lange stillschweigend geduldet hat und ich sogar einen Tag meines Lebens dafür opfere, in diese Einöde zu kommen und dir von Angesicht zu Angesicht ins Gewissen zu sprechen, hast du ganz alleine Pantekleia zu verdanken. Nach der offiziellen Auslegung der CORPUS CORDIS wurde deine ältere Tochter schon im vorletzten Herbst im Megaron³⁷ erwartet. Alleine deshalb müsstest du mit einer empfindlichen Strafe rechnen. Bei ihrem zweiten Fehlen im letzten Herbst stünde dir bereits ein Aufenthalt in Sybaris³⁸ zu.«

    Als ich die boshaften Worte des Blaugewandeten vernahm, erstarrte ich. Sollte ich etwa schon früher abberufen werden? Ganz alleine? Als ich Myia verzweifelt ansah, konnte ich ihren undurchsichtigen Blick nicht einordnen. Würde ich sie nicht besser kennen, könnte ich fast zu dem Schluss kommen, sie sei fasziniert von der Idee, den Endhof auf eigene Faust zu verlassen.

    Tryphon ließ seine Worte wirken. »Aber die Himmlischen meinen es gut mit dir, denn du hast eine mächtige Fürsprecherin, die ihr Wort für deinen Eigensinn geltend macht. Aber treibe es nicht zu weit! Auch ich muss mich verantworten, wenn herauskommt, dass deine ältere Tochter zwei Jahre zu spät ihren Dienst antritt. Ich hoffe, dass niemand an höherer Stelle falsche Schlüsse daraus zieht. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«

    Pantekleia berührte nochmals Tryphons Arm und flüsterte ihm etwas zu. Der schwarzhaarige Philosoph antworte nicht und zog sich seinen blauen Mantel zurecht. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließ er den Vorplatz und schlug den Weg zum Fluss hinunter ein. Schnell verschwand er aus unserem Blickfeld.

    Eine Weile schwiegen die beiden Erwachsenen unter uns. Vater hatte seinen Kopf in die Hände gestützt und starrte auf die glatt polierte Oberfläche des Holztisches.

    Pantekleia lehnte sich auf der Bank zurück und brach schließlich das Schweigen. »Schön ist es hier.« Als Vater nicht reagierte, seufzte sie müde. »Du wusstest doch, dass der Tag kommen würde? So lauten nun einmal die Gesetze.« Sie beugte sich über den Tisch und sprach leise und eindringlich auf ihn ein. Nach einer Weile stand die Philosophin enttäuscht auf und machte sich auf die Suche nach ihrem Begleiter.

    Vater bedeutete uns nervös, dass wir auf dem Baum bleiben sollten. Als die beiden Philosophen nach kurzer Zeit zurückkehrten, nahmen sie wieder am Esstisch Platz, beachteten ihren Gastgeber aber nicht weiter, der noch immer zusammengesunken auf seinem Hocker saß.

    Zunächst unterhielten sich die beiden so leise, dass wir trotz aller Anstrengung nicht einen Gesprächsfetzen aufschnappen konnten. Auch nachdem sie einen weiteren Becher Wein geleert hatten, machten die weiß gekleideten Philosophen noch immer keine Anstalten den Heimweg anzutreten. Die Zeit zog sich hin, und ich war nicht nur in meiner Angst, sondern auch auf den Ästen des Baumes gefangen.

    Als die Sonne tiefer stand, sah sich Vater gezwungen, der Gastfreundschaft Genüge zu tun, und holte Brot und Käse sowie den Rest des geschmorten Gemüses vom Prandium³⁹ aus der Küche.

    Nach dem Mahl hatte sich Tryphons Stimmung merklich gebessert. Ein intensives Gespräch entspann sich zwischen den beiden Besuchern. Er lachte häufig laut auf.

    Myias Magen knurrte vernehmlich, auch ich bemerkte ein bohrendes Hungergefühl. Wie lange mussten wir denn noch hier oben ausharren?

    Vater war inzwischen aufgestanden, das untätige Herumsitzen lag ihm nicht. So holte er Holz für den Ofen und Wasser aus der Quelle neben dem Haus. Die Philosophen diskutierten eifrig weiter und bedienten sich großzügig am Wein.

    Unvermittelt erhob Pantekleia ihre Stimme und rief erstaunt: »Aber bist du dir da sicher Tryphon? ›Prüfe alles, räume der Vernunft die erste Stelle ein⁴⁰‹. Sicherlich haben seine Schüler des Öfteren mit ihm darüber diskutiert, ob ein freier Wille existiert oder das Schicksal der Menschen durch die Götter bestimmt wird. Pythagoras hat sich dazu widersprüchlich geäußert.«

    Der schwarzhaarige Mann lehnte sich amüsiert zurück. »Das sieht dir wieder ähnlich, dass er für dich nur in den Extremen existiert. Du suchst ja förmlich nach Widersprüchen in seiner Lehre. Aber du hast ja recht, seine akademische Akzeptanz befindet sich seit Jahren im Sinkflug. Ich bin sogar davon überzeugt, dass wir es noch erleben werden, dass man seine Lehre aus dem Kanon der akademischen Fächer entfernen wird. Spätestens, wenn der letzte aufrechte Pythagorasjünger seine finale Reise in die Unterwelt antritt.«

    Wer war Pythagoras? Auch ein Philosoph? Meine Schwester, die sich inzwischen wie ich vor den beiden Besuchern wieder in Sicherheit wiegte, konnte ein herzhaftes Gähnen nur mit Mühe unterdrücken; sie war gerade dabei einzuschlafen. Vater hatte schon Unmengen an Gemüse geerntet, nun begann er, geräuschvoll den Hof zu säubern. Pantekleia und Tryphon ließen sich durch die Unruhe, die Vater verbreite, nicht stören. Sie diskutierten ungestört über Thesen und Antithesen. Allmählich wurden die Schatten länger. Das Licht der Sonne, die jetzt hinter den Bergen versank, wechselte in ein tiefes Rot.

    Auf dem Hof kehrte plötzlich Ruhe ein. Vater war nicht mehr zu sehen. Die Philosophin sah sich suchend um, und erst als sie ihn im Gemüsegarten entdeckte, widmete sie sich wieder ihrem Begleiter. Ich staunte, dass sich bei den beiden Philosophen keine Spur von Müdigkeit zeigte. Immerhin mussten sie einen weiten Weg hinter sich gebracht haben. Unvermittelt hob Pantekleia ihren Kopf und blickte in den Baum hinauf. Ein eiskalter Schauer durchzuckte mich, mein Herz setzte einen Schlag aus. Für einen kurzen Moment hatte ich den Eindruck, sie hätte mich entdeckt. Doch die Frau wandte ihren Blick wieder ab, füllte ihren Becher mit Wein und sprach, die Augen in die Ferne gerichtet, ausdrucksvoll weiter. »Wenn nur die Kinder hier wären, so gerne hätte ich sie gesehen.«

    »Was willst du erwarten?«, höhnte Tryphon und sprach noch lauter, als unser Vater sich ihm näherte. »Er ist ein einfacher, dummer Bauer, meine Teure, vergiss das nicht. Von Pythagoras hat er doch sein Lebtag noch nichts gehört.«

    Ich bemerkte, dass Vater seine Fäuste ballte, und hoffte, dass er sich beherrschen konnte, auch wenn Tryphon eine schreckliche Person war.

    »Da irrst du dich aber. Von Pythagoras habe ich tatsächlich schon gehört. Hat er nicht einen Marktstand in Agrigent? Als Kesselflicker?«, bemerkte er betont höflich und fuhr fort, dass dieser Mann für seine gute Arbeit und anständige Preise bekannt war.

    Die Philosophin sah auf ihre Hände und hatte Mühe, sich das Lachen zu verkneifen. Tryphon selbst konnte jedoch nicht an sich halten und prustete los: »Ha! Das gibt es ja nicht! Der große Mathematiker und Philosoph, ein Kesselflicker. Ha! Ich kann nicht mehr. Das muss ich beim nächsten Stoiker⁴¹-Treffen in Polipolis erzählen.« Der dunkelhaarige Mann lachte und klopfte sich immer wieder auf den Schenkel, als hätte er noch nie einen so guten Witz gehört.

    Pantekleia sah Vater entschuldigend an und nahm rasch die ursprüngliche Diskussion mit Tryphon wieder auf. Ich weckte Myia, die sich neben mir müde die Augen rieb, da Vater verstohlen zum Baum hinaufsah und uns ein Zeichen machte, dass wir langsam hinunterkommen sollten. Erleichtert, dass wir endlich unser unbequemes Versteck verlassen durften, kletterten wir auf der Rückseite des Baumstammes hinunter, während die Philosophen in ihr Gespräch vertieft waren. Unten angekommen, versuchte ich, unsere zerknitterten Arbeitstuniken glatt zu streichen, dann traten wir mit klopfenden Herzen hinter dem Baum hervor.

    Tryphon bemerkte unsere Ankunft zuerst, hob missbilligend die Augenbrauen und räusperte sich laut. Die Philosophin wirkte angenehm überrascht und lächelte freundlich. Ihre ausdrucksvollen hellbraunen Augen musterten uns aufmerksam. »Hypatia und Myia?«

    Wir nickten schüchtern. Freundlich fuhr sie fort: »Ihr seht gesund und kräftig aus. Genauso wie ihr bei euren zukünftigen Aufgaben im Megaron gebraucht werdet.« Sie sah in unsere verängstigten Gesichter. »Man nennt mich Pantekleia. Ich bin aus Polipolis angereist, um euch mitzuteilen, dass ihr bald dem Philosophenstaat dienen dürft.«

    »Wir dienen doch bereits unserem Land«, hörte ich Myia neben mir sagen. »Wir helfen Vater jeden Tag.«

    »Das weiß ich doch, und darauf könnt ihr auch stolz sein. Doch euer Vater wird es auch alleine schaffen, da bin ich mir sicher. Nach der nächsten Ernte macht ihr euch auf den Weg. Das Megaron liegt eine Tagesreise mit dem Fuhrwerk von hier entfernt. Die Pflichterfüllung im Gefüge des Großen Ganzen steht dann im Mittelpunkt eures Lebens. Es wird euch sicherlich gefallen, ihr werdet viel Neues erfahren und eine Menge andere Menschen kennenlernen.«

    Myia begann, unvermittelt zu lächeln. Ich wusste zwar, dass sie immer mal wieder davon träumte, über das Breite Tal hinauszukommen, und doch erschreckte mich ihre Reaktion. Auch Vater blickte wie versteinert vor sich hin.

    Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und fragte Pantekleia gerade heraus, ob es nicht eine Ausnahmeregel geben könnte, wenn ein Elternteil alleine auf dem Hof zurückbleiben müsste.

    Ihr Lächeln erstarb, und sie vermied es, in seine Richtung zu sehen. »Wie es Tradition und Gesetz bestimmt und wie es auch jeder anderen Bauernfamilie ergeht, muss Kratimedes allein zurechtkommen, umso mehr, da es ihm von Anfang an bewusst war, dass der Tag des Abschieds einmal kommen würde. Dieses Versprechen wurde bereits von seinen Vorfahren geleistet und wird mit jeder folgenden Generation erneuert.« Beschwichtigend fügte sie hinzu, dass wir im darauffolgenden Sommer für die Feriae Frumenti⁴² von unseren Aufgaben entbunden werden würden, um ins Arkatal zurückzukehren und dem Vater bei der Ernte helfen zu können. Es dauerte einen Moment, bis ich ihre Worte verstand. Ich blickte erschrocken zu meiner Schwester, ihre Begeisterung fiel augenblicklich in sich zusammen.

    Erschrocken rief sie: »Das würde ja bedeuten, dass wir vom Herbst bis zum Sommer in diesem Megaron leben müssen!«

    Tryphon schnaubte entrüstet über unsere Einfalt und wandte sich ab, um seinen Mantel überzustreifen. Pantekleia lächelte geduldig. »Ja, Myia, so wurde es im CORPUS CORDIS festgelegt.« Die Philosophin blickte unseren Vater an, er wich ihrem Blick aus und nahm stattdessen meine Schwester in den Arm, die in Tränen ausgebrochen war.

    Tryphon wurde dies alles zu viel. »Pantekleia, wir müssen uns auf den Heimweg machen. Die Zeit wird knapp.«

    Sie seufzte hörbar. »Ihr könnt es euch heute noch nicht vorstellen, dass euch das Leben im Megaron gefallen wird. Eure bisher ungenutzten Talente werden in bester Weise gefördert. Bleibt gesund! Vale⁴³!«

    Myia löste sich aus Vaters Umarmung, auch sie sah jetzt zur Philosophin auf. Die beiden Philosophen neigten ihren Kopf zum Abschied. Nach ein paar Schritten zögerte Tryphon und drehte sich zu Vater um. »Du hast bis zur Ernte noch etwas Zeit einen letzten Schliff in die Erziehung deiner Kinder zu bringen. Deine Penaten⁴⁴ und alle himmlischen Götter mögen dir in dieser hochheiligen Pflicht beistehen und dich fortwährend in Geduld und Ausdauer bestärken.«

    Vater blickte den Philosophen mit finsterer Miene nach, als die den Serpentinenweg ins Tal hinunternahmen. An diesem Abend brachte er kein mehr Wort über seine Lippen, auch in den nächsten Tagen sagte er kaum etwas.

    Das Frühjahr rückte voran und mit jedem neuen Tag verlor der Besuch der Philosophen in unseren Gedanken an Bedeutung. Manchmal grübelte ich noch darüber nach, worüber sich die Philosophen während ihres Aufenthaltes auf dem Endhof unterhalten hatten. Myia interessierte sich nicht sonderlich für die Diskussionen der beiden, doch auch sie stellte sich die Frage, warum unser Vater, der kaum das Tal verließ, eine Philosophin aus Polipolis kannte. Pantekleia hatte sogar den weiten Weg auf sich genommen, um sich für Vaters Fehlverhalten einzusetzen. Warum zeigte er keine Dankbarkeit für ihre Fürsprache? Wir wagten es nicht, ihn nach dem Grund zu fragen oder überhaupt das Gespräch auf die beiden Fremden zu lenken.

    ¹⁷ Lat.: »Der Fünfte«, im Sinne von »der im fünften Monat Geborene«.

    ¹⁸ Griech. Mythologie: die Söhne der Kydippe.

    ¹⁹ Ein Pythagoräer.

    ²⁰ Abk. für continuum ordinis regnum, cor. Lat.: das Herz.

    ²¹ Das einfache Volk.

    ²² Promptuarium – lat.: die Vorratskammer.

    ²³ Benannt nach einer Gegend im nördlichen Griechenland.

    ²⁴ Benannt nach einer Gegend im mittleren Griechenland.

    ²⁵ Benannt nach einer Gegend im Süden der Region Peloponnes.

    ²⁶ Benannt nach einer Gegend im nördlichen Mittelgriechenland.

    ²⁷ Griech. Mythologie: Als der Göttervater Zeus beschließt, die verdorbene Menschheit auszurotten, wurden Deukalion und Pyrrha vor den vernichtenden Fluten gerettet, um später die Gründer der neuen Menschheit zu werden.

    ²⁸ Griech. Philosoph (um 400 v. Chr.), der bedeutendste Schüler des Sokrates.

    ²⁹ Offizielle Hymne des Staates COR.

    ³⁰ Lat.: Lohn, Sold, hier: der Zehnte, eine Zwangsabgabe.

    ³¹ Griech. Vorname, z. B. ein aus Alexandria stammender Grammatiker.

    ³² Lat.: Ärger, Wut.

    ³³ Größter Mond des Uranus.

    ³⁴ Das sog. Gelassenheitsgebet, stammt vermutlich von Reinhold Niebuhr (1934).

    ³⁵ Urspr. gemeinschaftlich eingenommene Männermahle, hier: kleinste Militäreinheit der Servatoren.

    ³⁶ Griech.: die Tonscherben. Hier: oberstes Gericht in Polipolis.

    ³⁷ Bezeichnung für einen der drei Hauptteile des antiken griechischen Hauses.

    ³⁸ Berüchtigtes Straflager und Steinbruch in COR.

    ³⁹ Bei den Römern ein spätes 2. Frühstück, hier: Mittagessen.

    ⁴⁰ Zitat von Pythagoras, griech. Philosoph und Mathematiker (um 500 v. Chr.).

    ⁴¹ Angehörige der Stoa; Zenon von Kition gründete diese philosophische Strömung um 300 v. Chr. in Athen.

    ⁴² Lat. Ernteferien.

    ⁴³ Lat.: »Lebe wohl.«

    ⁴⁴ Röm. Mythologie und Religion: Schutzgötter der Vorräte.

    LOMO

    Nach dem Besuch der Philosophen, als Vater behauptet hatte, wir seien nach Telephassa geritten, hatten Myia und ich ihm ständig in den Ohren gelegen, dass wir tatsächlich einmal ohne ihn dort einkaufen wollten. Er besaß keine Geduld, sich die Auslagen in Ruhe anzusehen, immer trieb er uns zur Eile an. Endlich stimmte er zu unserer Erleichterung zu. Vielleicht, weil er uns in Anbetracht des bevorstehenden Aufbruchs in die Ferne schon jetzt mehr Verantwortung übertragen wollte.

    Es war ein warmer Tag im Frühsommer. Der Vollmond der Titania lag bereits zwei Tage zurück, somit stand der Besuch auf dem Forum wie üblich bevor. Vater benötigte mehrere Seile und einige Ellen festgewebten Tuchs, außerdem mussten ein paar wichtige Werkzeuge zur Reparatur gebracht werden. Nach einer Reihe von Ermahnungen zur Vorsicht und Höflichkeit entließ er uns.

    Myias Wangen brannten vor Eifer, als wir die Pferde über die Serpentinen an ihren Zügeln ins Tal führten. Ich war stolz darauf, dass Vater mir den kleinen Beutel mit Münzen anvertraut hatte. Im Tal angekommen, stiegen wir auf die Pferde und folgten dem Uferweg flussabwärts.

    Wie immer faszinierte mich das bunte Treiben in dem überschaubaren Oppidum. Die Besucher des Marktes sammelten sich um die zahlreichen Stände und versuchten, um den besten Preis zu feilschen. Es roch nach gebratenem Gemüse, Knoblauch und frisch gebackenen Fladenbroten. Als wir unsere Besorgungen erledigt hatten, schlenderten Myia und ich zwischen den Ständen umher und betrachteten neugierig die Auslagen. Bei einem Händler, der Spiegel verkaufte, blieben wir stehen. Es war mein langgehegter Traum einen neuen zu erstehen. Allerdings war die geforderte Summe selbst für den kleinsten Handspiegel viel zu hoch, als dass ich ihn mit dem Restgeld aus Vaters Beutel hätte bezahlen können. Am Nachbarstand wurden unterschiedliche Instrumente feilgeboten. Ich erlaubte Myia nicht, die Lyra zu berühren, die sie eine halbe Ewigkeit anstarrte, sonst hätte sie sich vermutlich nie wieder davon trennen können.

    Empört über meinen strengen Ton rannte sie weg. Auf der anderen Seite des Platzes setzte sie sich auf einen Stein, um mit düsterem Gesicht vor sich hin zu brüten. Ich seufzte und warf noch einmal einen Blick auf das Instrument, erkundigte mich nach dem Preis und beschloss, später mit Vater darüber zu sprechen. Bevor mir jedoch der Händler die Summe nennen konnte, wurde ich abgelenkt. Ich beobachtete, wie Myia von einem Fremden angesprochen wurde. Der Mann war ganz in Schwarz gekleidet und hatte die Kapuze seines Umhangs tief ins Gesicht gezogen. Merkwürdig bei dem Wetter, dachte ich alarmiert. So schnell ich konnte, überquerte ich den belebten Platz, doch Myia war schon aufgestanden, um den Mann zu begleiten.

    Was dachte sich meine Schwester eigentlich? War sie sich denn gar keiner Gefahr bewusst? Ich rannte hinter den beiden her. »Myia!«, schrie ich. »Bleib hier!«

    Für einen Moment verlor ich sie in dem Getümmel aus den Augen, dann aber entdeckte ich die schwarze Kapuze an der seitlichen Häuserwand, als sie gerade in eine Gasse abbog. Myia folgte weiterhin dem Mann. Die beiden bewegten sich in Richtung Fluss. Panik stieg in mir auf. Wer war der Fremde, und was wollte er mit meiner Schwester? Der Kapuzenmann drehte sich verstohlen um; Myia ging an seiner Seite. Ich nahm die Beine in die Hand. Inzwischen waren die Geräusche des Marktes verschwunden, es wurde still um mich herum. Die Gasse vor mir war leer. Ich schrie erneut den Namen meiner Schwester und sah mich panisch um. Sie musste doch irgendwo sein! Die beiden waren wie vom Erdboden verschluckt.

    Ich ging noch ein paar Schritte weiter, da wurde ich von hinten gepackt und in einen Hauseingang gezerrt. Als ich mich wehrte und zu schreien begann, legte sich eine Hand auf meinen Mund. Was war hier los? War das ein Überfall? Ich zog den Beutel mit dem Geld hervor und warf ihn vor mir auf den Boden. Doch der Griff lockerte sich nicht. Ängstlich hielt ich still. Plötzlich begann sich meine Umgebung zu drehen, und ich sackte in mich zusammen. Das Letzte was ich registrierte, war das auf mich zukommende Pflaster.

    Undeutlich drang ein mir fremder Dialekt an mein Ohr: »Wach auf, Mädchen! Komm schon!«

    Ich blinzelte und bemerkte überrascht, dass ich noch auf dem Boden lag.

    »Hypatia, wach auf!«, hörte ich die Stimme meiner Schwester.

    Was war hier los? Mühsam versuchte ich, auf die Beine zu kommen. Doch mir wurde gleich wieder schwarz vor Augen, also blieb ich liegen und konzentrierte mich auf meinen Atem.

    »Entschuldige bitte,« flüsterte der Mann im schwarzen Umhang, der sich nun über mich beugte. Die Kapuze war zurückgeschoben, ein von dunklen Locken umrahmtes Gesicht mit Vollbart tauchte vor mir auf.

    Die Nase war nicht ganz gerade. Kam das von einer Schlägerei? War das ein Raufbold? Sein Blick war jedoch freundlich, und der Fremde schien aufrichtig an meinem Wohlergehen interessiert zu sein. Vielleicht war er in Vaters Alter oder sogar jünger?

    »Mach ihr keine Angst!«, mischte sich meine Schwester ein. »Du wolltest mir doch nur etwas zeigen.«

    »Sei versichert, ich will euch nichts Böses«, versprach er in sanften Ton. »Mein Name ist Lomo.«

    Meine Panik ebbte langsam ab. Auf den zweiten Blick sah er nett aus und hatte einen lustigen Namen. Vielleicht hatte er wirklich nichts Schlechtes im Sinn. Seine Art, die Worte zu betonen, klang jedoch sonderbar. Ich setzte mich vorsichtig auf. Myia hatte Vaters Beutel mit den eingesammelten Münzen aufgehoben und mir zurückgegeben.

    »Wer bist du wirklich, Lomo? Kein Lyra-Händler, oder?«, fragte Myia, eine Spur herausfordernd.

    »Nein«, gab er lächelnd zu.

    Jetzt ahnte ich, warum sie diesem Mann gefolgt war. Ich warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Wie sollte ich auf meine Schwester achten, wenn sie einfach einem dahergelaufenen Fremden folgte, der ihr das Blaue vom Himmel versprach?

    »Was willst du von uns?«, wandte ich mich an Lomo.

    Er sah sich um. »Ich möchte euch etwas geben«, flüsterte er. »Für die kommende Reise. Zu eurem eigenen Schutz.«

    Ich verstand gar nichts mehr, auch auf Myias Gesicht spiegelte sich völlige Verwirrung. »Nein, wir machen keine Reise!«, entgegnete sie.

    »Doch!«, erwiderte Lomo mit Nachdruck. »Ins Megaron!«

    Ich erschrak. Woher wusste er davon?

    »Haltet die Augen offen, man kann nie wissen«, flüsterte er.

    »Wer sollte uns denn etwas antun? Du vielleicht! Du hast mir gerade den größten Schreck meines Lebens eingejagt,« erinnerte ich ihn mit einer jetzt in mir aufflammenden Wut.

    Da zog der Mann mit der schiefen Nase einen glänzenden Gegenstand unter seinem Umhang hervor. Ich zuckte zusammen, und prompt brach meine kurz zuvor erlangte innere Stärke wieder in sich zusammen. Auch Myia schnappte hörbar nach Luft, als sie sah, dass Lomo eine blank polierte Klinge in der Hand trug. »Keine Angst, ich werde euch wirklich nichts tun«, versprach er und hielt uns die Waffe hin, damit wir sie betrachten konnten. »Dieses Gladius⁴⁵ ist für euch bestimmt. Nehmt es.«

    Myias Mund stand offen. Ich erlangte vor ihr meine Fassung wieder. »Was sollen wir damit tun? Nur Servatoren dürfen Waffen tragen. Du musst uns mit jemandem verwechseln, Lomo.«

    »Sicherlich nicht. Ihr seid Hypatia und Myia, das weiß ich. Nehmt das Schwert! Bitte!«

    »Wer bitte hat dich denn damit beauftragt, uns zu schützen?«, bohrte ich nach. »Wir haben keine Feinde. Das musst du uns glauben!« Lomo blickte uns entschuldigend in die Augen, als er antwortete: »Ich darf euch nichts Genaues berichten. Vertraut mir trotzdem! Es ist wirklich nur zu eurem Schutz. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, sozusagen.«

    Ich war mir unsicher.

    Lomo wusste, wer wir waren und wohin wir wollten. Schon das allein war merkwürdig genug. Aber warum blieb er uns die Erklärung dafür schuldig?

    Außerdem war es ein ernster Verstoß gegen das CORDI-SCHE Gesetz, als Bauernkind ein Schwert zu besitzen.

    Myia unterbrach meine Überlegungen. »Warum sollten wir von einem wildfremden Mann eine Waffe annehmen?«, fragte sie aufgeregt. »Eine Lyra, nun gut, da könnten wir drüber reden. Aber doch kein Gladius!«

    Lomo schüttelte den Kopf, er würde uns nicht mehr verraten. Aber ich spürte, dass er es gut mit uns meinte. Meine Neugierde besiegte die Angst. Obwohl mir die Sache nicht geheuer war, ergriff ich das Schwert. Es war schwerer als gedacht und ich hatte Mühe die Waffe vollständig in meinen Umhang einzuwickeln.

    Sichtlich erleichtert zog sich der Fremde wieder die Kapuze über.

    »Also gut, Lomo. Wir nehmen es. Damit haben wir deinen Wunsch erfüllt«, stellte ich sachlich fest.

    »Nicht vergessen! Nehmt es mit ins Megaron,« flüsterte er uns zum Abschied zu und verschwand daraufhin in den Gassen.

    Ich klemmte mir das unförmige Packet unter den Arm und eilte mit Myia zum Markt zurück. Als wir den quadratischen Platz erreichten, beschleunigte sich wieder mein Herzschlag. Das Gewicht der Waffe erinnerte mich daran, dass ich mir dieses seltsame Treffen nicht eingebildet hatte. Nervös achtete ich darauf, dass die Waffe vollständig bedeckt war. Während wir uns den Weg durch das Getümmel bahnten, um unsere Pferde aus den Stallungen zu holen, wurde überall gedrängelt, geschrien und geschubst. Mit Myia an der Hand fürchtete ich, das Schwert im Gewühl fallen zu lassen, aber ich wollte meine Schwester nicht noch einmal verlieren. Endlich erreichten wir die Ställe und verteilten erleichtert das Gepäck auf unsere Pferde.

    »Wer könnte uns bedrohen?«, fragte ich meine Schwester unsicher, als wir das Oppidum hinter uns gelassen hatten.

    Ahnungslos zuckte sie mit den Schultern.

    Auch ich wollte nicht länger darüber nachdenken. »Zumindest sind wir heil davongekommen. Aber kein Wort zu Vater.« Myia nickte stumm.

    Nachdem wir den Endhof ohne weitere Zwischenfälle erreicht hatten, fiel mir ein großer Stein vom Herzen. Ich versteckte die Waffe des Fremden in unserem Kletterbaum. In den ersten Tagen nach dieser merkwürdigen Begegnung fragte ich mich, wo Lomo wohl herkam. Und wer ihn dazu beauftragt hatte, zwei Mädchen aus dem friedlichen Arkatal, mit einem verbotenen Schwert zu behelligen. Doch die täglichen Pflichten und das schöne Wetter lenkten mich von den Überlegungen ab, auf die ich ja sowieso keine Antwort finden konnte, so sehr ich mir den Kopf auch zerbrach. Bald hatte ich Lomo und seinen merkwürdigen Dialekt vergessen.

    Myia und ich erlebten einen heiteren und unbeschwerten Sommer. Noch bevor sich die ersten Blätter im Lauf des Herbstes verfärbten, begann die Getreideernte und damit die arbeitsreichste Zeit des Jahres. Es fiel auf, dass Vater, der zwischenzeitlich wieder ganz der Alte gewesen war, erneut seltsam still und in sich gekehrt wirkte.

    Zu dieser Zeit bestätigten uns die Jungen vom Goldtopf, dass sie auch bald das Arkatal verlassen würden, um dem CORDI-SCHEN Staat im Megaron zu dienen. Deshalb waren die Zwillinge aber nicht traurig, ganz im Gegenteil. Sie konnten es kaum erwarten, seit sie davon erfahren hatten. Ich konnte gut verstehen, weshalb sie sich darüber freuten. Endlich würden die Zwillinge ein begeisterungsfähiges Publikum haben, das ihre Kunststücke zu würdigen wusste.

    Ich war froh, dass sie mich noch nicht darauf angesprochen hatten, warum ich nicht schon zwei Jahre zuvor ins Megaron aufgebrochen war. Immerhin war ich einen Kopf größer als die Zwillinge, die im selben Jahr wie Myia geboren worden waren. Mich verunsicherte meine späte Einberufung. Sicherlich würde man mir Fragen stellen.

    Nach der Getreideernte änderte sich das Wetter schlagartig. Während der darauffolgenden Weinlese gab es kaum einen Tag, an dem es nicht regnete. Durch die herbstlichen Winde wurde es draußen ungemütlich. Die Arbeit war anstrengend, doch lenkte sie ab. Am Abend waren wir viel zu erschöpft, um über die bevorstehende Abreise nachzudenken. Irgendwann waren alle Trauben gesammelt und sämtliche Fässer gefüllt. Der für die Pacht bestimmte Anteil der Ernte lag sicher verpackt bereit und erinnerte Myia und mich daran, dass unsere Zeit bei Vater zu Ende ging.

    An unserem letzten gemeinsamen Abend auf dem Endhof saßen Myia und ich erschöpft am Küchentisch. Der Abschied rückte unwiderruflich näher. Wir wussten, bis zum nächsten Sommer würde es lange dauern.

    Mühsam versuchte ich, Myia aufzubauen. »Wir können es nicht ändern und müssen stark sein.«

    Meine Schwester wandte mir den Rücken zu und machte sich am Herd zu schaffen, als wolle sie ihre Tränen vor mir verbergen. Angespannt stellte sie fest, dass heute doch der Tag der Demeter⁴⁶ wäre und wir gleich von Quintus und seinen Söhnen Besuch bekämen. Das hatte ich ganz vergessen. Diese Abende verbrachten wir üblicherweise mit Gebäck, Traubensaft und unseren nächsten Nachbarn vom Goldtopf. Es gab trotz der widrigen Umstände einen Grund zum Feiern, die Gedanken daran halfen zumindest meiner Schwester und mir.

    Als wir in der Küche die Vorbereitungen für den Abend erledigten, erschien Vater auf der Türschwelle. Sein Gesicht war fahl, und er bat uns, Platz zu nehmen. Umständlich räusperte er sich. »Bevor Quintus und seine Söhne zum Feiern kommen, muss ich mit euch reden. Ihr verdient es, endlich die Wahrheit zu hören.«

    Er machte eine Pause, um sich zu sammeln, und begann beinahe tonlos: »Eure Mutter ist nicht tot, sie hat uns früh verlassen.«

    Ich sah, wie Myia der Mund offenstand. Wir blickten Vater ungläubig an. Nach so vielen Jahren rückte er ausgerechnet jetzt mit der Wahrheit heraus?

    »Bitte entschuldigt!«, brachte er als Nächstes hervor.

    Atemlos warteten wir auf weitere Erklärungen. Immer wieder setzte er zum Sprechen an.

    »Um das alles zu verstehen, muss ich ein wenig ausholen,« begann er endlich. »Ich muss wohl in Myias Alter gewesen sein, als mein Vater schwer erkrankte.« Seine Stimme klang brüchig. »Über Nacht übernahm ich Verantwortung und begann, auf dem Hof wie ein Erwachsener zu arbeiten. Meine Mutter pflegte ihren Ehemann bis zu seinem Tod, zwei Winter darauf. Über seinen frühen Abschied kam sie nicht hinweg und folgte ihm drei Jahre später.

    Von meinem Eintritt ins Megaron war in dieser Zeit niemals die Rede gewesen. Die Jahre vergingen, und ich bestellte die Äcker und kümmerte mich um die Reben. Niemals hatte sich einer der feinen Patrizier hierher bemüht, um nachzusehen, ob ein Jüngling die Arbeit auf dem Endhof alleine schaffen konnte. Ich lieferte ihnen auch keinen Anlass dazu, denn ich arbeitete

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