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Goldfunken: Ein Rapsblütenroman  über den Jungen und sein Spiegelbild,  seinen Schattenbruder, dessen Wolke,  und die Nonne mit dem Schwert
Goldfunken: Ein Rapsblütenroman  über den Jungen und sein Spiegelbild,  seinen Schattenbruder, dessen Wolke,  und die Nonne mit dem Schwert
Goldfunken: Ein Rapsblütenroman  über den Jungen und sein Spiegelbild,  seinen Schattenbruder, dessen Wolke,  und die Nonne mit dem Schwert
eBook1.568 Seiten22 Stunden

Goldfunken: Ein Rapsblütenroman über den Jungen und sein Spiegelbild, seinen Schattenbruder, dessen Wolke, und die Nonne mit dem Schwert

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Über dieses E-Book

Also, in der Stadt sagen die Leute, der Junge erstrahlt wie von innen heraus. Es liegt wohl an seiner Abstammung, dass Freund und Feind sich um ihn reißen und er in ein Spiel der Mächte gezwungen wird, welches Jahrhunderte alt, von vielen vernebelt ist und dessen Regeln niemand mehr wirklich kennt.
Er kann nicht einmal sich selbst vertrauen, sagen seine Helfer. Doch sie wissen nicht, dass sie seit jeher in seinen Plan verstrickt sind - ebenso wie Du.
Und dass es unweigerlich Dein Leben schon längst verändert haben wird.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum5. Nov. 2019
ISBN9783746968247
Goldfunken: Ein Rapsblütenroman  über den Jungen und sein Spiegelbild,  seinen Schattenbruder, dessen Wolke,  und die Nonne mit dem Schwert

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    Buchvorschau

    Goldfunken - Thomas Körbel

    1. Ein Morgenspaziergang

    Ein jedes Ding ist überwacht / von einer flugbereiten Güte

    wie jeder Stein und jede Blüte / und jedes kleine Kind bei Nacht.

    Rainer Maria Rilke: Das Stunden-Buch

    Eichsfeld, 16. Mai 2002

    Der Raps blühte auf den Feldern, als ob die Erde von innen heraus erleuchtet werden würde.

    Die Hügel des Eichsfelds sahen aus wie mit einem grüngelben Webeteppich bedeckt. Der Frühling hatte sich endlich durchgesetzt und seufzend zog der Winter seine Krallen ein, mit denen er in diesem Jahr den Boden, wie ein verzweifelter Liebhaber, umklammert hielt, als wolle er nicht loslassen, was er nie besessen hatte.

    Ein Mann mit kurzen, goldblonden, an den Schläfen bereits helleren Haaren stand in einem grauen Mantel auf einem Hügel in der Nähe des Bernsroder Sees und drehte sich langsam um sich selbst. Seine dunklen Augen saugten die sonnenleuchtenden Farben des Morgens ein, als ob das Leben davon abhinge.

    Seine »Familie«, wie er sie manchmal nannte, lebte hier in Bernsrode. Es war ein kleines Dorf am See, im westlichen Teil des Eichsfelds, einer mitten in Deutschland gelegenen Landschaft im Irgendwo zwischen Thüringen und Niedersachsen. Er besuchte seine Lieben zweimal jährlich, während der Rapsblüte im Mai – und im Oktober, wenn der Herbst den ersten rotgoldenen Schatten auf die Bäume legte.

    »Um frische Luft zu tanken«, verkündete er lächelnd und durchwanderte die Gegend, die nicht so bekannt war, wie sie es verdient hätte. Vielleicht wollte es niemand der Einwohner ernsthaft in Erwägung ziehen, in der beschaulichen, eigens zurechtgelegten Lebensordnung gestört zu werden, und etwas zu verändern, das diese Landschaft bekannt machen hätte können.

    Es war kalt an diesem Morgen. Der Mann genoss es sichtlich, die frische Luft in seine Lungen zu saugen. Er konnte noch kleine Wölkchen vor sich sehen, wenn er ausatmete, was er, wie ein kleiner Junge, mal mit gespitzten Lippen, mal mit großem, weit offenem Mund auch tat. Und er war froh, dass er sich einen Wollschal umgebunden hatte.

    Keine Nuance entging seinen scharfen Augen. Durch die Bäume konnte er einen kleinen Teil vom Ufer des Sees entdecken. Es war, neben seiner Familie, dieser frühmorgendliche Blick auf die blühenden Felder und den See, auf den sich der Mann jedes Mal freute, wenn er in diese von vielen für trostlos gehaltene Gegend reiste. Es rief Erinnerungen an vergangene Jahre hervor, die in ihm lebendig wurden, wenn er so in die Gegend blickte.

    Diese blühende Landschaft schenkte ihm Hoffnung.

    Sein fester Schritt brachte ihn zurück ins Dorf.

    Vor ihm auf der Wiese stand, wenige Meter nach dem Ortsschild, eine Kirche. Die Wallfahrtskirche der Gegend. In den ersten fünf Jahren seiner Besuche hatte er dieses Gebäude nicht betreten.

    Er war als Neugeborener getauft worden. Er beteiligte sich aktiv am kirchlichen Gemeindeleben seiner Stadt. Ein Frauenorden hatte seinen Sitz in seiner Heimatstadt. Viele Nonnen, einige Mönche und wenige Pfarrer waren eng mit ihm befreundet. Auf deren Wunsch hielt er religiöse Vorträge in der Pfarrgemeinde, unterrichtete die Kinder vor der Heiligen Erstkommunion und vor der Firmung.

    Doch er glaubte nicht, fühlte sich nicht als Christ, nicht als Katholik. Jedenfalls glaubte er nicht wie sie. Das Leben, so sah er das, verwehrte ihm, zu glauben. Manchmal dachte er daran, Carl Gustav Jung zu zitieren, »Ich glaube nicht, ich weiß.« Doch das hätte er nie laut ausgesprochen.

    Inzwischen jedoch ging er recht gerne auf einen kurzen Blick in die Kirche. »Vielleicht liegt das am Alter«, überlegte er, der mit neunundvierzig Jahren die Lebensmitte durchschritten hatte. »Bestimmt liegt es nicht an der Ästhetik.«

    Oft, sehr oft, war die Kirche morgens früh noch abgeschlossen.

    So blieb ihm der Anblick erspart.

    Bei seinem ersten Besuch war ihm der nüchtern eingerichtete Raum auf den Magen geschlagen. Über dem Altar hing ein Kruzifix. Im sanften Licht der närrisch bunten Fenster erinnerte ihn dieser Jesus am Kreuz an einen großen, dürren Außerirdischen aus einem Film, den er mit Anders, seinem inzwischen vierzehnjährigen Patensohn, gesehen hatte. So wenig Fleisch wie dieser magersüchtige Christus hatte in seinen Augen auch der Glaube, der hier mehr begangen als gefeiert wurde.

    Vor der Marienfigur, links neben dem Altar, war deutlich mehr Leben. Welke Blumen zerstreuten dort ihren letzten Duft im Wettstreit mit Dutzenden rußender Teelicht-Kerzen. Auf einer phallischen Säule thronte, hinter Gittern, eine aus dem 14. Jahrhundert stammende Muttergottes. Ihre linke Hand wirkte verkrüppelt. Vielleicht hatte sie vorher den toten Körper ihres Sohnes auf den Armen gehalten; doch ein in der Vergangenheit entschwundener Künstler hatte der Figur dieser Frau ein vaterloses Kind auf den Arm gesetzt. Vaterlos, wie auch die meisten der Kinder in dieser Gegend über Jahrhunderte aufwuchsen. Ob sich deshalb der christliche Glaube in dieser ehemals heidnischen Gegend durchsetzen konnte?

    Er mochte die Kirche nicht, hoffte auf deren baldige Renovierung.

    Aber eine seltsam frömmelnde Stimmung überkam ihn, wenn er vor dieser Madonna stand und er erinnerte sich wehmütig an eine alte Nonne, die ein von einem unbekannten Künstler erstelltes Ölbild genau dieser Statue in ihrem Arbeitszimmer hängen hatte – zur Erinnerung an eine begangene Sünde.

    Manchmal begegnete ihm auf seinen frühen Morgenspaziergängen ein alter Mönch. Sie kannten sich von früher, und so besuchte er den Pater, wenn er eine Woche bei seiner Familie zu Gast war. Auch an diesem Morgen traf er den Geistlichen, der gerade in seinem schwarzen Habit, mit dem Stundenbuch in der Hand, betend hinter der Kirche auftauchte.

    Der Mönch unterbrach sofort sein Gebet, als er den einsamen Spaziergänger auf der feuchten Wiese stehen sah. Er klang erfreut, erwartungsvoll. »Guten Morgen, mein … Sohn.«

    Der Mann überhörte das kurze Zögern in der Anrede. »Guten Morgen, Pater Elias«, grüßte er mit fester, angenehmer Stimme. »Sie haben heute wieder die Frühmesse?«

    Er erkundigte sich immer nach den Messen, besuchte sie jedoch nie.

    »Und wie immer, ohne dass du teilnimmst, Johannes«, bestätigte der Pater freundlich.

    Der Mann lachte kurz und höflich auf, als ob der alte Pater einen noch älteren Witz erzählt hätte. »Vor dem Frühstück nie, Pater. Das wissen Sie doch. Das ist nicht die Zeit für das letzte Abendmahl.«

    Der Mönch winkte ab und blickte dem größeren Mann kurz in die dunklen Augen.

    »Jaja, deine seltsamen Auslegungen«, winkte er ab. »Und nach dem Frühstück ist vor dem Frühstück. Und da es jeden Tag ein Frühstück gibt, wirst du nie anwesend sein, wenn ich für dich bete«, sprach er mit tadelndem Unterton.

    »Tun Sie das denn, Pater?«

    Der Alte nickte automatisch. »Schon siebenunddreißig Jahre lang, wie du genau weißt, während du nur an dein Frühstück denkst.«

    In den Jahren ihrer Freundschaft hatte Johannes in den Augen des Paters vieles getan, was er nicht für gutheißen konnte und doch oft unterstützt hatte. Pater Elias hatte seinen Oberen Gehorsam gelobt. Aber obwohl er inzwischen viel über Johannes wusste und ihm auf eine innige, herzliche Weise verbunden war, wie Menschen nur selten miteinander verbunden waren, hatte sich Pater Elias niemals davon abbringen lassen, täglich die Messe für das Seelenheil seines jungen Freundes zu lesen.

    »Nein, Pater«, widersprach Johannes lächelnd, aber mit einem Hauch von Schmerz in der Stimme, »ich denke auch an den Nachmittagskaffee. Manchmal gibt es dazu Apfelkuchen, manchmal Cognac.«

    Er grinste jetzt eher als dass Elias es noch ein Lächeln nennen hätte können.

    Der Mönch hätte nun einen tadelnden Blick aufsetzen müssen, wie früher bei den Knaben, die er unterrichtet hatte. Doch auch er musste grinsen. »Das vergisst du mir nie, oder? Deinen ersten Rausch, haha. Ich konnte doch nicht wissen, dass dir Schwester Ferdinandina bereits einen Tee mit Rum gegeben hatte. Und du hast nichts gesagt und dich nicht gewehrt, als ich dir in deinem seelenlosen Zustand den doppelten Cognac einschenkte.«

    Es folgte eine wehmütige, erinnerungsvolle Pause.

    »Ach, das bringt doch eh nichts«, winkte der Pater gespielt verärgert ab.

    »Unter welche Kategorie falle ich denn für Sie? Arme Seelen?« Johannes befand sich in Gegenwart des Geistlichen oft auf halbem Weg zwischen dem Schmerz, von dem Geistlichen als des Gebets bedürftig betrachtet zu werden und der Freude, in dem Pater einen mitsorgenden Begleiter zu sehen.

    »Noch lebst du, mein Sohn«, polterte der Mönch verärgert. »Armer Sünder, wahrscheinlich«, brummte er aber sogleich in einem deutlich versöhnlichen Ton. »Bei dieser unmoralischen Lebensweise und all den Lügen und Geheimnissen.«

    Einen Moment schwiegen beide und schauten sich in die Augen.

    Ihre tiefe Freundschaft brauchte keine Worte.

    Als in einem der Häuser am Rande der Kirchenwiese die Läden hochgezogen wurden, fuhr der Mönch mit einem Blick nach oben leiser und eindringlicher fort: »Komm, ich bin ein alter Mann und habe nicht mehr viele Jahre vor mir.« Ein verschmitzter Seitenblick folgte. »Nur der Herr weiß, wie wenig Zeit mir bleibt.«

    Johannes lachte leise. »Und Sie meinen, er könnte es Ihnen nicht sagen?«

    »Nein. Und das ist auch gut so. Lassen wir also diese Spiele«, entschied der Pater. »Es ist schön, dich zu sehen, Johannes. Wie gehen die Geschäfte?«

    »Oh, sehr gut«, berichtete der Jüngere, erleichtert über die Wendung. »Die Firma läuft nach wie vor wie von selbst. Seit wir übers Internet verschicken, wächst das Geschäft in die ganze Welt. Unser Geschäftsführer erledigt alles zur vollsten Zufriedenheit.«

    »Mode«, der Pater winkte abfällig. »Ich meinte nicht euren Tand und das hysterische Wechseln von Stoff und Stil, sondern das andere Projekt. Das Buch?«

    »Oh, das Buch? Es ist Weihnachten fertig geworden, wie geplant.«

    Der Alte seufzte beinahe schwermütig. »Willst du ihm das Buch wirklich geben, Johannes?«

    »Es kommt … – wie soll ich sagen?« Johannes legte eine kurze, bedenkliche Pause ein. »Es kommt heute zur Auslieferung«, bemerkte er schlicht.

    »Na, dann wirst du das große Werk also erneut beginnen.«

    Johannes schwieg. Zustimmend, sicher.

    »Sie werden dich steinigen«, gab der Mönch zu bedenken.

    »Vielleicht. Oder Schlimmeres. Werden sie herausfinden, was ich vorhabe? Gott weiß es«, lächelte Johannes verschmitzt. »Sie, Pater, müssen jetzt nur noch dafür beten, dass … – sagen wir es lieber säkular, hm … für die Verkaufszahlen, Pater«, umschrieb er lächelnd. »Beten Sie für die Verkaufszahlen. Ich werde Ihnen auch eine großzügige Spende zukommen lassen, damit Sie sich endlich ein richtig schönes, schnelles Auto kaufen können.«

    »Um direkt damit in den Himmel aufzufahren, meinst du wohl?«, raunzte der Pater zurück.

    Johannes lächelte den Alten an. »Gewiss, sobald es soweit ist.« Da hatte er eine Idee. »Für die Renovierung der Kirche sollte ich womöglich auch spenden.«

    »Jaja«, winkte der Mönch ab, »ich fürchte, ich komme doch eher in die Hölle, weil ich mich mit Menschen wie dir einlasse. Da helfen dir auch deine scheinheilige Frömmelei und Großzügigkeit nicht. Für die Kirche darfst du aber spenden. Die hat es nötig.« Er lächelte ein wenig bitter, ein wenig provozierend zurück. »Während deine Manipulationen dich sicher vor aller Welt in Verruf und in schlimmere Höllen als unsere bringen.«

    Johannes lächelte kalt. »Ein Verrat mehr oder weniger, Pater. Was macht das schon, wenn es dem Großen Werk dient.«

    Pater Elias fröstelte immer, wenn er ihn so sah.

    Während ihrer kleinen Unterhaltung war die Sonne höher gestiegen und blinzelte hinter den Hügeln hervor. Sie wärmte auch den Mönch.

    Die beiden schlenderten Richtung Kloster.

    Es lag, vom Dorf her betrachtet, hinter der Kirche. Ein altes Gebäude. Doch in den letzten Jahren war es von Grund auf renoviert worden. Die brüchigen Klostermauern waren schon vor Jahrzehnten von einer Rosenhecke und Efeu besiegt und schließlich abgerissen worden. Weiße Fenster, ein heller Anstrich und ein neues Dach ließen kaum einen Fremden vermuten, dass er vor einem, im 18. Jahrhundert errichteten, einfachen Klosterbau stand. Fremde verwechselten seitdem häufig das Kloster mit dem Landhotel, das auf der anderen Seite der Kirchenwiese im gleichen Baustil errichtet worden war.

    Auf dem Parkplatz waren die Fahrzeuge abgestellt, mit denen die Mönche ihrer seelsorglichen Arbeit in den umliegenden Dörfern nachgingen. »Ich sehe, Sie haben bereits einen neuen Wagen, Pater«, scherzte Johannes, und zeigte auf eine neue, dunkelblaue, viertürige Limousine, die neben dem grellroten, »Kirsche« genannten Kleinwagen parkte, mit dem Pater Elias gewöhnlich fuhr, wenn er in den Nachbargemeinden Gottesdienste zu halten hatte.

    »Nein«, entgegnete der Mönch, »ich fahre noch immer mit der Kirsche zur Kirche. Der steht hier schon seit vorgestern. Wird ein Gast vom Hotel sein«, ergänzte er brummend.

    »Sie sollten sich beschweren«, schlug sein Gesprächspartner amüsiert vor, weil er wusste, dass Pater Elias sich oft darüber beschwerte, dass die Hotelgäste auf dem Klostergelände parkten. Er blickte zum Hotel hinüber, dort lugte ein Gast bereits durchs geschlossene Fenster nach draußen, um sogleich wieder hinter dem geblümten Vorhang zu verschwinden.

    »Kommt aus deiner Heimat«, brummelte der Pater vorwurfsvoll. »Hast du die Nummer nicht gesehen?«

    »Oh«, runzelte Johannes die Stirn. »Nein. In der Tat. Ist das jemand vom Mutterhaus?«

    »Ach«, winkte der Alte ärgerlich ab. »Nein. Bei uns ist ausnahmsweise keiner. Ich sag da gar nichts mehr zu. Die Mutter intrigiert. Du weißt schon, auch gegen dich. Und unser Pater Prior macht ja doch, was er will. Am Ende hat er es noch erlaubt und ich weiß nichts davon. Mir sagt ja nie einer was. Die Jungen halten mich für altes Eisen. Und so fühle ich mich inzwischen auch, weißt du? Ein gusseiserner Schürhaken, der noch versucht einzuheizen, während um ihn herum alles kalt wird.«

    Johannes schwieg. Es war ihm, als habe er etwas übersehen.

    Vier Sekunden lang nahm er wahr, als ob die Welt um ihn herum nur schwarz-weiß wäre.

    Ein tiefer Atemzug. Sogleich schien ihm alles wieder von der goldenen Morgensonne erleuchtet. Er saugte sich mit dem Blick auf die frischen Farben ein weiteres Mal den Duft der wachsenden Natur in seine lebenshungrigen Lungen.

    »Pater, wir werden alle nicht jünger«, gab er verwirrt zu.

    Gerade als er weitergehen wollte, sah er nochmals zu dem Wagen, zum Nummernschild. Jetzt erinnerte er sich auch an das Gesicht, das eben im Hotelfenster zu sehen war. Johannes schüttelte leise den Kopf. Er wollte in Ruhe zurück nach Bernsrode spazieren, wo seine Familie lebte und die Aussicht genießen. Doch für die Aussicht war heute offenbar keine Zeit mehr. Johannes musste darüber nachdenken, was dieser Besucher hier zu suchen hatte.

    Und dann stand ihm das Frühstück bevor.

    Ariane hatte sicher bereits den Tisch gedeckt und würde nervös auf ihn warten.

    Ariane war seine Nichte.

    Das glaubten wenigstens alle.

    Und es stimmte auch. Irgendwie.

    Oben schlug die Kirchturmuhr halb sieben.

    »Ach du lieber Himmel. Schon so spät?«, rief der Pater aus. »Ich muss los.« Er öffnete die Wagentür. »Sonst gehen die alten Frauen wieder nach Hause und denken, ich hätte verschlafen.« Er blickte Johannes kurz von der Seite an. »Einmal zu spät zum Gottesdienst genügt für ein ganzes Priesterleben, meinst du nicht auch? Und es kommen ja keine Jüngeren mehr«, seufzte der Mönch. Er machte dabei eine wegwerfende Handbewegung. »Komm doch heute Vormittag noch mal vorbei«, bat er. »Du musst mir unbedingt mehr von dem Buch erzählen. Ich muss mich davon überzeugen, dass es keine Zauberei ist.« Er grinste schelmisch.

    Johannes nickte zustimmend. »Davon kann ich Sie nicht überzeugen. Aber ich besuche Sie, und erzähle noch mehr, Pater«, versprach er und deutete mit dem Zeigefinger der rechten Hand gen Himmel.

    Der Pater winkte seinem Freund noch einmal zu und kletterte stöhnend in sein Gefährt. Sofort startete er den Motor. Er kurbelte, mit sichtlicher Mühe, die Scheibe herunter und rief: »Ach ja, alles Gute noch zum Namenstag.« Mit Vollgas raste er über die Auffahrt des Parkplatzes davon.

    Johannes lachte erfreut, heute Morgen hatte er noch nicht daran gedacht, dass er am Gedenktag des Heiligen Johannes Nepomuk, heute, vor neunundvierzig Jahren getauft worden war und den Namen des Heiligen trug.

    Schmunzelnd erinnerte er sich an die Nacht seiner Taufe und hatte den heimlichen Beobachter aus dem Hotel und seine Sorgen für den Moment vergessen.

    Er sah die Szene wieder vor sich, als ob er sie selbst erlebt hätte.

    »Nun«, lächelte er in sich hinein, »ich habe sie erlebt.«

    2. Eine nächtliche Taufe

    Wir dienen dem Leben.

    Ordo Cordis Magdalenae, Regula 1.1

    Spessart, Schwesternhaus, 16. Mai 1953

    Es war Samstagabend, eine halbe Stunde vor Mitternacht.

    Ein alter, ausgezehrt wirkender Mann klopfte dreimal an die Pforte des alten Schwesternhauses in Vormwald, einem kleinen Spessartdörfchen nahe Schöllkrippen.

    Drei Nonnen lebten normalerweise in dem Haus. Die zweiundsechzigjährige Mutter Oberin war vor einigen Tagen bereits zu einem Treffen in das Mutterhaus des Ordens gefahren. Die beiden anderen waren heute Nacht hier. Das war die vierundfünfzigjährige, dickliche Kunigunde, die deshalb heimlich im Dorf auch »Schwester Kugelrunde« gerufen wurde. Sie hatte den Kindergarten unter sich. Die andere, Schwester Ferdinandina, brachte die Kleinen zur Welt und versorgte die Kranken. Sie war 1899 geboren, im gleichen Jahr wie Kunigunde, doch von der Figur her ihr genaues Gegenteil. Ferdinandina war eine hoch gewachsene, schmale Frau mit einem klaren Blick. Sie hatte im Sommer letzten Jahres beschlossen, ein neues Aufgabengebiet zu übernehmen.

    Hier.

    Es war bei den Schwestern und Brüdern des Ordens nicht unüblich, dass man auf eigenen Entschluss hin die Stellen wechselte, doch dass Ferdinandina sich ausgerechnet in diesen letzten Winkel der Welt versetzen hatte lassen, weckte allgemeine Verwunderung. Man hatte sie schon mehrmals für das Amt der Mutter Generaläbtissin vorgeschlagen, doch sie hatte schon immer ihren eigenen Kopf und wollte nicht einmal Oberin eines Konventes werden. Der Ordo Cordis Magdalenae, der Orden vom (Heiligen) Herzen Magdalenas diente dem Leben – wie es der erste Satz der Ordensregel vorgab. In dieser Gewissheit gingen die Schwestern und Brüder ihren täglichen Aufgaben nach. Die Auslegung der Regel sah seit der Gründung des Ordens vor, dass neben Gott, der das Leben ist, die Menschen gemeint seien. Daher gab es auch verheiratete Schwestern und Brüder.

    Aber wenn das Gespräch im Orden auf Ferdinandina kam, wurde daraus ein staunendes, aber vielsagendes Schweigen über ihr Verhalten. Es folgten weise Bemerkungen. »Sie hat ihre Ecken und Kanten«, hieß es von den einen. »Aber sie geht ihren Weg«, bemerkten die anderen. »Vor den Augen des Herrn«, bestätigten manche. – Und da es im Orden als müßig galt, weiter darüber nachzudenken, wandte man sich wieder dem Dienst am Leben zu.

    Nachdem der alte Mann ein paar Minuten geduldig auf ein Lebenszeichen aus dem Haus gewartet hatte und sich noch immer nichts rührte, klopfte er nochmals, lauter, ungeduldiger.

    Endlich sah er drinnen ein Kerzenlicht schimmern.

    Er hätte die Frau, die Minuten später öffnete, beinahe nicht erkannt, so sehr war er an ihr übliches Äußeres gewohnt. Gewöhnlich trug sie ihre Ordenstracht und eine Haube. Jetzt stand sie in Rock und Pullover vor ihm.

    »Schwester?«, zweifelte er nach einer Sekunde überraschten Anstarrens.

    »Jesusmariaundjoseph, Bruder Karl«, entfuhr es Schwester Ferdinandina und sie wunderte sich über die Anwesenheit des alten Knechtes, der mit dem Bauern am Rande des Dorfes in einem alten Bauernhof lebte.

    Sie war seit ihrer Versetzung im Herbst letzten Jahres bereits einige Male auf dem Bauernhof der Familie gewesen, manchmal unter einem Vorwand, aber auch um Kartoffeln und Gemüse oder auch Milch für den Konvent zu erbetteln. Denn nachdem sie Karl im letzten Herbst das erste Mal in der Spessartkirche gesehen hatte, begann sie, sich vorsichtig nach dem Bauernhof und seinen Bewohnern zu erkundigen.

    Adam von Fabritius (*1870)

    Der alte Bauer, so erfuhr sie, war kein Einheimischer. Er war zugezogen.

    An Ostern, wussten die Alten zu sagen. Noch vor dem Krieg, hörte sie.

    »Also lebt er noch nicht lange hier?«, stellte sie zufrieden und beruhigt fest.

    »Nein«, widersprach man ihr, »nicht vor dem letzten Krieg, sondern vor dem vorherigen. Ein paar Jahre vor dem großen Kometen«, hieß es.

    Es fiel ihr schwer, das zu glauben.

    »Ja, ja, doch, der Bauer ist plötzlich im Ort aufgetaucht und hat den halb verfallenen Bauernhof übernommen und wiederaufgebaut«, erinnerte sich der Pfarrer, von seinem Vorgänger gehört zu haben. »Das müsste Anfang des Jahrhunderts gewesen sein«, vermutete er. »Ich kann in den Kirchenbüchern nachschauen. Der vorherige Bewirtschafter soll kurz nach Adams Ankunft gestorben sein.«

    »Fünfzig Jahre?«, erschrak Ferdinandina. »So lange lebt er schon hier?«

    Man spekulierte im Dorf wegen des kleinen Wörtchens »von« über Adams hohe Geburt und hielt ihn für einen verarmten Adeligen.

    Allzu viel spürte man aber nicht von Armut, denn er galt als großzügig und offenherzig. Er und seine tüchtige Ehefrau, die, zu ihm passend, Eva genannt wurde, lebten bescheiden und einfach. Adam hatte seinen kleinen Hof mit ein paar Stück Vieh und ein paar Schweinen von einem älteren Verwandten übernommen, hieß es.

    »Der liegt aber nicht auf dem Friedhof«, raunte ein altes Mütterlein und Ferdinandina ahnte, was das bedeuten sollte: Er beging vermutlich Selbstmord.

    Adam habe damals seine Schwiegermutter mitgebracht, wusste die Küsterin. Sie sei eine kränkliche ältere Dame gewesen mit Namen Diana.

    »Diana?«, erkundigte sich Ferdinandina, um Fassung bemüht.

    »Ja, ein ungewöhnlicher Name, nicht wahr?«, pflichtete die Küsterin bei. »So heidnisch, nicht wahr? Sie hat nicht mehr lange gelebt. Seine Frau ist auch schon vor Jahren verstorben.«

    Ferdinandina wunderte sich, da sie keine Gräber fand. Es konnten sich doch nicht alle selbst getötet haben, so dass ihnen die geweihte Erde verwehrt bleiben musste?

    »Vielleicht«, mutmaßte Klara, die Mutter des Pfarrers, als Kunigunde und Ferdinandina mit ihr und der Dorfschullehrerin beim sonntäglichen Kaffee saßen und der Pfarrer sich bereits zu einem Mittagsschlaf niedergelegt hatte. »Vielleicht verdankt Adam es dem Räucherschinken, den er immer zu den Hochzeiten und Taufen im Dorf verschenkt hat, dass er im Dorf so hochgeachtet ist. Er ist ein feiner Herr. Auch noch im Krieg hatte er für jedes Haus zu Ostern und zu Weihnachten einen Schinken.«

    »Obwohl es nur wenige Häuser gibt«, widersprach Kunigunde, »hat er noch weniger Schweine für so viel Schinken, denke ich. Der Schinken war das Schweigegeld für die Leute aus dem Dorf. Es wusste jeder, dass er drei jüdischen Familien, zwei amerikanischen und fünf deutschen Deserteuren, drei wegen Widerstand gesuchten katholischen Priestern und zwei jungen Männern aus der Stadt, die lieber zusammenleben als in den Krieg ziehen wollten, Unterschlupfgewährt hat. Habe ich sie alle?«

    »Gab es nicht noch dieses Mädchen, das von einem Wehrmachts-Offizier schwanger war?«, erinnerte die Pfarrersmutter.

    »Stimmt«, pflichtete Kunigunde bei. »Aber es heißt, die hätte noch andere Männer gehabt.«

    »Wie soll Bauer Adam denn so viele Menschen auf dem Hof versteckt haben?«, rügte Ferdinandina solche Klatschsucht. »Das Haus ist doch viel zu klein.«

    »Die sind nach dem Krieg alle dort herausgekommen«, behauptete Kunigunde. »Ich war zur Friedensfeier im Stall eingeladen, der Pfarrer und Frau Klara auch. Auf dem Hof gibt es anscheinend einen Zugang zu den Stollen. Die Stollen, wissen Sie, Schwester, gehören nämlich zu dem alten Bergwerk. Dort wurde bis vor wenigen Jahrzehnten Kupfer, Eisen und Mangan geschürft.«

    »Die Minen«, fuchtelte die Pfarrersmutter heftig mit dem Zeigefinger, »die Minen sind von der Dorfseite her verschlossen. Die Grube Wilhelmine liegt weit weg vom Bauernhof. Mein Sohn berichtete mir, dass es einen geheimen Raum im Keller geben würde. Er war mal da unten. Da stand nur eine alte, eisenbeschlagene Eichentruhe. So eine, in der man früher einem Mädchen die Aussteuer mitgab.«

    »Wahrscheinlich schürfen sie im Geheimen weiter«, verdächtigte Kunigunde den Bauern. »Man sieht ihn nicht so oft auf den Feldern, wie es sich für einen Bauern gehört.«

    Aber die wenigen Felder, ein paar Hektar Land im Tal, hatte der Bauer Adam immer recht ordentlich bestellt. Auch einen Teil des Waldes bewirtschaftete er.

    Ungeachtet all dieser Gerüchte, die den Bauern nicht scherten, war er in den umliegenden Dörfern beliebt, weil er jedem half, der unverschuldet in Not geraten war. Es hieß auch, er würde Mensch und Vieh heilen, wenn es darauf ankäme. Man ließ ihm daher manche Merkwürdigkeit durchgehen.

    Emmanuel von Fabritius (*1903)

    Adams Sohn Emmanuel galt ebenfalls als ein edler und offenherziger Mensch, von dem alle mit Hochachtung sprachen.

    Mit ähnlichen Marotten, die man schon von seinem Vater kannte, wusste die Nachbarin. Und das seien in den Jahren vor und im Krieg viele gewesen. Er sei mit seinem Vater bei Vollmond auf den Feldern umhergegangen und habe etwas verstreut.

    Ein Nachbar schwor nach dem Sonntagsgottesdienst hinter vorgehaltener Hand, er habe Emmanuel beobachtet, wie er im Schneidersitz, still und mit geschlossenen Augen, stundenlang hinter dem Hause gesessen habe, als ob er den Bäumen lauschen würde. Das habe man bei Adam nie gesehen, meinte er.

    Seine Frau und seine Schwiegermutter schauten sich nur an und murmelten so leise, dass es der Pfarrer und die anderen Männer nicht hörten, dass es »dort« schon immer so gewesen sei. Ferdinandina hörte es.

    Der junge Bauer habe einmal ein Mädchen aus dem Dorf geschwängert, flüsterte ihr die Gastwirtin. »Awwer des will niemand mehr wisse. Und wie sie gestorwe is, davon red auch keiner mehr. Da hat einer nachgeholfe, des sache alle. Aber ich will nix gesacht ham«, sprach sie und bekreuzigte sich.

    »Ja«, erinnerte sich die Pfarrersmutter beim nächsten Sonntagskaffee. »Elisabeth hieß seine erste Frau. Sie war im Jahr vor dem Krieg erhängt im Wald aufgefunden worden. Die Polizei ging von Selbstmord aus.«

    »Ich glaube das bis heute nicht«, triumphierte Kunigunde. »Sie hatte dem jungen Bauern eine Tochter geboren, ohne ihn zu heiraten.« Sie sprach es mit Todesverachtung aus. Ein uneheliches Kind war eine Todsünde in ihren Augen, aus denen auch Neid sprach.

    »Das war im Dorf sicher nicht gerne gesehen«, vermutete Ferdinandina und blickte gedankenverloren in ihre Kaffeetasse. Als Hebamme hörte sie das oft. Manchmal ging ihr dieses Getratsche auf die Nerven. Sie gab nicht viel auf Gerüchte. Aber sie trank jeden Sonntag Kaffee im Pfarrhaus, um die Geschichten aus dem Dorf zu hören, denn sie musste alles über diese Familie und ihre Nachkommenschaft erfahren. Sie diente dem Leben. Deshalb war sie Hebamme geworden. Im Dorf lebte jedoch keine Frau, die eine Tochter Emmanuels hätte sein können. »Was wurde aus dem Kind?«

    »Sie ist ebenfalls früh schwanger geworden. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Sie ist auf und davon. Mit einem Ausländer!«, wusste Kunigunde. »Es heißt, der Alte habe sie verjagt. Ohne Aussteuer.«

    Ferdinandina runzelte nachdenklich die Stirn.

    »Die Leute sagen«, raunte Kunigunde, sich halb über den Tisch beugend, so dass ihr Busen im Kuchenteller landete, »der Bauer und sein Sohn sollen einer Sekte angehören. Aber niemand weiß nicht, welcher. Deshalb gehen die auch nie nicht zur Messe. Früher hätten die Leute auf dem Dorf die Bauern von dort oben manchmal auf dem Scheiterhaufen verbrannt, heißt es. Dann aber hat der Fürst Soldaten und später Polizisten geschickt, die für Ordnung sorgten.«

    »Eine Sekte? Bestimmt nicht. Das ist eine sehr freundliche Familie«, fügte die Lehrerin und Organistin der Gemeinde hinzu, die heute auch zu Gast war.

    Die Pfarrersmutter räusperte sich. »In der Kirche habe ich den Bauern und seinen Sohn aber noch nie gesehen.«

    »Karl«, beeilte sich Ferdinandina, »der Knecht, kommt oft zur Messe, wenn auch nicht jeden Sonntag.«

    »Er hat nach dem Krieg den Hof oft allein bewirtschaftet«, wusste Kunigunde.

    »Ja doch«, pflichtete die Pfarrersmutter nachdenklich bei. »Es hieß, Adam habe ein krankes Kind pflegen müssen. Und Emmanuel hat sich damals in der Stadt herumgetrieben. Angeblich wollte er seine Tochter suchen. Aber «

    Ferdinandina legte genauso plötzlich wie nachdenklich die Hände zum Gebet zusammen und lauschte tief in sich hinein, um sich zu erinnern.

    »Aber ich glaube, er suchte sich in Wahrheit eine neue Frau«, vermutete die Pfarrersmutter.

    »Er kehrte ohne Frau und Tochter zurück. Warum sollte auch eine aus der Stadt einen Bauern wollen?« Kunigunde verzog den Mund. »Aber er hat jetzt eine. Und er sollte sich sowas von schämen, sage ich.«

    »Ja, er ist«, fuhr die Pfarrersmutter pikiert fort, »er ist mit seinen fünfzig Jahren ja nicht mehr ganz frisch. Seit dem Sommer lebt dort jedoch ein junges Fräulein, eine Zugereiste, aus der Stadt. Eine überaus feine Dame.«

    Herdis Krählich (*1929)

    »Das vornehme Fräulein Herdis scheint sich besonders für den Bauernhof zu fein zu sein«, schimpfte Kunigunde. »Arbeiten sieht man die nie. Aber sie lustwandelt durchs Dorf«, spöttelte sie und stand auf und vollführte einen gefährlich hüftwackelnden Gang um den Tisch herum, um das junge Ding nachzuäffen.

    »Aber Schwester«, rügte Ferdinandina, die dem Gespräch hoch konzentriert gelauscht hatte, und angesichts dieser rhythmischen Massen vor Lachen den Tränen nahe, »solche Bewegungen sind unserem Habit äußerst unwürdig.«

    Sie hatte sich bereits über die junge Frau erkundigt.

    Niemand hatte etwas sagen wollen.

    Ferdinandina hatte die junge Frau auch noch nie auf dem Bauernhof, aber einmal auf der Straße gesehen. Doch Herdis hatte die Nonne gar nicht bemerkt.

    Als Bäuerin, so sah sie das auch, war Herdis in der Tat ungeeignet.

    Es war offensichtlich, was sie von dem Bauern wollte. Und so kam es auch.

    Kunigunde hatte bald zu erzählen gewusst, dass »die Neue dort oben, das junge Ding« schwanger geworden sei. »Die hat es drauf angelegt«, wusste sie im Dorf zu berichten. »Die beiden hört man nachts im halben Dorf.« Sie schien zu bedauern, dass das Schwesternhaus zu weit weg lag, um das auch zu hören.

    Schwester Ferdinandina schien nicht bereit, mit Kunigunde über das Fräulein sprechen zu wollen, sondern zog sich mit sorgenvollem Gesicht zum Gebet zurück.

    Im Advent schon sah und hörte man nichts mehr von der jungen Frau. Ferdinandina sah nur die Nachbarinnen oft in der Kirche eine Kerze anzünden, ein Gebet sprechen, oder, wenn Ferdinandina sich erkundigte, nur leise den Kopf schütteln.

    Kurz vor Ostern hieß es, die Frau sei bei der Geburt des Kindes verstorben.

    Ferdinandina war überaus traurig wegen der Toten und betete einige Tage für sie. Sie sorgte auch dafür, dass der Pfarrer ein paar Messen für die Seele der jungen Frau las. Doch zum ersten Mal in ihrem Leben bezweifelte sie, dass das einer Seele helfen könnte.

    »Emmanuel und Karl versorgen das Kind«, tadelte die Pfarrersmutter bei einem anderen Treffen. Vor wenigen Tagen erst. »Das sollte doch eine Frau übernehmen, nicht wahr? Schwester Ferdinandina, Sie sind doch hier Hebamme. Sie sollten mal nach dem Rechten sehen.«

    »Besonders jetzt, nachdem der alte Bauer gestorben ist«, ergänzte Kunigunde.

    »Was?«, erschrak Ferdinandina. »Adam ist tot?«

    Adam von Fabritius (1870-1953)

    »Ja wussten Sie das noch nicht?«, tadelte Kunigunde. »Letzte Woche haben sie ihn beerdigt. Die Wirtin hat es erzählt. 83 Jahre wurde er alt. Möge er ruhen in Frieden. Ein gesegnetes Alter. Auch wenn er ein recht Ungläubiger war.«

    Zwei Tote innerhalb eines Monats in einem Haus. Das war für die Leute im Dorf beunruhigend. Beide bekamen keine kirchliche Beerdigung, weil der Bauer und seine Familie anscheinend nicht katholisch gewesen waren. Das war in dieser Gegend sogar seltsam. Auf dem örtlichen Friedhof, neben dem Pfarrhaus, hatten aber keine anderen Beerdigungen stattgefunden.

    Ferdinandina grauste davor, nachzufragen, wo man den Mann beerdigt habe. Das nahm ihr die Pfarrersmutter ab. »Mein Sohn hat aber doch gar keine Beerdigung gehalten?«, wunderte sie sich.

    Schwester Kunigunde jedoch wusste bestens Bescheid. »Ich habe von der Wirtin gehört, dass es auf dem Grundstück eine Gruft gäbe, in der die beiden beerdigt worden seien.«

    »Eine Gruft?«, rügte Ferdinandina. »Schwester, glauben Sie nicht alles, was die Leute erzählen. Auf Bauernhöfen gibt es doch keine Gruft.« Doch ihr stellten sich bei dem Gedanken die Nackenhaare auf und sie befürchtete, Kunigunde könnte auch mit dem Gerede von der Sekte recht haben.

    Im fernen Deckenburg, im Mutterhaus des Ordens sorgte man sich natürlich ebenso wie im dortigen, katholischen Fürstenhaus um das Seelenheil der Landbevölkerung. Ferdinandina hatte einen geheimen Auftrag von Ihrer Ordensmutter bekommen. Sie sollte ursprünglich Herdis Krählich beobachten. Denn die gehörte, wie man in ihrem Orden wusste, tatsächlich einer gefährlichen Sekte an, die dem Antichristen höchstpersönlich einen Leib verschaffen wollte.

    Dem Nebelsternorden.

    Herdis hatte vor fünf Jahren bereits geboren. Zwillinge, sagten sie, ein Junge und ein Mädchen. Jetzt gab es ein weiteres Kind von ihr. War das der wahre Grund, weshalb sie von der Mutter hierhergeschickt worden war?

    »Mein Sohn hat ebenfalls von einer Gruft berichtet«, murmelte die Pfarrersmutter verlegen. Schweigend bekreuzigte sie sich. »Ach, Adam war ein feiner Mann. Er ruhe in Frieden.«

    Schwester Ferdinandina seufzte. Sie hatte den alten Bauern nicht gemocht. Sie hatte immer den Eindruck gehabt, dass er sie mit leisem Spott betrachtete. Er hatte ihr immer viel zu tief in die Augen geschaut, fand sie.

    Seinen Sohn mochte sie auch nicht. Er führte offenbar einen unkeuschen Lebenswandel.

    Und jetzt gab es auch noch ein Enkelkind.

    Karl von Fabritius (*1880)

    Vom alten Knecht Karl, der zwischen den Kriegen, »kurz bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen«, zusammen mit einem Hund dem Bauern zugelaufen war, sprachen jedoch alle voller Achtung, er sei ein bescheidener, ehrbarer Mann und ein fleißiger Arbeiter.

    Karl besuchte fast jeden Sonntag die Heilige Messe. Wenn nicht gerade Erntezeit war.

    Er grüßte die Nonne immer freundlich.

    Ferdinandina freute sich normalerweise immer, wenn sie Karl sah … wenn nicht gerade Nacht war und sie aus dem Schlaf gerissen wurde. »Jesusmariaundjoseph, Bruder Karl«, fuhr Schwester Ferdinandina den nächtlichen Besucher leise an. »In Herrgottsnamen. Es ist mitten in der Nacht. Bist du narrisch? Es ist doch niemand schwanger im Dorf!« Ein erschrockener Laut folgte. »Hast du wieder was angestellt?«

    Ihr tadelnder Unterton war nicht zu überhören.

    Doch Karl schaffte es. »Nee, Schwester, hast scho recht«, bestätigte er ihr. »Schwanger is niemand. Aber des Kind …« Er brach ab, als er einen weiteren erschrockenen Laut aus dem Mund der Nonnen vernahm.

    »Um Gottes willen, Karl. Was ist mit dem Kind?«

    Der Gefragte stand betreten da. »Du musst komme, für die Tauf. Eil dich«, drängte er und raunte ihr leise ins Ohr, bedrohlich nahe stehend. »Es geht ums Seeleheil von dem Kind. Was anneres verlang ich nit. Es soll nur niemand wisse. Also zu niemand e Wort! Nit zum Pfarrer, nit in der Beicht, nit zur Oberin, unn schon gar nit zur Kunigunde. Es muss jetzt sofort passiere. Also komm endlich.« Dabei wedelte er mit der linken Hand vor ihr herum, packte sie mit der Rechten, zog mit der Linken die Tür des Pfarrhofs ins Schloss und die Schwester mit sich fort.

    Sie errötete im Dunkeln und öffnete, nach Luft holend, den Mund. »Karl«, entrüstete sie sich, doch auch sie sprach mit gedämpfter Stimme, um Schwester Kunigunde nicht zu wecken. »Ich muss Weihwasser und Öl holen. Und das Formular.«

    »Des Formular eilt nit. Alles annere hab ich scho gericht.«

    »Aber ich habe meine Haube noch gar nicht auf.« Der Protest verhallte.

    Er zog sie indes schnellen Schrittes aus dem Ort und übers Feld, den Berg hinauf, den man hier den »Engländer« nannte. Oben angekommen, wandte er sich Richtung Wald. Die alte Spessartstraße gingen sie schweigend bergaufwärts bis zu ihrem Ende. Dort schmiegten sich eine Wirtschaft und ein paar Bauernhöfe an den einsamen Hang, nur ein Waldweg führte über den Berg tief in den Spessart. Ihr Ziel war das letzte Haus der Straße, der Bauernhof direkt am Waldrand. Als sie das Anwesen erreichten, klopfte Ferdinandina nicht nur wegen des raschen Bergauflaufens das Herz, sondern auch weil Karl auf dem ganzen Weg ihre Hand gehalten hatte.

    Sie gingen um das Wohngebäude herum und die Zufahrt zum Stall wieder ein paar Meter hinab. Dort lagen die Stallungen, unterhalb und hinter dem Wohnhaus.

    Sie betraten die alte Scheune. Weit hinten stand ein schweres eisernes Tor weit offen. Es führte in die alte Schlachtkammer, die etwa sieben bis zehn Meter tief in den Hügel hinein gegraben worden war. Den Stall hatte Schwester Ferdinandina früher schon betreten, doch diese Tür und diesen Raum sah sie zum ersten Mal.

    Es war dunkel.

    Nur eine weiße Kerze brannte, so eine große, dicke, wie in der Kirche.

    »Grüß Gott.«

    Das war vielleicht ein wenig zu freundlich, zu überrascht, fand Ferdinandina.

    Der verlegen dreinblickende, nicht mehr ganz so junge Bauer Emmanuel – Ferdinandina schätzte ihn ein weniger jünger als sich selbst – trippelte nervös umher.

    Sie hatte nicht mit ihm gerechnet, sondern vermutet, dass Karl ohne Wissen des Bauern handelte. Er hielt ein in ein Leinentuch gewickeltes Kind auf dem Arm.

    Das Kind quiekte kurz und fröhlich.

    Es war die einzige Antwort auf ihren Gruß hin.

    Die Nonne bemerkte eine verschlossene, ebenfalls metallene Falltür am Boden der Schlachtkammer. ›Ob diese Falltür nicht vielleicht doch zu einem Stollen der Grube Wilhelmine führt?‹, überlegte sie bei sich. ›Nein, sicher ist es ein Vorratsraum‹, entschied sie. ›Waren die Leute im Krieg vielleicht dort versteckt? Aber das würde doch jeder bemerkt haben. Doch wo dann?‹ Eine im Kerzenlicht glänzende Holzleiter lehnte steil an der Wand nach oben, jedoch kaum in den Keller des Wohnhauses. Lag das Wohnhaus nicht weiter nordwestlich am

    Hang? ›Das muss der Weg zur Räucherkammer sein‹, vermutete sie. Weiter hinten, bei dieser schummrigen Beleuchtung fast nur zu erahnen, erspähte sie eine weitere verschlossene Tür, ein weiterer Raum musste dort nochmals tiefer im Berg liegen. Ferdinandina wunderte sich nicht über diesen Eingang, die sicher in eine geheime Mine führte. Irgendwoher musste der Bauer seinen Wohlstand schließlich haben. Denn dieser kleine Hof, da stimmte sie dem Gerede zu, konnte nicht so viel erwirtschaften, dass es genug zu verschenken gäbe.

    Ihre Aufmerksamkeit wurde zur Pflicht gelenkt. Denn auf der abgewetzten, seit langem nicht mehr benutzten Schlachtbank stand eine Schale mit Wasser bereit. Sie hoffte, dass es Weihwasser war. Doch auf Karl war in dieser Hinsicht Verlass.

    Er war katholisch. Er hätte das Kind selbst taufen können.

    Warum musste er sie also mitten in der Nacht rufen, wenn das Kind gesund war?

    »Das ist nur eine Nottaufe«, erinnerte sie pflichtbewusst. Sie bemerkte jetzt, da sie ihn mit dem Kind sah, dass der junge Bauer schlicht und nicht mit der natürlichen Autorität des Vaters gesegnet war. Er schien auch äußerlich nicht nach seinem Vater zu kommen.

    Kein Wunder, erinnerte sie sich. Eva, Dianas Tochter, war seine Mutter.

    Ferdinandina bemühte sich, sich bei dem Gedanken an diese beiden Frauen nicht zu bekreuzigen. Weiß Gott, ob das alles mit rechten Dingen zuging. Dass diese Familie dem Nebelsternorden angehörte, klang immer glaubwürdiger.

    War nicht Diana die letzte bekannte Großmeisterin der Sekte gewesen?

    War Adam nicht über Jahrzehnte hinweg verschwunden?

    Dabei hatte er hier gelebt, nur wenige Fußstunden vor den Toren der fürstlichen Stadt.

    Wie auch Karl.

    Oder war es möglicherweise mehr als das? Arbeitete der Nebelsternorden hier schon lange verdeckt an seinem endgültigen Ziel? Sie spürte, dass sie gegen ihre Angst kämpfte. Ihre Nackenhaare stellten sich auf.

    Bruder Karl brummte: »Dass alles sei Richtichkeit hat, dafür sorch ich noch, mit dem Pfarrer, Schwester. Da brauchste kei Angst ham.« Dann, auf hochdeutsch. »Darum kümmere ich mich. Wir dienen dem Leben.« Er winkte beruhigend mit der linken Hand.

    Sie sah es, spürte die Wärme in ihrem Herzen, wie vorhin schon einmal.

    Ferdinandina seufzte, ihr Beruf war gefragt. »Wann ist das Kind denn geboren?« wollte sie wissen.

    »Am 3. April, 21 Uhr 26«, gab Karl nach einem Moment bekannt.

    »Du weißt das aber genau«, staunte Ferdinandina. Normalerweise rundete sie auf die nächste Viertelstunde, wenn sie die Geburtsurkunden ausfüllte.

    Sie wandte sich an den Bauern: »Und Sie, Herr von Fabritius, sind der Vater?«

    Der Bauer schwieg. Er wiegte weiterhin das Kind auf dem Arm.

    »Emmanuel?« Das war Karl. Er ging auf den Bauern zu und wollte ihm vorsichtig das Kind abnehmen. »Emmanuel!«, drängender. »Es muss sein!«

    Der Angesprochene reagierte noch immer nicht. Er ging weiter im Kreis, drehte sich weg und blickte auf den Tisch, auf dem die Kerze unruhig flackerte. »Ich halte ihn«, verkündete er schließlich, keinen Widerspruch duldend. Entschlossen ging er die paar Schritte zur Schlachtbank, damit die Taufe vollzogen werden konnte.

    Ferdinandina stand nur da.

    Abwartend, wie er meinte.

    Doch sie war entsetzt. »Wer ist … entschuldigen Sie bitte. Wer war die Mutter?« wollte sie wissen. Sie hoffte, mehr über die Hintergründe dieser nächtlichen Taufe zu erfahren.

    »Die is zum Teufel gegange«, warf Karl von der Seite ein.

    Er fing sich dafür einen scharfen Blick des Bauern ein.

    Ferdinandina entging nicht, dass Karl, wie als Antwort darauf, mit den Schultern zuckte. Und sie erschrak einmal mehr.

    Die arme Herdis. Ferdinandina biss sich vor Trauer auf die Lippen.

    »Die Mutter des Kindes gibt es nicht mehr. Schreiben Sie doch ›Mutter unbekannt‹ in ihr Formular oder wo auch immer sie das zu dokumentieren haben«, schlug er vor.

    Die Schwester stand vor dem Bauern wie gelähmt, den Mund halb offen. Dass der Vater unbekannt war, hatte sie schon öfter erlebt, besonders in der Stadt, in der sie vorher gelebt hatte. Auch auf dem Land war so etwas schon vorgekommen. Die Worte »Mutter unbekannt« hatte sie jedoch noch nie verwendet, von den Findelkindern abgesehen. Die Frau hatte aber seit Monaten im Hause gelebt, war im Ort gesehen worden und war hier verstorben. ›Die Gruft!‹, schoss es Ferdinandina plötzlich durch den Kopf und sie blickte zur Falltür. Kunigunde könnte recht haben. Ferdinandina grauste noch heftiger. War Herdis hier unten beerdigt worden? Sollte das Kind womöglich auf einem Friedhof getauft werden? Sie schaute fragend zu Karl, fast ängstlich.

    »Machen Sie den Mund zu, Schwester«, hörte sie Bauer Emmanuel von der Seite. »Sie erinnern sich nicht mehr an mich?«

    Ferdinandina fiel es erst jetzt auf, dass sie mit offenem Mund dagestanden hatte.

    Sie schloss ihn, wie auf Befehl. »Nein. Sollte ich?«

    Der Bauer brummte wieder, aber amüsiert. »Vor sechs Jahren haben Sie mir Kuchen spendiert. Dieses Mädchen, Laima, brachte mich zu Ihnen ins Pfarrhaus. Ich bin der Mann, der seine Tochter suchte.«

    »Laima?« Laima war Herdis Schwester gewesen. War das hier ein Zufall? Sicher nicht. Laima musste Herdis verraten haben, wo die Familie lebte. »Ach Gott, natürlich. Ich erinnere mich. Haben Sie Ihre Tochter gefunden?«

    »Nein.«

    »Ach, dann sind Sie der Vater des Kindes?«, seufzte sie plötzlich und stützte sich an einer Wand ab. Es wurde ihr schwindelig. Kam das vom Alter, vom schnellen Bergauflaufen, lag es am fehlenden Schlaf, war es die schlechte Luft im Raum oder Karls Gegenwart? Nein, das war zu viel an Zufall, um noch ein solcher zu sein.

    »Natürlich«, gab Emmanuel verwundert zurück und hielt das Bündel in seinen Armen hoch.

    »Ferdinandina?«, sorgte sich Karl.

    Sie hob Einhalt gebietend die Hand. Es ist alles in Ordnung, sollte das heißen.

    Karl verstand es auch so.

    Nur der Bauer nicht. »Können wir endlich mit dieser Aktion anfangen, bevor ich es mir anders überlege?«

    Ferdinandina fing sich wieder – obwohl nichts in Ordnung war. Die Sekte. Dieser Nebelsternorden mit seinem Zeugungsplan. War Emmanuel verraten worden? War mehr zu retten als nur dieses Kind? Das Seelenheil einer Familie und einen veränderten Lauf der Welt, vielleicht?

    »Diese Aktion, wie Sie das nennen, ist die Heilige Taufe. Von Gott gedacht zur …«

    Emmanuel unterbrach sie nochmals. »Ist das gültig, wenn Sie Ihren Kopfschmuck nicht tragen?«

    Ferdinandina nickte. Schnippisch. Fand sie.

    Er fand das auch und verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln.

    Das erinnerte Ferdinandina an seinen Vater. Sie fühlte sich verunsichert.

    Bei Nottaufen, die es bei der armen Bevölkerung auf dem Land häufiger gab, war sie es gewohnt, die entsprechenden Gebete zu sprechen. Doch das hier war anders. Sie wusste noch nicht einmal, ob da ein Junge oder ein Mädchen auf den Armen des Bauers lag. Sie musste nachfragen.

    »Ein Junge«, er schien gereizter, sichtlich ungeduldig.

    »Und wie soll der Junge denn heißen?«, fragte sie spitz zurück.

    Das brachte den Bauern scheinbar aus der Fassung.

    Hilflos blickte er sie an, Karl und wieder die Nonne.

    Schweigen.

    »Darüber ham wir noch gar nit nachdenke könne, Schwester«, versuchte Karl die entstandene Stille zu erklären. »Es war e bissje viel die letzte Zeit.«

    Hörte sie da ein unsicheres Zittern in Karls Stimme? Sie schüttelte verständnislos den Kopf. Nein, Karl würde sie niemals anlügen.

    Was war es? Ein Test?

    »Das Kind ist sechs Wochen alt und ihr habt noch nicht einmal einen Namen?« Sie hatte wieder Oberwasser und war froh, um die feine Ausbildung, die sie im Mutterhaus genossen hatte. »Heute ist der Gedenktag des Heiligen Johannes Nepomuk«, bedeutete sie schlagfertig. »Also, nennen wir ihn Johannes?«, schlug sie vor.

    Es war ihr zweiter Name, Johanna. Aber sie war auch eine große Verehrerin des Heiligen.

    »Einverstanden«, sinnierte Emmanuel. »Das ist ein passender Name.« Deutlich weniger brummig, und mehr vor sich hinsprechend, ergänzte er: »Jochanan. Gott ist gnädig. Das ist sein Name.«

    »Sie können hebräisch?«, wunderte Ferdinandina sich.

    Mit überraschender Entschlossenheit, ohne auf ihre Frage einzugehen, schob er nach. »Als zweiten Vornamen will ich ›Adam‹, weil er ein Mensch werden soll.«

    Ferdinandina hob fragend die Augenbrauen. Adam hieß im Hebräischen ›Mensch‹.

    Was war das wieder für eine rätselhafte Äußerung? Wenn dieser Junge die Frucht dieser Sekte war, war er der menschgewordene Glanz, der Antichrist, der hier Mensch werden sollte? Panik war nicht angebracht. Aber sie war nahe dran.

    »Er heißt wie mein Vater«, fügte der Bauer entschuldigend hinzu.

    Sie nickte, plötzlich schuldbewusst und verständnisvoll. Natürlich. Beinahe hatte sie den alten Bauern schon vergessen, dabei war sein Tod erst vor ungefähr zwei Wochen gewesen. »Und ein letztes noch, bevor wir mit dieser, wie nannten Sie es? Mit dieser Aktion loslegen können. Ihr Knecht ist der Pate?«

    Emmanuel bewunderte offen Ferdinandinas Selbstbeherrschung. »Nein«, lächelte er das erste Mal fröhlich und blickte sie aus dunklen Augen belustigt an.

    Sie fand plötzlich, er sah seinem Vater doch ähnlich.

    Es waren die Augen. Und der Blick.

    Sie wurde unsicher.

    »Ich leb nit lang genug dafür«, murmelte der dreiundsiebzigjährige Karl amüsiert.

    »Aber wer …?«, begann Ferdinandina ratlos.

    »Sie!« sprach Emmanuel, plötzlich als der Herr Bauer. »Sie sind die Patin. Wir haben unsere Gründe, Schwester«, fügte er leise hinzu.

    Und, als ob das als Erklärung genügte, wechselte er das Kind auf den anderen Arm.

    Der Junge schien jedem Wort wachsam zu lauschen.

    Doch da war Emmanuel bei Ferdinandina an der falschen Stelle. Sie war nicht in den Orden eingetreten, um sich von Männern bestimmen zu lassen. Sie ließ sich nicht einmal von den Oberen ihres Ordens bestimmen. Nicht einmal von der Mutter.

    »Ich?«, entgeisterte sie sich. »Das kommt nicht in Frage. Denn schauen Sie, es geht nicht.« Sie versuchte die beiden Männer mit dem Argument zu überzeugen, dass sie als Nonne jederzeit versetzt werden könne. Außerdem würde es die Mutter Oberin nicht erlauben, dass sie Patin eines Kindes sei, noch weniger eines Kindes, mit dem sie nicht nachweislich verwandt sei. – An die zweifelhafte Herkunft des Kindes und seine ungewisse Zukunft wollte sie erst gar nicht denken.

    Der Bauer sah sie mit seinen undurchdringlichen, spöttischen Augen an.

    Sie atmete tief ein und fuhr eindringlicher, aber auch deutlich nervöser fort, sie habe kein Eigentum, mit dem sie das Kind versorgen könne, wenn es denn einmal nötig wäre. Man habe als Pate schließlich im Ernstfall gewisse Pflichten. Ordensfrauen hätten ein Armutsgelübde abgelegt.

    Emmanuel winkte mit der linken Hand ab.

    Es war eine ihr allzu bekannte Geste. Konnte das sein?

    Nach einem erschrockenen Seufzer, bei dem sie sich mit der Hand ans Herz greifen musste und wieder erbleichte, wagte sie es erneut. Karl müsste doch wissen, dass sie nicht nur aus den genannten Gründen niemals Patin werden könne. Ihre Hand lag noch immer wie bei einem Schwur auf dem Herzen, als sie wider besseres Wissen ihre Entscheidung mit nur noch schwachem Widerstand bekanntgab. »Nein.«

    »Karl?« Emmanuel war leicht ungeduldig.

    »Ich kümmere mich darum.« Karl schien hingegen die Geduld in Person.

    »Wie willst du …?« fing Ferdinandina an und brach unvermittelt ab. Sie hatte für einen weiteren Moment vergessen, dass sie der Ordensmutter versprochen hatte, weitere öffentliche Vertraulichkeiten mit Karl zu vermeiden.

    Aber andererseits duzte hier im Dorf jeder den Knecht.

    Der Bauer wandte sich an sie. »Karl kümmert sich, wie er gesagt hat. Machen Sie sich also keine Sorgen.« Er schaute sie kurz scharf an.

    Schon wieder amüsiert? Oder spöttisch? Sie senkte nervös den Blick.

    Emmanuel setzte ihr seine Erwartung vor: »Soweit ich weiß, habt ihr beide ausreichend Erfahrungen damit, wie man sich um solche Angelegenheiten kümmert.«

    Die Nonne japste nach Luft. Hatte Karl sie bloßgestellt? Sie erbleichte kurz, und errötete danach umso heftiger.

    »Schwester Ferdinandina«, entschied Emmanuel. »Ich bitte Sie, die Taufpatin meines Sohnes Johannes Adam von Fabritius zu werden.«

    »Wir dienen dem Leben.« Karl legte die Hände zum Gebet zusammen. »Ich taufe das Kind, und du bist die Patin.«

    Doch noch immer zögerte sie.

    Karl hatte zwar nach der Geste die Grundregel ihres Ordens ausgesprochen. »Wir dienen dem Leben«, bedeutete, der Orden dient auf eine eigene Weise dem, der von sich sagte, er sei der Weg, die Wahrheit und das Leben. Mit der entsprechenden Geste bedeutete diese Aussage normalerweise, dass ein Angehöriger des Ordens sofortigen, unbedingten und stillschweigenden Gehorsam gegenüber der Führung zu leisten hatte – wäre Karl einer ihrer Oberen, wäre Ferdinandina dazu verpflichtet. Und da Ferdinandina dies gelobt hatte, als sie in den Orden ging, und da sie dieses Gelübde lebte, schwieg sie reflexartig. Sie fühlte die Wahrheit in diesen Worten, und so waren sie ihr Befehl.

    Seltsam genug, dass zuvor der Bauer das gleiche befohlen haben mochte und dass sie widerstehen konnte – und vor allem wollte.

    »Das ist Ihre Aufgabe hier, Schwester. Sie müssen die Patin meines Sohnes werden«, meinte Emmanuel, versöhnlicher, doch noch immer duldete seine Stimme keinen Widerspruch und er blickte sie jetzt mit klaren Augen an, in denen nichts mehr von Spott zu sehen war, sondern ein goldenes Funkeln, das eine seltsame Tiefe in seine Augen zauberte.

    »Nach der Taufe«, fuhr der Bauer ungerührt, doch wesentlich sanfter fort, »nach der Taufe sind Sie, Schwester Ferdinandina, für mein Kind verantwortlich, falls mir etwas geschehen sollte. Das kann bald geschehen. Es ist mein letzter Wille. Für sein materielles Wohl ist gesorgt. Kümmern Sie sich also um sein Seelenheil, oder wie Sie das nennen. Und verderben Sie ihn mir bitte nicht mit ihrem Kirchenkram.«

    Es war ihr klar, dass ab nun kein Widerspruch mehr geduldet wurde, und auch nicht mehr möglich war. Aber so leicht wollte sie sich nicht geschlagen geben. »Wenn ich diese Pflicht annehme, muss ich das Seelenheil des Kindes im Auge behalten und für seine christliche Erziehung sorgen«, erklärte sie geistesgegenwärtig. »Daher stelle ich die Bedingung, dass ich alles erfahren muss, was den Jungen und seine Herkunft betrifft, also auch über die angeblich unbekannte Mutter, die hier durchs Dorf spazierte und deren Namen mir bekannt ist. Und natürlich möchte ich den Grund für diese nächtliche Geheimniskrämerei kennen. Ich will wissen, wie Sie mit Ihrem kleinen Hof für das materielle Wohl des Jungen sorgen wollen. Eine anständige Ausbildung kostet Geld, auch wenn er nur Bauer werden soll.«

    Der Vater des Jungen zögerte.

    Karl schwieg, als ob er einer fernen Melodie lauschte.

    »Johannes Nepomuk«, schob Ferdinandina wesentlich selbstsicherer nach, »ist der Schutzheilige des Beichtgeheimnisses und der Verschwiegenheit. Er hat nichts, was ihm anvertraut wurde, preisgegeben. Er ging lieber dafür in den Tod.«

    »Der Brückenheilige, ja«, murmelte Emmanuel nachdenklich.

    Grinste er dabei nicht schon wieder spöttisch?

    »Einverstanden.«

    Er stimmte plötzlich, fast barsch, aber deutlich erleichtert ihren Bedingungen zu, so dass sie überrumpelt war. Dabei blickte er Ferdinandina mit Hochachtung an.

    Wieder errötete sie. Glücklicherweise konnte das bei dieser Beleuchtung niemand bemerken, hoffte sie froh und auch verwundert, dass sie über die merkwürdigen Geschehnisse auf diesem Hof aufgeklärt werden würde. Damit hatte sie nicht gerechnet.

    Aber sie war fest entschlossen. Adams Enkel würde katholisch und in der Spiritualität ihres Ordens erzogen werden. Das war ihre Aufgabe als Patin. Sie würde ihn mit ihrem Leben vor dieser seltsamen Familie beschützen, der er seine Geburt verdankte und vor diesem abergläubischen Treiben ebenso. ›Gebe Gott‹, betete sie in Gedanken, ›dass ich alt genug werde, um auch seine Kinder noch zu sehen und zu beschützen. Dazu segne mich Gott. Amen.‹

    Die Taufe des Kindes verlief würdig, wie es sich für eine katholische Taufe gehörte.

    3. Der Raps blüht

    In Dankbarkeit und Erinnerung.

    Adam von Fabritius, *1879 + 1953/1960

    Inschrift unter der Büste des Stifters, Deckenburger Waisenhaus (erbaut 1974)

    Eichsfeld, Haus Jacobson, 16. Mai 2002

    Das Haus, vor dem der Mann stehen blieb, um noch einmal auf die blühenden Rapsfelder ringsum zu schauen und den Blick zum See zu genießen, hatten Daniel und Ariane auf seinen Rat und mit seinem Geld hier auf einem Hügel in der Nähe des Sees gebaut. Grundstückspreise und Baukosten waren hier im südlichen Niedersachsen deutlich geringer als in seiner Heimatstadt. Das Haus war weiträumig, beinahe ausschweifend groß erbaut worden. Es hatte einen herrlichen Ausblick. Es bot dank des Gästeappartements eine günstige Gelegenheit für einen erholsamen Besuch.

    Der Mann war aber nicht zur Erholung hier.

    Sondern wegen dieser Familie. Seiner Familie.

    Anders Jacobson (*1988)

    Anders Jacobson stand im Badezimmer und betrachtete sein Gesicht. Er hatte sich rasiert, gerade Gel in die Haare gerieben und fragte sich, ob es genug sei, um der Frisur den richtigen Halt zu geben. Da hörte er klackende Schritte draußen.

    Seine Mutter kam von der Küche. Sie schlitterte mehr als dass sie lief in ihren spitzen Schuhen über den glatten Parkettboden, den breiten, hellen Flur entlang zum Badezimmer des Hauses, dritte Tür links. Vermutlich könnte sie sich bei dieser Hetze irgendwann den Hals brechen. Gleich würde sie nervös an die Türe klopfen.

    Anders seufzte in vorauseilendem Gehorsam.

    Daniel war gegen Parkett im Flur gewesen und hatte Marmorfliesen gewollt. Die wären bei diesem nervösen Tempo ebenso gefährlich. Fand Anders.

    Ariane zappelte vor Unruhe. Sie war morgens immer nervös. Sie hatte heute sogar allen Grund dazu. Der Onkel war heute schließlich zu Besuch.

    Außerdem hatte Anders Geburtstag. Vierzehn Jahre wurde er.

    Sie klopfte. Nervös. Fünfmal.

    Anders lächelte grimmig und griff seelenruhig nach dem Aftershave.

    »Anders? Das Frühstück ist fertig und du musst zur Schule«, hörte er sie durch die geschlossene Tür rufen.

    Ariane sah entsetzt, wie Dampfschwaden aus dem Türrahmen quollen.

    Dass der Junge morgens aber auch immer so lange im Bad brauchte.

    Sie trug heute eine weiße Bluse unter ihrem weinroten Blazer, der zu ihren langen, glatten, dunkelbraunen Haaren passte. (Sie tönt sie seit zwei Jahren heimlich, weil sie ein erstes graues Haar entdeckt hatte, aber das weiß nur Karina, ihre beste Freundin.) Ihre langen Beine steckten in farblich auf den Blazer abgestimmten Schuhen und verschwanden unter einem modisch kurzen, schwarzen Rock. Im Laden trug sie Elegantes; sie mochte es nicht, wenn Geschäftsfrauen oder Politikerinnen in Anzügen herumliefen, als ob sie Männer wären. Ariane hatte mit ihren zweiunddreißig Jahren und trotz ihrer beiden Schwangerschaften noch immer die passende Figur, um in die feinen Stoffe und Kombinationen bekannter Modeschöpfer zu schlüpfen, und da es ihr Einkommen erlaubte, reiste sie mit ihrer Freundin Karina ab und zu für ein Wochenende nach Frankfurt oder Düsseldorf und natürlich nach Mailand, Berlin und Paris zu den Modewochen und kaufte sich dort die Eleganz der Damen. Damit stellte Ariane sich im Kundenkontakt zur Schau wie eines der von ihr bewunderten Models. – Sie spendierte Karina auch immer etwas Neues.

    Ariane hätte es nicht nötig gehabt, zu arbeiten. Daniel, Arianes geliebter Gatte, war zwar einer der Männer, die es nie zugeben würden, im Innersten davon überzeugt zu sein, dass es die Aufgabe eines Mannes ist, seine Frau zu ernähren. Er arbeitete in einer Bank. Ariane, hätte man sie gefragt, hätte nicht zu sagen gewusst, in welcher.

    Zum Glück fragte niemand.

    Daniel hatte aber – selbstverständlich, und um nicht rückständig zu wirken – eingewilligt, dass sie sich mit finanzieller Unterstützung ihres Onkels in Göttingen mit einem kleinen, exklusiven Modegeschäft selbstständig machte. Ariane schuf sich darin ebenso wie zuhause eine friedliche, heile Welt, in der die Kriege der Welt ausgeblendet wurden. Die hohe Arbeitslosigkeit spielte für sie nur deshalb eine Rolle, weil sich die Menschen keine neue Kleidung leisten konnten.

    Wieder klopfte Ariane ungeduldig. »Hörst du, Anders? Das Frühstück ist fertig.«

    Anders zählte mit. Fünfmal. Das ergab zusammen zehn Klopfer. Er hatte noch Zeit.

    »Onkel Adam kommt gleich von seinem Spaziergang zurück«, lockte sie.

    »Also ist er noch nicht da, Anders«, flirtete Anders mit seinem Spiegelbild.

    Seine Mutter nannte ihren Onkel, ›Onkel Adam‹. Daniel nannte ihn manchmal Johannes. Warum auch immer. – Er hieß aber Johannes Adam.

    Wenn Anders einen Menschen suchte, mit dem er reden konnte, fand er weder in seiner Mutter einen Gesprächspartner – »Schatz, wie du die Welt siehst!«, warf sie ihm verwundert vor, »darüber habe ich noch nie nachgedacht. Sprich doch mit Onkel Adam, wenn er das nächste Mal zu Besuch ist, ja?« – noch in seinem Vater. – »Du solltest das Onkel Johannes erzählen, wenn er das nächste Mal zu Besuch ist.« – Sein kleiner Bruder Benjamin kam dafür von vornherein nicht in Frage. So fand Anders in dem Onkel einen besten Freund, manchmal einen Großvater oder einen älteren Bruder, mit dem er über alles reden konnte. Darüber, dass ihn seine Mutter nervte, oder wenn er von einem Fernsehfilm begeistert war, oder wenn er ein spannendes Buch gelesen hatte. – »Dein Vater und deine Mutter haben kein Interesse an den geistigen Fragen«, stellte Onkel Adam immer wieder fest, wenn Anders sich beklagte, dass er mit seinen Eltern nicht über seine Interessen und Fragen reden konnte. Dann schloss er mit den Worten: »Und ich denke, das ist gut so, mein Junge.«

    »Sie versteht das nicht«, erzählte Anders seinem Spiegelbild, da der Onkel gerade nicht da war. »Ich werde heute Vierzehn. Da will ich schließlich gut aussehen.« Ein prüfender Blick. »Und? Siehst du gut aus? Ja, ich sehe sogar richtig heiß aus.«

    Nachdem die dritte und somit gefährlich ungeduldige Klopfreihe allerdings auf sich warten ließ, trat Anders brav und in ein Handtuch gewickelt aus dem Badezimmer. »Mach dich doch nicht jeden Morgen so verrückt, Mama. Das nervt echt. Warum gehst du nicht aufs Gästekloo, wenn es dringend ist? Das ist sogar eine Tür vor dieser hier, weißt du?«

    Ariane lächelte ihn erfreut an, als ob sie ihn nicht gehört hätte. Ihr blonder Engel war frisch gestylt und duftete so stark, als ob er in Parfum gebadet hätte. Er war mit seinen 1,73 m schon fast so groß wie seine Mutter. »Puh, Junge, du legst zu dick auf«, murmelte sie. Das tat sie beinahe jeden Morgen. Sie drückte ihrem Ältesten einen Kuss auf die Wange. Das tat sie auch jeden Morgen.

    Diese Küsse wurden ihm langsam unangenehm.

    Sie bemerkte es aber nicht. »Alles Gute zum Geburtstag«, strahlte sie und drückte ihn kurz an sich, was er nur widerwillig über sich ergehen ließ.

    Also bitte! Er war noch nicht angezogen.

    Sie huschte an ihm vorbei in das einem Dampfkessel gleichende Badezimmer, um das dritte Mal an diesem Morgen zur Toilette zu gehen.

    Anders zuckte mit seinen Schultern und ging seelenruhig – er hätte es »betont cool« genannt – in sein Zimmer, um sich anzuziehen.

    »Guten Morgen«, brummte er seinen kleinen Bruder Benjamin an, als er sich zehn Minuten später in der großen Wohnküche einfand. Benjamin sah kurz hoch und nickte ihm zu. Er schien über seinem heißen Kakao schon wieder beinahe zu schlafen.

    Ein Morgen wie jeder andere.

    »Alles Gute, Sohn«, murmelte Daniel und schüttelte dem Jungen die Hand.

    Ah ja. Es war Anders Geburtstag. Etwas, das für Anders anders war als sonst.

    Auch Benjamin gratulierte daraufhin artig.

    Arianes außergewöhnlich blaue Augen strahlten, als sie nach ihrer Rückkehr in die Küche endlich ihren Onkel vor dem Haus in der Auffahrt stehen sah. »Onkel Adam, kommst du herein? Das Frühstück ist fertig«, lockte sie ihn durch das geöffnete Küchenfenster. Wie konnte er nur immer so seelenruhig dastehen? »Wir müssen bald fahren«, murmelte sie verzweifelt hinterher. Die Jungs mussten doch zur Schule. Pünktlich. Sie legte Wert auf ein gemeinsames Frühstück, weil man sich sonst den ganzen Tag nicht sah.

    Nur der Onkel hatte Zeit, er verbrachte hier seinen Urlaub. Er würde nach dem Frühstück lesen oder wieder im Wald spazieren gehen. Er würde in dem alten Jägersitz über die Welt nachdenken oder bei Pater Elias sitzen. Eine Woche lang. Als ob er gar nichts zu arbeiten hätte.

    Der Onkel aber winkte nur mit seiner linken Hand zurück, woraufhin Daniel artig aufstand, um dem Onkel Kaffee nach draußen zu bringen.

    Oft tranken die beiden draußen an der frischen Luft die erste Tasse Kaffee und genossen die wunderbare Aussicht vom Hügel auf den See, die Felder.

    Ariane seufzte heimlich. »Setz dich, Schatz, und iss dein Frühstück!«, wies sie Anders an.

    Ihr Ältester stand gedankenverloren an der Küchentüre und blickte hinaus zu den beiden Männern. »Warum müssen Mütter immer zum Offensichtlichen auffordern?« murmelte er. Genau dazu war er schließlich in die Küche gekommen.

    Doch er blieb weiter an den Türrahmen gelehnt stehen, von etwas fasziniert, was er nicht verstehen konnte und beobachtete die beiden Männer, die zehn Meter von ihm entfernt an der Straße standen und sich unterhielten.

    »Danke für den Kaffee, Daniel. Das wärmt, nach meinem Morgenspaziergang.« Der Mann, den sie Johannes und Onkel Adam nannten, nahm vorsichtig einen ersten Schluck des heißen, schwarzen Getränks.

    Daniel nickte nur kurz. Es war ihm heute Morgen eindeutig zu kühl hier draußen. Er hätte die Arme um sich geschlungen, aber in einer Hand hielt er seine eigene Kaffeetasse. »Wie sieht es aus?«

    »Der Raps blüht!«

    Daniel war noch nicht zufrieden: »Bitte heute Morgen keine mystischen oder philosophischen Bemerkungen. Es ist kalt. Wie geht es Pater Elias?«

    »Er betet«, lautete die knappe Antwort.

    »Es scheint mir das Einzige zu sein, was dich davon abbringen kann«, kommentierte Daniel und klang dabei leicht frustriert.

    »Hier ist alles bereit?« Johannes nahm die Kaffeetasse in die rechte Hand und schlug mit der linken einen weiten Bogen über die hügelige Landschaft, die sich vor ihm ausbreitete.

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