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Das Jahr des Jüngers
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eBook330 Seiten4 Stunden

Das Jahr des Jüngers

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Über dieses E-Book

Ein junger Spitzel soll sich Zugang zu einem der elitärsten Zirkel der 1930er Jahre verschaffen. Schon das ist eine schwierige Aufgabe. Noch schwieriger ist es, hinter den geheimen Plan dieses Kreises um den deutschen Dichter Stefan George zu kommen.
Eine Geschichte, die sich schillernd zwischen Krimi, Spionagethriller und historischem Roman bewegt.
SpracheDeutsch
HerausgeberScratch Verlag
Erscheinungsdatum1. Jan. 2020
ISBN9783940928252
Das Jahr des Jüngers
Autor

Hans Herrmann

Hans Herrmann (Jahrgang 1963) ist Journalist, Buchautor, Lyriker und Verfasser von Theaterstücken. Er lebt in der Schweiz.

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    Buchvorschau

    Das Jahr des Jüngers - Hans Herrmann

    Tag.

    1

    Am Rand eines lichten Pinienhains, der an eine weite, hügelige, mit Oleander- und Ginsterbüschen durchsetzte Wiese grenzte, hatte sich eine Gruppe Berittener niedergelassen. Die halb höfisch, halb jagdmäßig gekleideten Männer und die beiden einzigen Frauen in der rund zwanzigköpfigen Schar lagerten im Halbschatten am Waldrand, die edlen Pferde grasten ruhig einen Steinwurf entfernt auf der in allen Farben blühenden Wiese.

    Warm beschien die südliche Sonne dieses idyllische Stück Natur in der Nähe der Stadt Palermo, die der Kaiser zu seiner Hauptresidenz erkoren hatte. Der Himmel war blau und ging am Horizont in einen perlmutternen Dunst über. Ein Wohlgeruch von Thymian, Majoran, Oleander und den Blüten zweier verwilderter Orangenbäume erfüllte an diesem Frühlingsnachmittag im Jahr 1230 die Luft.

    Der Kaiser selbst hielt sich, den Blicken seines Gefolges entzogen, etwas abseits auf einer offenen Lichtung auf, die von niederen Bäumen halbkreisförmig umstanden war. Bei ihm befand sich nur der Falkenmeister Edelhard, der auf seinem Lederhandschuh einen stattlichen Raubvogel trug. Das Tier war mit einem Beinring und einer dünnen Kette an den Handschuh gefesselt; auf dem Kopf trug es eine Lederhaube, die ihm die Sicht verwehrte. Kaiser und Falkner suchten mit aufmerksamen Blicken den Himmel ab.

    „Da, mein Gebieter, eine Taube", rief Edelhard und deutete ruhig, innerlich aber angespannt in die Höhe.

    „Dann los!", befahl der Kaiser.

    Edelhard befreite den Falken von dessen Kappe und Fessel. Sogleich breitete der Raubvogel die Flügel aus, schwang sich kraftvoll in die Luft, orientierte sich kurz und jagte dann, ohne sich länger zu besinnen, der Taube nach. Zuerst gewann er eine Höhe, die jene der Taube um einiges übertraf, und stürzte dann wie ein gut gezielter Pfeil auf sie herab. Das Opfer hatte seinen Feind natürlich längst bemerkt und versuchte verzweifelt, ihm zu entkommen, doch gegen den gut abgerichteten Greifvogel des Kaisers gab es kein Entrinnen. Der Falke stieß seine Krallen vor und packte die Taube, die sich, sobald sie die Fänge im Rückengefieder spürte, in ihr Schicksal ergab.

    Doch der Kaiser und der Falkner stutzten.

    „Nein, das darf doch nicht wahr sein, entfuhr es Edelhard auf einmal. „Er hatte sie schon am Genick und jetzt lässt er sie los! Untauglicher Falke! Ich werde ihn das nächste Mal länger hungern lassen müssen, um ihn in richtige Jagdstimmung zu versetzen.

    In der Tat: Der Falke hatte seine Beute, obwohl sie keine Gegenwehr leistete, nach einem kurzen Augenblick des Triumphs wieder losgelassen. Zuerst sackte die Taube ab wie ein Stein, doch dann fing sie sich, breitete die Flügel aus und suchte unverletzt das Weite. Der Raubvogel jedoch zog lässig ein paar Kreise und ließ die Taube endgültig entkommen.

    „Du irrst, Edelhard, sagte der Kaiser, dessen Leidenschaft die Beizjagd war und der auf diesem Gebiet als unübertroffen galt, mit feinem Lächeln. „Der Vogel ist nicht untauglich, er ist von edelster Rasse und wahrhaft königlicher Art.

    Edelhard winkte ab. „Pah, ein Falke, der seine Beute entkommen lässt!"

    „Er hätte sie jederzeit zu uns bringen können, wie wir es von ihm erwarteten und wie er es ja schon so oft getan hat, entgegnete der Kaiser. „Dass er es diesmal nicht tat, erachte ich als Zeichen seines Stolzes und seiner Überlegenheit. Er schlug zu, zeigte seine Stärke und verzichtete dann in einer großmütigen Regung darauf, sein wehrloses Opfer zu töten. So soll ein Kaiser herrschen: Stark und kraftvoll, aber auch großzügig in den Augenblicken seines Triumphs. Der Falke gefällt mir, er soll seinen Lohn haben. Ruf ihn zurück.

    Edelhard, seinem Herrn gehorchend, ließ an einer Schnur das Federspiel über seinem Kopf in der Luft kreisen. Der Vogel erblickte das ihm vertraute Zeichen rasch und flog auf den Handschuh des Falkenmeisters zurück. Dieser fütterte ihn mit einem rohen Stück Fleisch, das er seinem großen, ledernen Jagdbeutel entnahm.

    „Und nun komm, Falkner, lass uns zu den anderen gehen und ein wenig im Schatten ruhen", sagte Kaiser Friedrich. Gemächlich schritten die beiden Männer der Gruppe entgegen, die es sich am Rand des nahen Hains gemütlich gemacht hatte.

    Ein Hund schlug an, ein zweiter stimmte ein, die Pferde hoben die Köpfe, beruhigten sich aber wieder, als sie die Ankömmlinge erkannten.

    Auf mitgebrachten kleinen Hockern saßen in lockerer Runde drei oder vier hohe Beamte des Kaisers, darunter sein Kanzler Johannes Morus und ein erst vor wenigen Tagen am Hof eingetroffener gelehrter Mönch aus Frankreich, weiter ein Musikant, der leise und träumerisch auf der Laute spielte, sowie zwei Frauen, nämlich Bianca Lancia, die geheimnisvolle Geliebte des Kaisers, und ihre Kammerzofe.

    „Gewährt Ihr mir, verehrte Frau, die Ehre, Euch einen Trunk einschenken zu dürfen?", fragte der Kaiser seine dunkelhaarige, braunäugige Herzdame, indem er sich galant vor ihr verneigte.

    Diese lächelte leicht und antwortete mit jener feinen Ironie, die den Kaiser stets aufs Neue entzückte: „Wer könnte dem Herrscher des Heiligen Römischen Reiches einen Wunsch abschlagen? Der Adel vermag es nicht und ich, eine Frau unbestimmter Herkunft, vermag es noch weniger. Ich fühle mich geehrt."

    Mit dem kokett eingestreuten Hinweis auf ihre unbestimmte Herkunft spielte sie auf ein Gerücht an, das auch dem Kaiser selbst eine Herkunft aus dem einfachen Volk unterstellte. Er sei, hieß es, in Wahrheit kein edler Spross aus der Verbindung des deutschen Kaisers Heinrich VI. und dessen Gemahlin Konstanze von Sizilien, sondern der Sohn einer Metzgerfamilie, den sich die Kaiserin hatte unterschieben lassen, weil sie selber kinderlos geblieben war und im Alter von fast vierzig Jahren definitiv kein eigenes Kind mehr zur Welt bringen konnte. Um dieses Gerücht zu entkräften, hatte Friedrich ein Gegengerücht in die Welt gesetzt: Die Kaiserin, ließ er verbreiten, habe ihn auf dem Marktplatz der mittelitalienischen Stadt Jesi in einem Zelt zur Welt gebracht. In aller Öffentlichkeit sei es also geschehen und neunzehn geistliche Würdenträger seien Zeugen dieses Ereignisses gewesen.

    Anspielungen auf seine angebliche Abstammung von einem einfachen Fleischer ließ Friedrich niemandem durchgehen; wer solches auch nur zu denken wagte, fiel in Ungnade. Einzig bei der schönen Bianca drückte er gerne ein Auge zu, nicht zuletzt, weil die beiden dasselbe Schicksal verband: höchstgestellte Persönlichkeiten zu sein, denen in einem stolzen und standesbewussten Umfeld heimlich nachgesagt wurde, dass in ihren Adern vermutlich gar nicht das blaue Blut des Adels, sondern bloß das rote Blut des einfachen Volkes fließe.

    Friedrich hob in gespieltem Ärger eine Braue, um seiner Geliebten anzudeuten, dass er den anstößigen Sinn ihrer Worte wohl verstand. Dann leuchtete in seinen blauen Augen Amüsiertheit auf und über sein glatt rasiertes, kantiges Gesicht ging ein feines Lächeln. Er nahm von Bianca den kostbar gearbeiteten Glaskelch entgegen und füllte ihn mit einem leichten Wein aus einer kleinen Amphore, die man zur Kühlung mit nassem Moos vom nahen Bächlein bedeckt hatte.

    Er füllte sich ebenfalls einen Becher ein und ließ sich neben den beiden Frauen nieder. So saß er lange und wortlos, genoss die Stunde und ließ seinen Gedanken freien Lauf, unauffällig bewacht von zehn Männern seiner Leibgarde.

    Diese ausgewählten und gefürchteten Soldaten waren Sarazenen; vom selben Volk war auch sein Kanzler Johannes Morus. Obwohl Kaiser Friedrich der Herr und Hüter des christlichen Abendlandes war und eben erst einen Kreuzzug in Palästina durchgeführt hatte, versammelte er nicht nur die bedeutendsten Gelehrten, Künstler, Kriegsmänner und Rechtskundige der Christenheit an seinem Hof, sondern auch so manchen arabischen Muselmanen. Deren feine Künste und geschliffene Sitten begeisterten ihn, wie ihn alles begeisterte, was sich studieren, erforschen, erkunden und geistvoll würdigen ließ. Er beherrschte nebst dem Italienischen, seiner Muttersprache, auch das Lateinische, Deutsche, Französische, Griechische und Arabische. Die Mutmaßungen, Mythen und abergläubischen Verwirrungen seiner Zeitgenossen waren seinem Denken fern. Er wollte wissen und beweisen, nicht fantasieren und zagen. So hatte er die Gottesurteile verboten, weil er zur Überzeugung gekommen war, dass derlei Zweikämpfe nicht geeignet seien, Schuld oder Unschuld eines Mannes zu beweisen. Vielmehr sei es doch so, dass immer der Stärkere gewinne – und der Gerechtere somit nur, wenn er zufällig auch der Stärkere sei. Zudem hatte er die erweiterte Mathematik mit der Null eingeführt, bei Andria die ideale Burg gebaut und in Salerno eine medizinische Akademie gegründet. Er ließ die Gesetze der Natur erforschen und hielt seine Vogelbeobachtungen mit kunstsinnig gefertigten Zeichnungen eigenhändig fest.

    Sein Herrschersinn, der nicht immer frei war von einer gewissen Rücksichtslosigkeit, sein straffer Beamtenapparat, sein Zerwürfnis mit dem Papst und sein Interesse an der arabischen Kultur trugen ihm das Misstrauen vieler Untertanen ein, doch seine Intelligenz, seine Gelehrsamkeit, seine Tatkraft, sein persönlicher Charme, sein gutes Aussehen und vor allem sein unstillbarer Wissensdurst ließen ihn als herausragende, betriebsame und eigenwillige Herrscherpersönlichkeit erscheinen.

    Friedrich II. von Hohenstaufen, Kaiser der deutschen Lande, Herrscher über das Königreich Sizilien und König von Jerusalem, atmete den balsamischen Wiesenduft ein, lauschte versonnen den leisen Saitenklängen und ließ sich von der Sonne wärmen. Sie schien eigens für ihn, denn der sechsunddreißigjährige Friedrich war ein großer Herrscher über ein großes und blühendes Reich.

    2

    Es war Mitte Januar und hätte entsprechend kalt sein sollen, doch draußen wehte ein linder Südwest, der direkt vom Mittelmeer ungehindert durch das Rhonetal und die Burgundische Pforte landeinwärts zog und eine Ahnung von vorzeitigem Frühling zu uns nach Basel und weiter in den süddeutschen Raum trug.

    Die Bäume im Garten hinter unserem Haus an der Engelgasse bogen sich im Wind. Wir saßen im warmen Licht der Stubenlampe beim Abendessen, Vater, Mutter, mein jüngerer Bruder Christian und ich. Meine um vier Jahre ältere Schwester arbeitete seit dem vergangenen Herbst als Assistenzärztin in einem kleinen Landspital im Waadtland. Wir hatten uns bereits einigermaßen daran gewöhnt, dass ihr Platz am Tisch leer war. Vater und Mutter waren überaus stolz auf Erna; dass eine Frau Medizin studierte, galt auch im Jahr 1932 landesweit noch als Besonderheit, bei konservativen Geistern sogar als Ärgernis. Ich selber studierte im fünften Semester Theologie, mein Bruder ging aufs Gymnasium, strebte aber keine akademische Ausbildung an, sondern eine Karriere als Weltreisender und Abenteurer.

    Unser Nachtessen war von rustikaler Einfachheit. Mein Vater verdiente als Lehrer am Gymnasium, wo er Latein und Griechisch unterrichtete, ganz anständig. Wir hätten uns also ohne weiteres Weißbrot, Leberpastete, Wildschweinschinken, Trüffelkäse und Honig leisten können, doch meine Eltern liebten es ehrlich und einfach. Zum dunklen Brot gab es Butter, Konfitüre und gut gereiften Emmentaler Käse, dazu einen milden Milchkaffee.

    „Wie es scheint, haben wir nach dem Essen noch Gäste, bemerkte ich, denn soeben hatte Trude, unser Dienstmädchen, damit begonnen, den neben dem Esszimmer gelegenen Salon herzurichten. Das war immer ein untrügliches Zeichen für anstehenden Besuch. „Ich werde dann mal auf mein Zimmer gehen und noch etwas Augustin büffeln, um den Herrschaften nicht auf den Füßen herumzustehen.

    Ich war von zurückhaltendem, um nicht zu sagen schüchternem Naturell und hielt mich von den Gästen meiner Eltern, meist Exponenten des akademischen und kulturellen Lebens, so gut es ging fern. An Betrieb herrschte in unserem Haushalt selten Mangel, denn mein Vater war vielseitig vernetzt und kannte alle möglichen Gelehrten, Schriftsteller, Journalisten, Musiker, Forscher und Politiker aus dem In- und Ausland. Regelmäßig lud er Freunde ein, um sich mit ihnen bei Wein und Tabak ausgiebig über Fragen der Vergangenheit und Gegenwart auszutauschen.

    „Nein, diesmal bleibst du da", antwortete er.

    Erstaunt sah ich von meinem Butterbrot auf, das ich mir gerade schmierte. Normalerweise legte mein Vater keinen besonderen Wert darauf, dass ich mich seinen Besuchern zeigte.

    „Nanu, willst du mich mit einem netten Fräulein verkuppeln, oder wie oder was?", fragte ich.

    Der Vater lächelte. „Das wirst du wohl irgendwann auch noch selber zustande bringen, erwiderte er. „Nein, ich erwarte einen Herrn aus Deutschland. Du kennst ihn, er war auch schon hier. Er heißt Joachim Freiherr von Seltenbach. Diesmal kommt er aber nicht wegen mir, sondern wegen dir. Also musst du wohl oder übel dabei sein.

    „Wegen mir?"

    Ein leises Unbehagen nistete sich in meiner Magengrube ein. Ich hatte keine Ahnung, weshalb Seltenbach von Berlin, wo er meines Wissens zu Hause war, eigens wegen mir nach Basel reisen sollte. Ich erinnerte mich gut an ihn. Er hatte uns im vergangenen Sommer in Begleitung einer auffallend hübschen, aber auch auffallend jungen Blondine besucht. Es war mir damals nicht gelungen, mich rechtzeitig unsichtbar zu machen, also blieb mir nichts anderes übrig, als den wohlerzogenen Sohn des Hauses zu geben und ein Weilchen zu bleiben. Irgendwann kamen Seltenbach und ich auf Musik und Dichtung zu sprechen. Ich bin auf beiden Gebieten einigermaßen bewandert und merkte schnell, dass unser Gast ebenfalls zu den Liebhabern und Kennern der schönen Künste gehörte. Er bewies im Gespräch einen guten Geschmack und profundes Wissen. Jedenfalls empfand ich es an jenem heißen Sonntagnachmittag ausnahmsweise als anregend, mich mit einem von Vaters Gästen zu unterhalten, und ich glaube, dass auch er Gefallen an unserem Gedankenaustausch hatte.

    „Was macht Seltenbach eigentlich, außer dass er einer preußischen Adelsfamilie entstammt und blonde Fräuleins spazieren führt?", fragte Christian kauend.

    „Er ist in der hohen Politik tätig und gehört einem Sonderausschuss des deutschen Kanzlers Heinrich Brüning an", antwortete mein Vater.

    „Aber unser Felix hat doch mit der deutschen Politik nichts zu tun", sagte meine Mutter. In ihrer Stimme schwang Misstrauen und Besorgnis mit.

    „Herr von Seltenbach hat ein Anliegen, das er Felix und mir persönlich und vertraulich unterbreiten will, erwiderte mein Vater. „Aus einem Brief von ihm weiß ich nur, dass es sich offenbar um eine Angelegenheit von einiger Wichtigkeit handelt und er sich von uns Hilfe erhofft. Näheres werden wir bald erfahren.

    Er blickte zur Uhr, die gegenüber seinem Platz an der Wand hing und stoisch vor sich hintickte. „Es ist jetzt sieben Uhr, Herr von Seltenbach hat sich auf halb acht angekündigt. Esst mal bitte ein bisschen schneller, damit Mutter und Trude nachher noch genügend Zeit zum Abräumen haben. Es soll hier nicht wie nach einem Affenmahl aussehen, wenn unser Gast eintrifft."

    Schneller essen? Mir war die Lust aufs Essen gründlich vergangen. Was konnte dieser deutsche Politfuchs von mir, einem harmlosen einundzwanzigjährigen Theologiestudenten, Wichtiges wollen? Die Sache gefiel mir ganz und gar nicht. Ich hatte keine Lust, mich in irgendein politisches Ränkespiel hineinziehen zu lassen, zumal ich mich der schweizerischen Neutralität verpflichtet fühlte und das Chaos der Weimarer Republik gerne den Deutschen überließ.

    Punkt halb acht – die Uhr im Wohnzimmer ließ gerade ihren klangvollen Halbstundenschlag ertönen – schellte Herr von Seltenbach an der Haustür. Trude ging öffnen, nahm dem Gast den Mantel ab und geleitete ihn in den Salon, wo er von Vater und mir empfangen wurde. Er trug einen sportlichen Sakko, einen karierten Schal, einen norwegischen Fischerpullover und dazu diese burschikos-modischen, aber lächerlichen Knickerbocker, wie ich sie nie im Leben tragen würde. Mit seiner Bekleidung gab sich Herr von Seltenbach einen inoffiziellen, freizeitmäßigen Anstrich. Offensichtlich legte er keinen Wert darauf, als politischer Funktionär erkannt zu werden. Auch in seiner clownesken halblangen Pumphose und den karierten Socken wirkte er jedoch respektabel, woran sein autoritäres und maskulines Aussehen entscheidenden Anteil hatte: Er war mittelgroß und ein wenig vierschrötig, hatte kräftige Gliedmaßen, einen dunklen Teint, militärisch kurz geschnittene graue Haare, stahlblaue, intelligente Augen und trotz seinen ungefähr fünfundfünfzig Jahren auffallend weiße, gesunde Zähne.

    „Guten Abend, die Herren", sagte er aufgeräumt und gab zuerst meinem Vater, dann mir die Hand.

    „Na, der junge Herr ist wohl immer fleißig am Studieren, nehme ich an", wandte er sich an mich.

    „Ja, ich stopfe meinen Kopf emsig mit Wissen über das Buch der Bücher voll und hoffe, in zwei Jahren das Staatsexamen ablegen zu können", antwortete ich.

    „Keine Lust auf eine kleine, aber bereichernde Unterbrechung? Derlei soll ja vorkommen."

    „Nun … eher nicht. Unterbrechung, das tönt irgendwie nach Bummelei."

    „Immer schön zielstrebig, das gefällt mir." Seltenbach lächelte, aber ohne Wärme.

    „Nehmen Sie doch bitte Platz", sagte mein Vater und deutete auf die gemütlichen Sessel am Kamin, in dem freilich kein Feuer knisterte, weil wir Zentralheizung hatten und die beiden hohen Radiatoren an der Wand das Zimmer mit einer gleichmäßigen, wohligen Wärme versorgten. Als wir uns eingerichtet hatten, goss uns mein Vater aus der Karaffe einen bernsteinfarbenen Kognak in die Kristallgläser, die auf dem niederen Alabastertischchen bereitstanden.

    „Zigarre gefällig?" Mein Vater öffnete eine Schachtel und hielt sie unserem Gast hin.

    „Ich bin so frei."

    Seltenbach nahm sich eine der bauchigen Zigarren, roch genießerisch daran und studierte die Binde. Er hob anerkennend die Augenbrauen. „Echte Havanna, alle Achtung – in der Schweiz versteht man zu leben!"

    „Man tut, was man kann."

    Mein Vater bediente sich ebenfalls, während ich wie immer verzichtete, denn mit Tabak habe ich nie etwas anfangen können. Als die Zigarren glühten und die ersten Wolken des beizenden Rauchs gegen die Decke stiegen, ergriff Herr von Seltenbach wieder das Wort. Er kam ohne Umschweife auf den Grund seiner Anwesenheit zu sprechen.

    „Herr Professor Weidlin, wie ich in meinem Schreiben angedeutet habe, führt mich eine Sache von einiger Wichtigkeit zu Ihnen. Ich danke Ihnen schon jetzt, dass Sie die Freundlichkeit haben, mich zu empfangen – und Ihnen, Felix, dass Sie bereit sind, mich anzuhören."

    „Keine Ursache", sagte ich so weltmännisch als irgend möglich. Innerlich aber war ich nervös und voll banger Fragen.

    „Nun gut, lassen Sie mich Ihnen also mein Anliegen erläutern. Herr von Seltenbach befeuchtete seine Kehle mit einem Schluck Kognak. „Sie beide sind der deutschen Kultur und Nation zugetan. Von Ihrem Herrn Vater ist es allgemein bekannt und mit Ihnen, Felix, durfte ich vor nicht allzu langer Zeit ein anregendes Gespräch führen, das diesen Schluss ebenfalls zulässt.

    „Sie haben vollkommen recht, ich bin ein großer Freund des deutschen Kulturschaffens, insbesondere der deutschen Literatur und Musik, bestätigte ich. „Von Ihrer Politik hingegen verstehe ich wenig bis nichts. Ich weiß gerade so knapp, dass Deutschland vor ungefähr fünfzehn Jahren seinen Kaiser ins Exil geschickt hat und seither von einem Reichspräsidenten und einem Kanzler regiert wird.

    Mein Vater blickte ob meiner saloppen Vereinfachung etwas betroffen, doch Seltenbach lachte laut. „Nicht einmal ich verstehe viel von unserer Politik, denn sie ist äußerst komplex, ein fragiles Spiel von Kräften, die partout nicht zusammenpassen wollen, aber alles daransetzen, unsere junge und doch schon so ungeliebte Weimarer Republik zum Einsturz zu bringen."

    Er wurde wieder ernst. „Ich bin kein gewählter Politiker, als Sonderberater des Kanzlers aber immerhin politischer Beamter und somit Staatsmann im allgemeinen Sinn. Ein kleiner Ausschuss, dem vorzusitzen ich die Ehre habe, ist bemüht, die Kräfte, die unserem Land zusetzen, zu analysieren. Und dann nach Wegen zu suchen, wie man das Schiff wieder auf Kurs bringen könnte. Dazu aber ist es unbedingt nötig, so nahe an den Feind heranzukommen als irgend möglich. Ich war Offizier im Weltkrieg und weiß, wovon ich rede."

    „Der Feind?, fragte ich. „Wo sitzt der denn bei Ihnen im Moment?

    „Herr von Seltenbach meint die linken und rechten Kräfte, die sich, statt am Staat zu bauen, bis aufs Blut bekämpfen und den Umsturz planen, jede Gruppe für sich und jede auf radikale Art. Die einen wollen die Diktatur des Proletariats, die anderen die Herrschaft eines starken völkischen Führers", belehrte mich mein Vater.

    „Ach so, die Roten und die Braunen, sagte ich. „Davon hört und liest man dies und das, aber ich bin politisch zu wenig interessiert, um mich da wirklich auszukennen. Zumal uns in der Schweiz die deutschen Kommunisten und Nationalsozialisten kaum betreffen, die sind doch wohl vor allem eine innerdeutsche Angelegenheit.

    „Täuschen Sie sich nur mal nicht, Felix, sagte Seltenbach. „Unsere beiden Länder sind politisch enger miteinander verbandelt, als man gemeinhin denkt. Deutschland ist an einem guten Einvernehmen mit der Schweiz interessiert, ihr seid ja vom selben Volksstamm, zudem bestehen gemeinsame wirtschaftliche Interessen.

    „Mag sein, erwiderte ich. „Für mich sind das allerdings böhmische Dörfer. Ich befasse mich mit Petrus, Paulus und den Kirchenvätern, wandere mit den Israeliten durch die Wüste und lerne, wie man eine anständige Predigt hält. Die hohe Politik überlasse ich denen, die davon etwas verstehen.

    Mein Vater, ein sehr politischer Mensch, hob missbilligend die Brauen. „Also bitte, Felix, etwas mehr diplomatischen Takt gegenüber unserem deutschen Gast", mahnte er mich ab, in einer Schärfe, die er hinter dem scherzhaft schulmeisterlichen Tonfall nur schlecht verbergen konnte.

    Ich errötete. „Entschuldigen Sie, ich war wohl in der Tat nicht sehr höflich."

    „Dafür aber ehrlich, sagte Seltenbach. „Und das ist mehr, als viele Politiker von sich behaupten können. Und jetzt, wo wir beide auf dem Spielfeld unsere Linien abgesteckt haben, könnten wir eigentlich anfangen zu spielen.

    Er zündete die erloschene Zigarre erneut an, paffte ein paar Züge und fragte mich dann: „Was würden Sie davon halten, Felix, gewissermaßen in den diplomatischen Dienst zu treten und Ihrem Vaterland inoffiziell zu dienen, indem Sie für den nördlichen Nachbarn Deutschland ein paar Erkundigungen einholen, die letztlich auch für Ihre Regierung in der Schweiz bedeutsam sind? Wie gesagt, die Interessen beider Länder sind eng miteinander verflochten; geht es mit Deutschland in diesen wirtschaftlich harten Zeiten irgendwann wieder aufwärts, kann auch die Schweiz davon profitieren. Obwohl es euch derzeit immer noch erstaunlich gut geht. Die Weltwirtschaftskrise hat euch weit weniger getroffen als uns."

    Abermals entschied ich mich für eine ungeschminkte Entgegnung. „Sie sprechen von diplomatischem Dienst, aber das scheint mir ziemlich beschönigend zu sein. Wie Sie ja selbst sagen, geht es in erster Linie um die Beschaffung irgendwelcher Informationen für Deutschland. Sehe ich das richtig?"

    „Felix, ich bitte dich, in diesem besserwisserischen Tonfall spricht man doch nicht mit …", mischte sich mein Vater ein.

    Unser Gast winkte ab. „Schon gut, ich kann das einstecken. Es gefällt mir sogar. Eine gute Frage zieht meist auch eine gute Antwort nach sich. Hier ist sie: Ja, Felix, Sie haben völlig recht. Ich möchte Sie dafür gewinnen, sich im Dienst der Weimarer Republik ein wenig umzuhören."

    „Das kann mich Kopf und Kragen kosten. Das ist dir doch hoffentlich auch klar, Vater."

    „Lass Herrn von Seltenbach zuerst ausreden. Er hat ja noch gar nicht gesagt, worum es wirklich geht."

    Seltenbach lächelte fein. „Nein, das habe ich wohl noch nicht. Zuerst einmal: Sie sollen keine Schweizer Geheimnisse an Deutschland ausplaudern, weder politische noch militärische. Ich ersuche Sie auch nicht, Ihrer helvetischen Industrie auf den Zahn fühlen und uns deren Erfolgsrezepte zu stecken. Sie sehen also: Zum Landesverräter sollen Sie nicht werden." Er lächelte erneut und breitete mit theatralischer Eleganz die Arme aus. „Ich lade Sie bloß ein, Einblick in einen der seltsamsten und einflussreichsten Kreise unserer Zeit zu nehmen – einen kulturellen Zirkel, der durch und durch deutsch ist. Was dort gesprochen, beraten und ausgeheckt wird, betrifft also zunächst einmal Deutschland. Von Ihnen würde somit nichts weiter verlangt, als Deutschland in einer

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