Weiter als die letzte Ferne: Mit Rainer Maria Rilke die Welt meditieren
Von Otto Betz
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Buchvorschau
Weiter als die letzte Ferne - Otto Betz
Otto Betz
Weiter als die letzte Ferne
topos taschenbücher, Band 1014
Eine Produktion des Matthias Grünewald Verlags
Verlagsgemeinschaft topos plus
Butzon & Bercker, Kevelaer
Don Bosco, München
Echter, Würzburg
Lahn-Verlag, Kevelaer
Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern
Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg
Tyrolia, Innsbruck
Eine Initiative der
Verlagsgruppe engagement
www.topos-taschenbuecher.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-8367-1014-5
E-Book (PDF): 978-3-8367-5006-6
E-Pub: 978-3-8367-6006-5
2015 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer
Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen beim
Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern
Umschlagabbildung: © iStock.com / Bepsimage
Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg
Printed in Germany
Inhalt
Ein neues Atemfeld
„Die Dinge singen hör ich so gern"
Rilkes meditative Wahrnehmung der Welt
„Ich halte den Brief noch für ein Mittel des Umgangs"
Rilke – der Briefschreiber
„Halte die Freude für mehr als das Glück"
Die Freude als Grundkraft der Schöpfung
„Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste"
Von der Öffnung der Sinne
„Wir kennen nur die Hälfte"
Vom Fragment und von der Ganzheit
„Ich muß einen Namen für Sie erfinden"
Vom Geheimnis des Namens
„Schönheit und Schrecken"
Das Doppelantlitz der Wirklichkeit
„Ich höre noch sein Lachen"
Rilke und der Humor
„Musik: Du Sprache wo Sprachen enden"
Rainer Maria Rilke und die Musik
„Laß dich von mir nicht trennen"
Rilkes Ringen mit Gott
„Ach in der Kindheit, Gott: wie warst du leicht"
Vom doppelten Antlitz Gottes
„Fontäne des seelischen Daseins"
Rilke und der Engel
„Aus beiden Reichen erwuchs seine weite Natur"
Orpheus und das unendliche Lob – ein Grundmotiv im Werk Rilkes
„Was ich an Heimat habe, liegt da und dort verteilt"
Rainer Maria Rilke – der Europäer
„Die Szenerie war Abschied"
Das Leben als Form des Abschiednehmens
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Ein neues Atemfeld
Es gab früher eine Art von Büchern, die man „Vademecum" nannte, sie sollten Wegbegleiter sein, Schriften, die man immer in der Nähe haben wollte und möglichst in die Tasche stecken konnte. Man hat sie gewöhnlich nicht von vorn bis hinten durchgelesen, sondern sie vielmehr hie und da hervorgeholt, um zur Besinnung zu kommen oder anderen daraus vorzulesen. Für mich hatten viele Bücher von Rainer Maria Rilke diesen Charakter. Wenn ich mir mein Exemplar des Malte anschaue oder die Neuen Gedichte, vor allem natürlich die Duineser Elegien, dann merke ich an ihrem „mitgenommenen" Zustand, dass ich sie oft mitgenommen habe, auf die Reise, auf eine Wanderung oder einfach ins nächste Café. Wie für viele andere Menschen auch wurde Rilke für mich zu einem Reisegefährten, der mich manchmal bestärkte, mir aber auch ins Gewissen redete, der mir die Augen öffnete und auf ganz indirekte Weise eine Richtung wies. Wieso ist Rilke, der doch ein Dichter war und kein Pädagoge, dem sein poetisches Werk am Herzen lag und der kein Volkserzieher sein wollte, wieso ist er für viele zu einer so maßgeblichen Gestalt geworden?
„Ich habe mich, seit ich denken kann, als Anfänger gefühlt"¹, hat Rilke einmal in einem Brief von sich bekannt. Und wirklich: Er hat immer wieder den Mut zu einem Neubeginn gehabt, hat sich nicht auf das bis dahin Erfahrene und Geschaffene verlassen, sondern Neuland gesucht, aber auch neue Sehweisen und vor allem neue Sprachmöglichkeiten. Er ist sein ganzes Leben lang ein Fragender gewesen, und seine Antworten waren keine unumstößlichen Glaubenssätze, sondern Vorstöße ins Unbekannte. Eine Schule hat er nicht begründet, nicht einmal einen Jüngerkreis, vielleicht hat er deshalb so viele Freunde gefunden, die sich ihm verbunden fühlten.
Rilkes Dichtung hat mit unserer Alltagswelt und unserem Leben zu tun, trotz ihres hohen Tons und ihrer anspruchsvollen Sprache. Er lässt uns Leser an seinen Erfahrungen teilhaben und weckt in uns das Interesse, selbst auf Erfahrungen auszugehen. Er spricht von sich als einem, „der dem Leben immer noch lernend, staunend, aufnehmend"² einverständig ist; was bleibt uns Lesern anderes übrig, als uns ebenso offen und vorurteilslos der Wirklichkeit zu stellen? Als ich noch ein Schüler war, stieß ich auf ein Rilkewort, das mich so ansprach, dass ich es mir gleich in mein Tagebuch schrieb: „Wenn Ihr Alltag Ihnen arm scheint, klagen Sie ihn nicht an; klagen Sie sich an, daß Sie nicht Dichter genug sind, seine Reichtümer zu rufen; denn für den Schaffenden gibt es keine Armut und keinen armen gleichgültigen Ort.³ Das war der Rippenstoß, den ich damals brauchte und der sich ein Leben lang ausgewirkt hat. Wir sind ja alle geneigt, über die misslichen Bedingungen unseres Daseins Klage zu führen, um davon abzulenken, dass wir mit den uns gebotenen Chancen nicht umgehen können. Rilke erwartet von uns einen hohen Anspruch. „Wer mit Leichtem umgeht, geräth oft ans Geringe; im Schweren ist man immer wie unter Älteren und Großen
⁴, von einem solchen Satz kann man schon im Innern getroffen werden; und wir müssen es zulassen.
Dieses Buch greift Themen auf, die Rilke wichtig waren – und die im Leben jedes Menschen eine Rolle spielen. Wie werden wir mit der Bruchstückhaftigkeit unserer Existenz fertig? Können wir uns im Angesicht der Schrecknisse dieser Welt noch wirklich freuen? Welchen Stellenwert haben die Kunst und die Musik in unserem Leben? Wie kommen wir bei dem optischen Überangebot der Gegenwart noch zu einem wirklichen eindringenden Schauen? Welche Bedeutung haben die religiöse Frage und die Suche nach einem uns gemäßen Gottesverständnis in der Gegenwart?
Die Frage ist erlaubt, ob wir nicht einen Dichter überfordern, wenn wir von ihm Antworten auf solche Problemkreise erwarten. Nun, wir bekommen ja gerade keine fertigen Lösungen angeboten, wir werden vielmehr zum Gespräch eingeladen. Rilke überredet nicht, er drängt uns keine Meinung auf, wir werden höchstens in ein Netzwerk der Gedanken hineingenommen, unser Horizont soll sich ausweiten, konventionelle Muster werden überschritten, ein größerer Zusammenhang wird erkennbar. Es ist ja ein Glück, dass so viele Briefwechsel, gerade mit jungen Menschen, erhalten geblieben sind, mit Anita Forrer, mit Ilse Jahr, Eva Cassirer, Ilse Erdmann, Lisa Heise und anderen. Rilkes Gedichte, aber auch seine Briefe wurden für sie ein notwendiges Brot, Seelennahrung, Stärkung in Notlagen und Krisenzeiten. Ohne aus Rilkes Werk eine Hausapotheke machen zu wollen, wird man doch sagen dürfen: Sein lebendiges Wort wirkte (und wirkt) ins Dasein der Menschen hinein. Rilke hat nicht viel vom Trost gehalten, zu sehr fürchtete er, nur vage zu vertrösten. Es ging ihm um die ehrliche Konfrontation mit der harten Realität. Er war immer der Überzeugung, „daß die Güter des Lebens rein und unverdorben und im Tiefsten begehrenswert aus Umsturz und Untergang hervorgehen"⁵.
„Die Dinge singen hör ich so gern"
Rilkes meditative Wahrnehmung der Welt
„Heute war ein schöner, herbstlicher Morgen. Ich ging durch die Tuilerien. Alles, was gegen Osten lag, vor der Sonne, blendete. Das Angeschienene war vom Nebel verhangen wie von einem lichtgrauen Vorhang. Grau im Grauen sonnten sich die Statuen in den noch nicht enthüllten Gärten. Einzelne Blumen in den langen Beeten standen auf und sagten: Rot, mit einer erschrockenen Stimme", so steht es in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge⁶. Eine Landschaft wartet nicht nur darauf, entdeckt zu werden, sie will nicht nur angeschaut werden, sie hat selbst ihre eigene Sprache und will gehört werden. Rilke hat sich sein Leben lang darum bemüht, aufmerksam zu sein, ein wachsames Auge auszubilden, ein „geräumiges Ohr zu entwickeln, um auch Zwischentöne wahrzunehmen und die Nuancen des Sehbaren nicht zu versäumen. Man kann sein Werk durchaus als „Schule der Wahrnehmung
verstehen, was nicht eigentlich beabsichtigt war, sich aber ergab aus seiner Begabung und Bemühung, immer sensiblere Sinne auszubilden. „Und nichts ist gering und überflüssig"⁷, das ist seine anspruchsvolle Maxime. Deshalb war er darum bemüht, den Dingen, den Pflanzen, den Kunstwerken geruhsam zu begegnen, sich Zeit zu lassen, immer wieder zu ihnen zurückzukehren, sie nicht nur anzuschauen, sondern sie zum Sprechen zu bringen.
Als sich Rilke im September 1907 in Paris aufhielt, bekam er von seiner Frau Clara brieflich drei Zweige Heidekraut zugesandt. Er bedankte sich dafür am 13. September, aber sein Dank entwickelte sich zu einer kleinen Hymne auf dieses unscheinbare Gewächs, das nun plötzlich lebendig wird und sein Geheimnis offenbart: „Seither liegen sie (die drei Zweige) in meinem Buch der Bilder und durchdringen es mit ihrem starken ernsten Geruch, der eigentlich nur der Duft herbstlicher Erde ist. Aber wie herrlich ist er doch, dieser Duft. Nie, scheint mir, lässt sich die Erde so einatmen in einem einzigen Geruch, die reife Erde; in einem Geruch, der nicht geringer ist als der Geruch des Meeres, bitter, wo er an den Geschmack grenzt, und mehr als honigsüß, wo man meint, daß er an die ersten Töne stoßen müsse. Tiefe in sich enthaltend, Dunkelheit, Grab beinah, und doch auch wieder Wind, Teer und Terpentin und Ceylontee. Ernst und dürftig wie der Geruch eines Bettelmönchs und doch auch wieder wie kostbares Räucherwerk harzig und herzhaft. Und anzusehen: wie Stickerei, prachtvoll; wie drei mit violetter Seide: (einem Violett, so heftig-feucht, als ob es die Komplementärfarbe der Sonne wäre) in einem persischen Teppich eingestickte Zypressen. Du müsstest das sehen. Ich glaube, die kleinen Zweige können noch nicht so schön gewesen sein, da Du sie abschicktest: Du hättest sonst etwas Erstauntes dazu gesagt. Zufällig liegt jetzt eines auf dunkelblauem Samt einer alten Schreibschatulle. Das ist wie ein Feuerwerk: nein, eben wie ein persischer Teppich. Sind wirklich alle diese Millionen Ästchen von so wunderbarer Arbeit? Sieh die Farbigkeit des Grüns, in dem ein wenig Gold ist, und das sandelholzwarme Braun der Stämmchen mit ihrem neuen, frischen, inneren Kaumgrün. Ach, ich bewundere nun schon tagelang die Pracht dieser kleinen Fragmente und schäme mich recht, daß ich nicht glücklich war, als ich in alledem herumgehen durfte, im Überfluss."⁸ Wie behutsam geht Rilke auf die Einzelheiten ein, wie gibt er seiner Freude Ausdruck über alle Entdeckungen. Und er öffnet uns die Augen, indem er uns nötigt, seinem Blick zu folgen, uns seinem Geruchsorgan anzuvertrauen, seinen Assoziationen Raum zu geben. Dabei beschönigt er die Dinge nicht, er nimmt sie, wie sie sind, und lehrt uns das Staunen. Wir sollen nicht „auswählen, uns auf das Liebliche und In-die-Augen-Springende beschränken, in allem steckt das Geheimnisvolle und Bewundernswerte. Der blendende Schein der Sonne kann ebenso Anlass bieten wie das Prasseln der Regentropfen, über das, was sich gerade ereignet, nachzusinnen. Erst wenn man es wirklich vergegenwärtigt und in das Geschehen eintaucht, kann sein verborgenes Geheimnis wahrgenommen werden. „Nie hab ich die Harmonie des Regens so sorgfältig orchestriert gefunden, das harte Wintergrün der Steineichen, der etwas nachgiebigere glatte Lorbeer, das dichtverwickelte Gebüsch und der schon gegen den Frühling zu aufmerksame Boden, jedes ward zum besonderen Instrument und alle waren sie übereingestimmt von der Stille, die über das Ganze die Aufsicht behielt
, so teilt er seine Beobachtung am letzten Dezembertag des Jahres 1913 in Paris Eva Cassirer mit.⁹ Und es ist wichtig, dass er nicht nur die kostbare gezüchtete Rose liebt, sondern auch den „Wilden Rosenbusch"¹⁰:
Wie steht er da vor den Verdunkelungen
des Regenabends, jung und rein;
in seinen Ranken schenkend ausgeschwungen
und doch versunken in sein Rose-sein;
die flachen Blüten, da und dort schon offen,
jegliche ungewollt und ungepflegt:
so, von sich selbst unendlich übertroffen
und unbeschreiblich aus sich selbst erregt,
ruft er dem Wandrer, der in abendlicher
Nachdenklichkeit den Weg vorüberkommt:
Oh sieh mich stehn, sieh her, was bin ich sicher
Und unbeschützt und habe was mir frommt.
Mit einer bewundernswerten imaginativen Kraft beschwört Rilke die Wirklichkeit der Dinge: sie stehen plötzlich vor uns, rufen auch uns an und erwarten, dass wir mit einer vergleichbaren Behutsamkeit an sie herangehen. Es wird aber auch deutlich, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssten, damit Dinge und Wesen eine Sprache bekommen, die von uns verstanden werden kann. Ohne eine Atmosphäre der Stille und der Besinnung geht alles an uns vorüber und erreicht uns nicht.
Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre
Verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen.¹¹
Aber auch das schnelle Wort, die eilige Stellungnahme und die hurtig sich einstellenden Wortkaskaden helfen uns nicht weiter, sie verdecken vielleicht sogar die wahre Melodie, die erst gehört werden kann, wenn das eigene Geräuschemachen eingestellt wird. Es gibt Worte, die festlegen, die sich als zentnerschwere Urteile so gewichtig machen, dass man das leise Rauschen der „Ding-Sprache" nicht mehr in sich aufnehmen kann. Schon in dem frühen Gedichtband Mir zur Feier artikuliert Rilke seine Sorge um die Sprache, die so gefährlich oberflächlich gebraucht wird, sodass sie ihre Kraft und wahre Substanz verliert:
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.¹²
Wenn Sprache mehr ist als ein Instrument des Informationsaustauschs, wenn sie den Dingen gerecht werden will und ihren geheimnisvollen Wert zu erkennen sucht, dann ist eine hohe Verantwortlichkeit gefragt. Und weil wir in unserem Bemühen um das „Sagbare immer wieder auf Grenzen stoßen, kommt es darauf an, das „Unsagbare
(Rilke spricht vom „Unsäglichen) so anzudeuten, dass sich Räume öffnen und neue Möglichkeiten der Einsicht und Erkenntnis gewonnen werden können. Gerade in einer Zeit der Sprachlosigkeit und der Geschwätzigkeit (diese beiden Anzeichen der Krise ergänzen sich ja) sind wir auf der Suche nach dem behutsamen Wort, das sich tastend ins Unbekannte vorwagt. „Wenn doch die Leute ein wenig Lust zum Unbegrenzten hätten …
, schrieb Rilke einmal in einem Brief. Er hatte den Mut dazu und war stets auf der Suche nach dem Unverbrauchten und Glaubwürdigen, das sich auf Erfahrung beruft. Dazu war es nötig, die Sinne immer wieder neu zu schärfen, weil gerade ihre Stumpfheit dafür sorgt, dass wir im Tristen und Trostlosen bleiben. Der Fürstin Thurn und Taxis schrieb er am 22. August 1915: „Es müsste nur unser Auge eine Spur schauender, unser Ohr empfangender sein, der Geschmack einer Frucht müsste uns vollständiger eingehen, wir müssten mehr Geruch aushalten, und im Berühren und Angerührtsein geistesgegenwärtiger und weniger vergesslich sein –: um sofort aus unseren nächsten Erfahrungen Tröstungen aufzunehmen, die überzeugender wären, die überzeugender, überwiegender, wahrer wären als alles Leid, das uns je erschüttern kann."¹³ Eine solche These blieb bei Rilke keine bloße Theorie, er versuchte wirklich, den spontanen Vorkommnissen und Empfindungen gerecht zu werden und die Dinge auszukosten. Als er im Mai 1906 bei Rodin in Meudon wohnte, hatte er Sehnsucht nach dem Gesang der Nachtigallen. An seine Frau Clara schrieb er: „… bei uns im Garten ist keine Nachtigall, kaum viele Vogelstimmen; infolge der Jäger wohl, die jeden Sonntag hier vorüberkommen; aber manchmal in der Nacht wache ich auf davon, daß es ruft, irgendwo unten im Tal ruft, anruft aus ganzer Seele. Jene süße steigende Stimme, die nicht aufhört zu steigen; die wie ein ganzes in Stimme verwandeltes Wesen ist, dessen alles: dessen Gestalt und Gebärde, dessen Hände und Gesicht Stimme geworden ist, nächtliche, große, beschwörende Stimme. Fernher trugs die Stille manchmal an mein Fenster heran, und mein Ohr übernahms und zog es langsam ins Zimmer herein und, über mein Bett her, in mich ein. Und gestern fand ich sie alle, die Nachtigallen, und ging in einem lauen, überdeckten Nachtwind an ihnen vorbei, nein, mitten durch sie durch, wie durch ein Gedränge von singenden Engeln, das sich gerade nur teilte, um mich durchzulassen, und vor mir zu war und sich hinter mir wieder zusammenschloß. So, von ganz nahe, hörte ich sie. (…) Da fand ich sie: in allen diesen alten, vernachlässigten Parken (in dem mit dem schönen Haus, dessen Mauern langsam zusammenfallen, als ob ein Geschütz der Zeit gerade auf sie gerichtet wäre, und der, mitten durchgeschnitten von der Bahn, wie eine auseinandergefallene Frucht sein Inneres zeigt, welk und beschlagen; – und ein Stück weiter drüben in einem dichten Parkstück,) und dahinter und oben in den verschlossenen Gärten der Orangerie. Und von der anderen Seite kams herüber über die Mauern der alten Mairie und dann plötzlich neben mir aus einem kleinen, dichten Garten voll von Hecken und Fliedergebüsch –: kam so erkennbar und so mit ihm, der verhalten unter halbheller Nacht lag, ineinandergewoben, wie wenn man in einem Stück Spitze das Bild eines Vogels erkennt, aus denselben Fäden geschlungen, die Blumen bedeuten und Blühendes und dichtesten Überfluß. Und das war Lärm und war um mich und übertönte alle Gedanken in mir und alles Blut; war wie ein Buddha aus Stimmen, so groß und herrisch und überlegen, so ohne Widerspruch, so bis an der Grenze der Stimme, wo sie wieder Schweigen wird, schwingend mit derselben intensiven Fülle und Gleichmäßigkeit, mit der die Stille schwingt, wenn sie groß wird und wenn wir sie hören …¹⁴ Rilke muss es als eine lebenslange Aufgabe empfunden haben, seine Sinne zu differenzieren, der ganze Körper ist ein aufnahmefähiges Organ, das erst allmählich in der Lage ist, die Zwischentöne wahrzunehmen. Schrieb er doch am 16. Januar 1912 der Fürstin: „Ich habe, zu verschiedenen Zeiten, die Erfahrung gemacht, daß sich Äpfel, mehr als sonst etwas, kaum verzehrt, oft noch während des Essens, in Geist umsetzen.
¹⁵ Und immer war er darum bemüht, den kleinen und scheinbar nebensächlichen Dingen ihr Recht und ihre Würde zuzuerkennen. Als