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Die Farben im Paradies
Die Farben im Paradies
Die Farben im Paradies
eBook371 Seiten5 Stunden

Die Farben im Paradies

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Über dieses E-Book

Klimawandel, Kriege und Seuchen haben der Menschheit arg zugesetzt. Davor geschützt führt jedoch eine kleine Schar Menschen in einer künstlichen Welt vollkommen abgeschottet von der Außenwelt ein beschauliches Leben als Ackerbauern. Sie ahnen von nichts.
Elisa, eine junge Frau, vollbringt dort wie all die anderen ihr Tagwerk unter den gestrengen Augen der Irratio, die wie Götter über die Menschen zu wachen scheinen. Tagein, tagaus führen sie alle ein gleichförmiges Leben. Bis mit einem Mal ein Fremder in Elisas Leben eindringt und ihr Weltbild ins Wanken gerät.
Ihr Herz schlägt wie wild, als in mondheller Nacht eine so fremde, aber auch vertraute Stimme so wundervolle Worte in ihr Ohr haucht. Es ist Janos, ihr Freund aus Kindertagen, den sie vor so vielen Jahren als Menschenopfer den Irratio dargebracht haben, um das Leben aller anderen Menschen zu verschonen. In diesem Augenblick zerbricht Elisas Welt, so wie sie sie bisher kannte.
Je mehr Fragen Elisa stellt, desto mehr begreift die junge Frau, dass die Welt gar nicht so klein ist, wie man es ihr immer gesagt hat, sondern dass draußen eine noch viel größere, unbekannte Welt wartet. Aber auch, dass diese ihre kleine Welt, die eher eine künstliche Siedlung im Nirgendwo ist, bald dem Untergang geweiht sein wird.
Ihr Onkel Jakob ist der Hüter der Welt, der alles zusammen halten muss und Elisa als seine Nachfolgerin auserkoren hat. Zögerlich weiht er Elisa in die Geheimnisse ihrer abgeschotteten Welt ein. Im Hintergrund wirkt Irraton, die alles steuernde künstliche Intelligenz, auf Elisa ein, um sie auf die ihr zugedachte Aufgabe vorzubereiten.
Zwischen all diesen Akteuren kämpft Elisa um ihren Platz und ob sie will oder nicht: sie muss sich der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft stellen. Nicht nur das: Am Ende bekommt sie gar das Schicksal aller in die Hände gelegt...
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum21. Aug. 2020
ISBN9783752987751
Die Farben im Paradies
Autor

Jörg Geisbüsch

Nach dem Geographiestudium hat sich der Autor unter anderem als Gästeführer selbständig gemacht und lebt heute mit seiner Familie in einem kleinen Ort in der Eifel.

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    Buchvorschau

    Die Farben im Paradies - Jörg Geisbüsch

    1. Kapitel

    in dem die Welt noch immer so ist, wie sie ist  – nur ein wenig anders

    Man hatte die Hässlichkeit aus der Welt verbannt. Diese hier war schön. So jedenfalls empfand es Elisa, als sie auf die kleine Waldlichtung hinaustrat. Eine warme Brise umschmeichelte ihre Wangen, obschon die Schatten der Bäume merklich länger wurden. Die Sonne stand bereits tief am Himmel.

    Die junge Frau atmete tief durch und sog die warme Frühlingsluft ein. Ach, war sie froh, hier nun eine kleine Weile für sich zu sein. Müde schlenderte sie über die Lichtung hin zu dem großen Apfelbaum, der zu dieser Zeit unzählige, wunderschöne Blüten trug.

    Dort, zu seinen Füßen, ließ sich Elisa ins Gras fallen, schloss ihre Augen und horchte in die Welt um sie herum hinein, wie sie es so oft tat. Sie lauschte dem leisen Plätschern des kleinen Baches, der nicht weit von hier entsprang. Sie hörte das Summen der Insekten, die um all die Blütenpracht herumschwirrten. Sie tauchte ein in die Lieder der Vögel, die in den Wipfeln der Bäume saßen und ihre Weisen zum Besten gaben. Frieden umgab sie.

    Elisa öffnete ihre Augen und schaute blinzelnd in den Abendhimmel. Sie seufzte. Ihre Glieder waren steif von einem langen, arbeitsreichen Tag auf den Feldern des Dorfes. Von früh an waren sie alle auf den Beinen gewesen. Während die einen das große Fest am Abend vorbereiteten, waren die anderen auf die Felder hinausgegangen und hatten Kartoffeln gepflanzt. Alle – Alt und Jung – waren zu dieser Zeit des Jahres auf den Beinen und packten mit an. Jetzt galt es, die Felder zu bestellen. Erst Getreide, dann Kartoffeln.

    Was daraus erwuchs, war es, wovon sie ein ganzes Jahr lang satt werden mussten. Jede Hand wurde gebraucht, um die Saat auszubringen. Waren sie fleißig, so wurde es ein gutes Jahr. Waren sie es nicht, so konnte das die gesamte Ernte des Jahres gefährden. Denn jene sahen alles. So sagte man.

    War Elisas Alltag auch sehr streng und straff organisiert, so gab es aber doch einige wenige Freiheiten. Das heißt, Elisa nahm sich diese Freiheiten heraus. Dieser Ort hier war eine davon. Elisa hatte die Lichtung vor Jahren durch Zufall entdeckt, als sie als kleines, neugieriges Mädchen mit ihrem besten Freund unbekümmert durch Wald und Flur strolchte. Ihre Eltern hatten es ihnen zwar verboten, sich zu weit in den Wald vorzuwagen, aber schon damals war Elisa ein wenig anders als die anderen gewesen.

    Sie liebte es, sich einfach davonzustehlen und die Welt zu erkunden. Neues zu entdecken. Sicher hatte auch sie Angst vor dem, was die Alten erzählten. Vor dem, was da draußen lauern konnte. Aber ihre Neugier war immer stärker gewesen und hatte sie angetrieben. Und so hatte sie eines Tages diesen Ort hier entdeckt. Seitdem kam sie regelmäßig zu der Lichtung. Früher mit ihrem besten Freund Janos. Heute, um allein zu sein.

    Hier war sie vollkommen für sich, denn sonst traute sich niemand hierher. Dieser Ort lag ihnen allen zu nahe an der Grenze. Die anderen suchten lieber den Schutz des Dorfes, der Gemeinschaft. Aber Elisa hatte von dieser Gemeinschaft hin und wieder die Nase voll. Und gerade heute sehnte sie sich noch nach etwas Einsamkeit, denn am Abend wurde das Genaro – das große Fest gefeiert. Da würden dann auch wieder alle zugegen sein. Alle Bewohner ihrer kleinen Welt.

    Nein, für den Moment lag die junge Frau lieber hier im Gras. Die Augen geschlossen. Entspannt. Zufrieden. Geborgen.

    Doch da! Etwas knackte im Unterholz. Der Eichelhäher schlug Alarm. Urplötzlich wurde es still, unheimlich. Was war da los? Das war kein Tier, so viel war Elisa sofort klar. Angst beschlich sie.  War ihr doch jemand gefolgt? Unwahrscheinlich. Alle anderen waren schon vor ihr nach Hause aufgebrochen. Was dann?

    War es einer der Irratio? Einer jener Geister, die hinter der Grenze herrschten? Elisa fröstelte. So musste es ja einmal kommen. Wie oft hatten sie ihre Mutter und ihr Onkel nicht davor gewarnt, hierhin zu gehen. So nah dem verbotenen Wald – dem Reich der Irratio. Elisa hatte das immer abgetan. Aber nun überkam sie dieses Schaudern.

    Ängstlich kauerte sich die junge Frau ins Gras und wartete. Wieder knackte es. Jemand kam. Elisa konnte seine Anwesenheit deutlich spüren. Alle Muskeln ihres Körpers waren zum Bersten gespannt. Gebannt richtete sie ihren Blick auf die gegenüberliegende Seite der Lichtung.

    Äste knackten, Blätter raschelten. Dann schließlich, nach einer schieren Ewigkeit, bahnte sich eine Gestalt den Weg durch die Hecken. Ein, zwei, drei Schritte und sie trat auf die Lichtung hinaus. Elisa hielt die Luft an, damit nur ja kein Laut über ihre Lippen drang. Sie schaute ihn an.

    Der, der dort stand, war ein Mann. Womöglich. Jemand, den Elisa jedoch noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Dabei kannte sie alle Männer ihrer Welt. Die junge Frau war irritiert. Auch davon, dass der dort zwar aussah wie ein Mann, aber doch auch wieder so ganz und gar nicht.

    Sie betrachtete ihn eingehend und mit wachsender Neugier. Er trug seltsame Kleider. Sie schienen weder aus Leinen noch aus Wolle zu sein –  wie Elisas eigene Kleidung. Der da hatte etwas Blaues an. Eine Art enges Kleid, das vom Hals bis zu den Füßen reichte. So etwas hatte die junge Frau noch nie gesehen. Und dann hatte dieser blaue Mann da noch so ein seltsames, metallisches Ding auf seiner Nase. Und Haare, Haare hatte er auch keine mehr.

    Für einen Moment hatte Elisas unbändige Neugier die Oberhand über ihre Gefühle erlangt, doch kehrte die Angst unvermittelt zurück, denn der blaue Mann setzte sich wieder in Bewegung und kam nun direkt auf Elisa zu.

    Während er ging, schaute er sich suchend und unschlüssig um. So, als habe er sich verlaufen oder als suche er etwas. Schritt für Schritt kam er näher an Elisa heran.

    Noch waren es fünfzehn Schritte, bis er Elisa unweigerlich entdecken musste. Noch zehn, noch fünf. Abrupt blieb der blaue Mann stehen. Elisas Herz schlug ihr bis zum Hals. Der blaue Mann stand jetzt still, richtete seinen Blick in die Sonne und zögerte. Da, er holte etwas aus seinem blauen Kleid hervor und hielt es der Sonne entgegen. Was tat er da? War das eine Zeremonie? Elisa schaute gebannt hin.

    Eine Zeitlang stand der blaue Mann einfach so da und hielt so etwas wie ein Kästchen gen Himmel. Die Sekunden dehnten sich zur Ewigkeit. Doch je länger es dauerte und je länger Elisa ihn genauer betrachtete, desto mehr wich die Angst wieder ihrer Neugier. Der, der da vor ihr stand, war wirklich ein richtiger Mensch. Ein dicker gar, mit gutgewachsenem Bäuchlein. Und auf dem Kopf fehlte ihm das ein oder andere Haar. So aus der Nähe betrachtet, strahlte der blaue Mann ganz und gar nichts Furcht erregendes aus. Er wirkte eher unbeholfen und gutmütig.

    Nun nahm der blaue Mann die Hände wieder herunter und verstaute den Kasten in seinem Kleid. Er klopfte mit den Händen auf seine Hüften und setzte sich tapsend in Bewegung. Elisa atmete erleichtert auf, denn er schlug den Weg ein, auf dem er hergekommen war. Immer weiter entfernte er sich von der im Gras kauernden Elisa. Wenige Augenblicke später hatte der blaue Mann den Waldrand erreicht. Dort sah Elisa ihn noch unbeholfen stolpern, dann verschwand er unter Flüchen zwischen den Hecken.

    Einsam und friedlich lag die Lichtung wieder da. Die unheimliche Stille war alsbald vorüber. Erst zaghaft, doch dann umso ausgelassener fingen die Vögel wieder an zu zwitschern. Elisas Herz aber  schlug noch immer wie verrückt. Für einige Augenblicke verharrte sie weiterhin kauernd auf dem Boden, dann fiel die Anspannung von ihr ab und sie atmete tief durch. Es dauerte eine Weile, ehe sie sich gänzlich beruhigt hatte. Um sie herum war schon alles wieder so, als sei nie etwas gewesen. Die Vögel sangen, die Bienen summten und die Blätter raschelten im Wind.

    Elisa saß im Gras und starrte auf den Waldrand, dem seltsam anmutenden Mann hinterher. Und da war sie wieder. Diese Neugier. Was hatte das zu bedeuten? Wer war das? Zu bizarr war die ganze Szenerie gewesen, als dass Elisa sie hatte begreifen können. Darum wollte die junge Frau unbedingt mehr erfahren. Und so Furcht erregend war dieser Mann doch gar nicht gewesen! Also packte sie all ihren Mut zusammen, stand auf und ging langsam auf die Stelle des Waldes zu, wo der blaue Mann soeben verschwunden war.

    Sie betrachtete die dichte Hecke aus Schlehdorn. Eigentlich war hier kein Durchkommen, doch dann entdeckte sie die Fußspuren. An jener Stelle gab es eine kleine Lücke zwischen den Büschen. Sie zauderte, wischte ihre Zweifel aber rasch beiseite und zwängte sich zwischen den Ästen hindurch.

    Als die Hecken sie wieder freigaben, stand sie in einem lichten Wald aus Buchen und Eichen. Deutlich sah sie die Spuren des blauen Mannes. Von Wissendurst getrieben folgte sie diesen Spuren tiefer in den Wald hinein. Die Augen fest auf den Boden gerichtet, um seine Spur nicht zu verlieren, lief sie über den Waldboden. Mit jedem Schritt wurde der Wald um sie herum dichter und finsterer. Irgendwann stand sie vor einer dichten Wand aus Fichten, die sich drohend gen Himmel reckten.

    Überrascht hob Elisa den Blick vom Boden, schaute auf die Stämme der Bäume und schrak zusammen. Das Blut wich ihr aus dem Gesicht, als sich ihre Augen auf das unübersehbare Zeichen auf den Bäumen hefteten: das Mal der Irratio. Es zeigte einen dicken roten Kopf mit einer grässlichen Fratze und verzerrten Augen. Groß und unmissverständlich prangte das Zeichen an den Bäumen. Die Botschaft war unmissverständlich: Wage es ja nicht weiterzugehen!

    Denn hier begann das Reich der Irratio. Das war sie also, die Grenze zum verbotenen Wald. Bis hierher und nicht weiter, so besagte es der Codex. Auf der anderen Seite lag das Reich der Geister, das Reich des Todes.

    Beim Anblick des Mals begann die junge Frau zu zittern. Fassungslos über ihre eigene Unvernunft haderte sie mit sich selbst: Hatte das Schicksal sie nicht schon genug verschont für heute? Musste sie es denn geradezu noch herausfordern?

    Elisa wollte nur noch weg. Nur noch nach Hause. Sie schaute sich um. Alles schien ruhig. Nichts war zu sehen, nichts zu hören. Einigermaßen beruhigt drehte sich Elisa um und schlich langsam zurück zur Lichtung. Dabei drehte sie sich immer wieder ängstlich um, um zu sehen, ob ihr nicht doch jemand oder etwas folgte. Doch da war nichts. So erreichte sie schließlich wieder ihre Lichtung. Dort angekommen fiel sie ins Gras und begann zu weinen. Sie konnte die Tränen einfach nicht zurückhalten.

    Doch schon bald waren die Tränen versiegt. Und Elisa wurde wütend. Sie hatte doch nichts Böses getan. Nein, er war es. Dieser seltsame, blaue Mann. Er war einfach so hier in ihre beschauliche, kleine Welt eingebrochen. Was hatte er hier zu suchen? Elisa wusste es nicht, doch sie ahnte, dass da weitaus mehr dahintersteckte. Und sie würde es herausfinden. Langsam setzte die Dämmerung ein. Es war Zeit, nach Hause zu gehen. Mit gemischten Gefühlen machte sich die junge Frau auf den Heimweg. 

    Tief in Gedanken versunken lief sie durch den Wald. Elisa kannte den Weg in und auswendig, so oft schon war sie ihn gegangen. Während ihre Füße dem schmalen Weg folgten, kreisten in ihrem Kopf die Gedanken. Alles war so merkwürdig, so äußerst absurd. Wer war dieser blaue Mann?! Wo kam er her? Was hatte er dort getan? So sehr war sie mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie auf die Welt um sie herum gar nicht mehr achtete.

    Erst als sie den Wald verließ und sich vor ihr die Felder erstreckten, wurde sie aus ihrem Grübeln gerissen. Doch da war es schon zu spät. Nicht weit von ihr entfernt sah sie den Franz. Elisa biss sich auf die Lippe und fluchte innerlich. Der hatte ihr gerade noch gefehlt! Was für ein Tag!

    Nun, der Franz war nicht gerade ein furchtbarer oder gar unansehnlicher Zeitgenosse. Ganz im Gegenteil. Er war groß, kräftig und gut gebaut – ein blonder Hüne mit wallender Mähne. Selbst Elisa gestand sich ein, dass sie ihn anziehend fand; so lange er allerdings mehr als zehn Meter entfernt war und nicht den Mund auftat. Denn wenn er sprach, brachte Elisa das immer in Rage. Nun, er sprach nicht viel, nicht viel Gescheites jedenfalls. Aber oh, wie sie es hasste, wenn er anfing zu prahlen. Hach, er war einfach dumm wie Stroh, fand Elisa. Und eine Begegnung mit ihm war nun genau das, was sie noch gebrauchen konnte.

    Der blonde Jüngling hatte Elisa bisher den Rücken zugewandt und war zu sehr mit seinem Pferd und seinem Karren beschäftigt gewesen, um Elisa zu bemerken. Die junge Frau hoffte für einen winzigen Augenblick, es könnte ihr gelingen, sich wieder leise in den Wald zurück zu schleichen. Doch zu spät. Der Franz drehte sich um und schaute ihr geradewegs in die Augen.

    Fürs erste war er völlig verdutzt, dann jedoch grinste er bis über beide Ohren. Elisa erwiderte sein Grinsen sichtlich gequält. Langsam lugte auch der Kopf des Pferdes hinter seinem Rücken hervor. Es bleckte die Zähne, wieherte und stand damit seinem Besitzer in nichts nach. Elisa schaute das Pferd an, schaute den Franz an und fragte sich unweigerlich, ob nun das Pferd grinste und Franz die Zähne bleckte und wieherte oder umgekehrt. Schließlich wieherten beide. Eigentlich hätte Elisa da lachen müssen, aber im Augenblick war ihr nicht zum Lachen zumute. 

    „Na, Elisa", feixte Franz und holte Elisa wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.

    „Hallo Franz, entgegnete Elisa seufzend, „noch nicht zu Hause? Wohl oder übel würde sie nun mit dem Franz heimwärts gehen müssen. Was konnte sie sich bloß einfallen lassen, damit das nur halbwegs erträglich wurde?

    „Nö, mein Klepper hier, antwortete der Franz und klopfte seinem Pferd aufs Hinterteil, „der tut sich schwer mit der Karre. Ist ihm wohl zu voll beladen.

    Ja, ja du lässt schon auch immer gern die anderen schuften, dachte Elisa und bedauerte das arme Pferd. Da kam ihr eine Idee.

    „Warum hilfst du ihm denn nicht beim Schieben?", fragte sie den Franz ganz frech.

    Von dieser Frage war der Franz sichtlich überrumpelt und so wusste er zunächst auch nichts darauf zu antworten. Stattdessen kaute er verlegen auf seiner Unterlippe.

    „Hm, vielleicht hast du recht", sagte er schließlich.

    „Ich könnte ja vorne gehen und das Pferd führen. Du könntest von hinten schieben. Und wir wären ratz fatz zu Hause", sagte Elisa sichtlich erfreut über ihren Einfall.

    „Gute Idee", befand Franz und nickte. Schon ging er um die Karre herum nach hinten und legte Hand an. Elisa nahm die Trense des Pferdes in die Hand und war erleichtert darüber, dass der Franz ihr nicht zu enge Gesellschaft leistete, sondern schön hinten die Karre anschob.

    „Na gut. Franz, dann wollen wir mal nach Hause. Allez hopp", rief sie und gab dem Pferd einen Klaps. So setzte sich der Tross in Bewegung. Elisa vorneweg, das Pferd ihr nach und ganz hinten schob der Franz. So trotteten sie einträchtig daher.

    „Warst du wieder im Wald?", fragte der Franz nach einer Weile leicht keuchend.

    Elisa schwieg. Sie wusste, dass die anderen hinter ihrem Rücken über sie tuschelten. Doch das war ihr egal. Schließlich traute sich sonst niemand, zu der Lichtung zu gehen. So hatte sie dort wenigstens ihre Ruhe davor, ständig beobachtet und für gut oder schlecht befunden zu werden.

    „Was hast du denn auf der Karre geladen?", fragte Elisa dann, anstatt ihm eine Antwort auf seine Frage zu geben.

    „Och, nur ein wenig Holz für den Winter, erwiderte Franz. „Weißt du, direkt am Waldrand stand so eine riesige alte, dürre Eiche.

    Er hob die Hände über den Kopf und deutete an, wie riesig der Baum gewesen war.

    „Der Wind hat sie umgeworfen und nun habe ich sie Stück für Stück zersägt und mit dem Pferd nach Hause geholt. So ein Baum war das, sag ich dir!"

    Elisa wusste, dass er ein wenig übertrieb. Ein Blick auf den Karren verriet ihr, dass der Baum wohl nicht ganz so dick gewesen war. Aber tüchtig war der Franz allemal, das musste Elisa zugeben.

    „Holz habe ich reichlich für den Winter. Schön warm und kuschelig ist es dann bei mir. Weißt du, wenn ich mal eine Frau hab, die soll es gut haben. Auch in den Wald könnte die gehen. Das wäre schon in Ordnung", erklärte er keuchend, denn das Pferd war müde und Franz schob und mühte sich redlich mit der schweren Karre.

    Elisa zog die Augenbraue hoch. Was in aller Welt meinte er damit?

    Franz war zweiundzwanzig, ein Jahr älter als Elisa. Er war mittlerweile alt genug, so dass er schon alleine auf einem Hof wohnte und darauf wartete, zu heiraten. In dem Alter, in dem Elisa und Franz waren, wurden die Ehen nun mal geschlossen. Die junge Frau musste an die Zeit denken, als sie noch Kinder waren. Sie, Franz und Janos hatten hin und wieder miteinander gespielt.

    Während Franz eben Franz war, hatte sie Janos abgöttisch geliebt. Er war so lustig und herzlich gewesen. Mit ihm hatte sie Pferde stehlen können. Wie lange war das schon her, dass er nicht mehr unter ihnen weilte? Er hatte gehen müssen, zum Wohle für seine Familie und für alle Menschen. Geopfert den Irratio. So war es nun einmal. Elisa schluckte. Ihr Herz wurde traurig, als sie nun an ihn dachte. Was für ein seltsamer Tag, dachte sie. Was wohl heute sonst noch alles geschehen mochte? Doch Elisa rief sich zu Ordnung und wischte die düsteren Gedanken beiseite. Es war eben so.

    Die junge Frau richtete ihren  Blick auf die Landschaft um sie herum. Das beruhigte sie immer. Elisa betrachtete die Felder und Wiesen längs des Weges. Sanft und ruhig lagen sie da in der Dämmerung. An den feuchteren Stellen blühte noch das Wiesenschaumkraut. Elisa mochte diese zarten, kleinen Pflänzchen, waren sie doch eher unscheinbare Frühlingsboten. Die Bäume entlang der Allee standen bereits in saftigem Grün. Ihre Mächtigkeit erfüllte Elisa immer wieder mit Ehrfurcht.

    Vor Elisa, Franz und seinem Pferd waren nun auch bereits die Dächer der kleinen Häuser ihres Dorfes zu sehen. Das Pferd wieherte. Offenbar hatte es begriffen, dass es bald daheim im Stall sein würde. 

    „Na, bald sind wir ja zu Hause", sagte Elisa, nur um etwas gesagt zu haben.

    „Wird auch Zeit", japste der Franz von hinten.

    Missmutig aber auch nicht ganz ohne Vorfreude dachte Elisa an das Frühlingsfest, das sie heute Abend feiern würden. Es war eines dieser großen Feste, auf dem sich alle trafen und miteinander feierten. Und es waren eben auch die Gelegenheiten, wo die großen Ankündigungen gemacht wurden. Unter anderem die, wer wen heiratete.

    Elisa wusste, dass sie dies nicht mehr völlig ignorieren konnte. Sie war nun einmal im heiratsfähigen Alter. Und da es nicht so sonderlich viele passende junge, unverheiratete Männer gab, blieb fast nur der Franz übrig.

    So einfältig eben jener auch sein mochte, selbst er hatte wohl so seine Schlüsse gezogen. Elisa war in letzter Zeit schon öfter aufgefallen, wie er sie anschaute. Keineswegs aufdringlich, aber begehrend. Und so wie er vorhin gesprochen hatte? Sie hatte es immer verdrängt, aber bei dem, was ihr heute schon widerfahren war, würde das auch noch ins Bild passen.

    Aber Elisa wollte nicht heiraten! Und schon gar nicht den Franz. Niemals! Ihre innere Abneigung steigerte sich in eine wahre Wut gegenüber der Welt und gegenüber dem, wie alles zu sein hatte. Grollend beschleunigte Elisa ihren Schritt. Das Pferd folgte ihr bereitwillig, war es doch das Signal zum Endspurt nach Hause in den Stall. Doch mit einem Mal zügelte Elisa abrupt das Tempo und blieb stehen.

    Die junge Frau stand stocksteif da und schaute unschlüssig in Richtung Dorf. Sie sah von dort eine Gestalt heraneilen. Elisa erkannte ihren Onkel Jakob. Die wehenden grauen Haare und der leicht wiegende Gang waren unverkennbar. Von weitem wirkte es auf Elisa immer so, als umgebe ihn ein unsichtbares Leuchten. Das Leuchten des Allwissenden, des Ersten unter den Menschen.

    Das war ihr Onkel. Er verfügte über ein enormes Wissen. Der weise Mann wusste alles über die Pflanzen, die Tiere und auch die Menschen. Und er wusste alles über diese Welt und die Welt der Irratio auf der anderen Seite. Als Erster unter den Menschen war ihr Onkel auch der Vermittler zwischen diesen beiden Welten. Jakob genoss ein hohes Ansehen, denn er war es auch, der mit Heilpflanzen umzugehen wusste und die Menschen gesund machen konnte. Er war Lehrer, Priester und Freund.

    Elisa mochte ihn sehr; sie waren gute Freunde. Nur heute verstörte sie sein Anblick mehr, als dass sie sich darüber freute. So kam denn dieser Mann ihnen immer näher – etwas trieb ihn – und bald schon hatte er Elisa und Franz erreicht.

    „Hallo, keuchte er, „gut, dass ich euch hier treffe! Seine Verlegenheit konnte er jedoch nicht ganz verbergen.

    Der Franz grinste verdattert. Elisa runzelte die Stirn. Sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte.  Kam ihr Onkel etwa, um mit ihr und dem Franz alleine über gewisse Dinge zu sprechen? Jetzt dämmerte es Elisa. Natürlich, die anderen waren bereits alle zu Hause und nur sie beide waren noch nicht ins Dorf zurückgekehrt. Da lag es doch nahe, dass sie wohl zusammen von den Feldern heimkamen. Und wer weiß, was die Leute sich noch alles so zusammenreimten. Elisa schluckte schwer. Sie ahnte, was kommen würde. Und sie sah, dass auch der Franz in diese Richtung dachte. Er grinste immer noch. Elisa starrte ihren Onkel mit offenem Mund an.

    Jakob war mittlerweile wieder zu Atem gekommen und blickte etwas verwirrt drein. Dann schien er der vertrackten Situation irgendwie gewahr zu werden, denn schließlich sagte er etwas umständlich: „Äh, nun ja, ich meinte, schön dass ihr beide zusammen ins Dorf kommt. Zu zweit. Ja. Obwohl ich ja nur mit Elisa gerechnet hatte. Hähä. Aber jetzt seid ihr beide ja hier und...".

    Elisas Unwohlsein wuchs. Sie kniff die Augen zusammen und fixierte ihren Onkel. Was sollte das bitte schön? Franz grinste immer noch, aber er begriff nun auch nichts mehr. Sein Pferd wieherte und zog kurzzeitig die Blicke auf sich. Musste der dämliche Gaul schon wieder so grinsen?

    „Ihr zwei. Ja. Mann  und Frau. Oh. Äh", stammelte Jakob mit hochrotem Kopf.

    Dann hatte er sich aber wieder im Griff, ging zu dem blonden Jüngling hin und legte ihm väterlich die Hand auf die Schulter: Ach Franz, es wäre gut, wenn ich einmal mit der Elisa allein sprechen könnte. Du weißt schon. Vielleicht machst du dich schon mal mit deinem Pferd und deiner Karre allein auf den Weg ins Dorf. Es ist ja nicht mehr so weit und wir sehen uns dann ja gleich auf dem Fest. 

    Der Franz wusste nicht so recht, wie ihm geschah, dann zuckte er jedoch mit den Achseln und trieb sein Pferd an. Polternd setzte sich der Karren in Bewegung. Elisa und Jakob blickten ihnen nach. Franz ging nun voraus, das Pferd und der Karren rumpelten hinterdrein. Nach einer Weile wurde das Rumpeln leiser und Franz befand sich gänzlich außer Hörweite.

    Elisa wartete. In ihr brodelte es, aber sie sagte nichts. Sie blickte ihren Onkel nur ernst und grimmig an. All das, was nun kommen mochte; er sollte es wahrlich nicht leicht haben. Wenn er heute Abend eine Verlobung – ihre Verlobung – bekannt geben wollte, dann nur über ihre Leiche. Ihre Antwort stand fest und die würde sie auch nie in ihrem Leben ändern. Für niemanden, den sie kannte.

    Ihr Onkel schaute immer noch dem Franz hinterher. Dabei kratzte er sich mit der Hand am Hinterkopf, so als sei er sehr verlegen. Dieses Gebaren kannte Elisa von ihm gar nicht. Aber an diesem Tag wunderte sie sich über nichts mehr. Langsam drehte sich Jakob zu ihr um und schaute seine Nichte an.

    „Komm mit", sagte er dann und ging ein Stück in Richtung Dorf. Elisa folgte ihm wortlos. Er steuerte auf eine kleine Bank am Wegesrand zu. Unweit davon lag ein Steinhaufen, den die Dorfbewohner über die Jahrzehnte hinweg aufgeschichtet hatten. Jakob ließ sich auf der Bank nieder. Elisa tat es ihm gleich. Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Dann las Jakob einen Stein vom Boden auf und betrachtete ihn eingehend. 

    Schließlich begann er zu reden: „Das Leben ist schon seltsam. Sieh nur diesen Stein hier. Ein Quarzit. Vor langer Zeit waren das einmal Sandkörner, die ins Meer gespült wurden. Dort haben sie sich auf dem Grund des Meeres angesammelt. Mehr und mehr Körner kamen dazu. So ging es eine lange Zeit und weil obenauf immer mehr Körner hinzukamen, wurde der Sand zu Stein, zu Sandstein. Dann verging wieder eine lange Zeit. Der Sandstein wurde nochmals zusammengedrückt.

    Die Sandkörner wurden noch mehr zusammengepresst und am Ende entstand dann dieser Quarzit. Aber es dauerte viele Menschenleben, bis er überhaupt einmal aus der Tiefe der Erde ans Tageslicht kam. Dort haben ihn dann unsere Mütter und Väter aus dem Boden herausgeschlagen und mit ihm ein Haus gebaut. Viele, viele Jahre haben sie darin gelebt – Eltern, Söhne, Töchter und Enkel – bis das Haus eines Tages zusammenfiel. Dann haben sie mit den anderen Steinen ein neues Haus gebaut. Nur diesen Stein hier, den brauchten sie nicht mehr und brachten ihn hierher auf die Wiesen, wo er nun neben so vielen anderen liegt und darauf wartet, dass mit ihm etwas Neues erschaffen wird." Jakob seufzte und holte tief Luft.

    „Was denkst du?, wandte er sich an seine Nichte. „Wenn er reden könnte, was würde er uns wohl zu sagen haben? Über uns. Über unsere Vorfahren. Er könnte so einige wundersame Geschichten erzählen. Er würde dir auch einige Dinge erzählen, die du vielleicht gar nicht begreifen könntest. Denn wir Menschen haben auch eine Geschichte. Eine Geschichte, die ich euch schon so oft erzählt habe und auch eine Geschichte, die ich dir noch nicht erzählt habe. Unser Leben war nicht immer so wie wir es heute führen. Die Menschen früher haben ein wenig anders gelebt als wir heute.

    Jakob geriet ins Stocken. Immer noch sah er seine Nichte nicht an. „Aber was uns und den Stein verbindet ist, dass es uns gibt. Den Stein und uns Menschen. Der Stein wird noch lange da sein...", fügte Jakob noch hinzu und verstummte schließlich. Sein Blick wurde trüb und verlor sich in der Ferne.

    Elisa hatte die ganze Zeit neben ihm gesessen und ihm zugehört. Aber sie hatte nicht wirklich begriffen, worauf er hinaus wollte. Was sollte das? Da ihr Onkel von alleine nicht mehr weiter zu reden schien, sah sie sich genötigt, eine Frage zu stellen: „Warum erzählst du mir das alles?"

    „Weil Menschen manchmal Dinge sehen, die sie eigentlich gar nicht sehen sollten. Dinge, die sie nicht begreifen können", gab er ihr zur Antwort. Dabei blickte er noch immer gedankenversunken auf die Steine. Nun war es an Elisa, vollends verwirrt zu sein. Wusste ihr Onkel, dass sie auf der Lichtung diesen Fremden gesehen hatte? Aber woher sollte er das wissen? 

    „Was meinst du damit?", fragte sie ihn.

    „Nun, die Dinge sind manchmal nicht so wie sie scheinen", sagte er geheimnisvoll. „Leider auch nicht in unserer Welt hier. Glaub mir, wenn es einfach

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