Die Frau aus der Geisterwelt
Von Anne Grasse
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Über dieses E-Book
Sie war gestorben. Doch sie lebt weiter - und findet sich in der Steinzeit wieder. Sharon findet sich in dieser seltsamen Welt nur schwer zurecht. Durch die Hilfe einer Steinzeitsippe lernt sie, sich diesem neuen Leben anzupassen. Sie findet Freunde und ein neues Zuhause. Doch kann ein moderner, zivilisierter Mensch auf Dauer in dieser Zeit leben?
Ein historischer Roman mit einer Prise Mystik.
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Buchvorschau
Die Frau aus der Geisterwelt - Anne Grasse
Ein mysteriöses Erwachen
Sie hörte ein leises Wimmern und begriff nur langsam, dass sie selbst diese Töne ausstieß. Angst und Entsetzen lähmten sie. Anscheinend war sie noch am Leben. Sie müsste doch tot sein. Sie wagte kaum zu atmen, wartete voller Furcht auf die Schmerzen, die kommen mussten. Erst als sie nach Luft rang und ihren stoßweisen Atem hörte, begriff sie, dass ihr nichts wehtat. Immer noch lag sie bewegungslos, doch sie spürte nun etwas unter ihren Händen, unter ihrem Körper.
Sie schien auf dem Bauch zu liegen. Ganz langsam begann sie zu tasten und bemerkte Pflanzen, vielleicht Gräser und Erde. Eine neue Empfindung kam hinzu: Es war kühl – und feucht. Eine Weile lag sie nur da, spürte wie sich das rasende Pochen ihres Herzens beruhigte und nahm die kleinen Geräusche wahr, die sie hörte. Rascheln, eine Art Prasseln – Wasser?
Sie wunderte sich – sie hatte immer noch keine Schmerzen. Wie konnte das sein? Die Felskante war senkrecht und entsetzlich tief gewesen. Sie konnte diesen Sturz nicht überlebt haben – und schon gar nicht unverletzt.
Erst jetzt bemerkte sie, dass die Dunkelheit, die sie umgab, daher kam, weil sie die Augen geschlossen hatte. Langsam hob sie die Lider, es wurde kaum heller. Irgendetwas war unangenehm. Kam jetzt der Schmerz? Sie wartete voller Angst. Nein, aber irgendetwas berührte sie, immer wieder. Dann begriff sie endlich. Es regnete – und zwar recht heftig.
Sie schüttelte den Kopf – es tat nicht weh. Sie hob die Hand – auch nichts. Langsam wälzte sie sich auf den Rücken – kein Schmerz. Aber nun trommelte der Regen ihr voll ins Gesicht. Sie drehte sich wieder auf den Bauch und stemmte sich hoch – und begriff schlagartig, dass sie nackt war. Sie erstarrte, dann tastete sie sich langsam ab. Nackt, nass, aber unverletzt.
Sie sah sich um. Es goss in Strömen und es war Nacht. Sie konnte nur undeutliche Schemen erkennen. Aber eines war sicher – hier gab es keine senkrechte Felswand, keine tiefe Schlucht, deren Boden sie kaum hatte erkennen können.
Stattdessen stand sie an dem Hang eines sanft ansteigenden Hügels. Unter ihren Füßen waren Gräser, in der Nähe schienen Büsche zu wachsen. Ein greller Lichtschein und fast sofortiger lauter, grollender Donner ließ sie zusammenzucken. Es blitzte, sie stand mitten in einem Gewitter.
Immer mehr Fragen tauchten in ihrem Kopf auf. Wo war sie? Was war geschehen? Und wieso hatte sie nichts an? Sie müsste tot sein. Sie hatte noch nie an ein Leben nach dem Tod geglaubt. Und wenn dies hier so etwas sein sollte, dann war es äußerst seltsam. Sie musste grinsen, als sie sich vorstellte, wie die verschiedenen Religionen auf eine derartige Schilderung des Todes bzw. des Lebens nach dem Tod reagieren würden. Das Paradies war dies hier nicht, und die Hölle konnte es auch nicht sein.
Da sie keine ihrer Fragen beantworten konnte, versuchte sie, diese erst einmal zu ignorieren und an das Nächstliegende und Praktische zu denken: Sie stand nackt und pitschnass mitten in einem Gewitter. Vielleicht sollte sie erst einmal Schutz vor dem Regen suchen. Und dann brauchte sie Kleidung. Was die Frage aufwarf, wie sie ihren Zustand anderen Leuten erklären sollte. Sie seufzte, es wäre um einiges leichter, wenn sie wirklich tot wäre.
Langsam und vorsichtig tastete sie sich vorwärts, unendlich froh darüber, dass ihre Füße nicht sonderlich empfindlich waren. Der Boden war uneben und das Gras hart. Doch nachdem sie sich mehrmals empfindlich an unsichtbaren, scharfkantigen Steinen gestoßen hatte, gab sie auf und kauerte sich einfach unter einem dichten Busch nieder. Ihr schien nichts anderes übrig zu bleiben, als abzuwarten bis das Gewitter vorbei war, oder zumindest die Nacht vorüberging. Hoffentlich war es nicht erst Abend, dann müsste sie viele Stunden warten. Langsam wurde ihr empfindlich kalt.
Im Schein der Blitze konnte sie Büsche, Bäume und offenes Land erkennen. Hügel, aber keine Berge. Sie war im Gebirge gewesen, als sie ihre Entscheidung traf – vor dem Sturz. Doch wo war sie jetzt? Und vor allem: Wie war sie hierhergekommen?
Sie konnte nicht sagen, wie lange sie gewartet und gefroren hatte, als der Regen nachzulassen begann. Gleichzeitig schien es unmerklich heller zu werden. Und als aus dem Gewitterguss ein feines Tröpfeln geworden war, färbte sich endlich der Horizont rosa.
Sie atmete auf. Die Dunkelheit hatte die vielen Fragen noch drängender und die Angst noch größer werden lassen. Jetzt, in der zunehmenden Helligkeit, schienen die Furcht und das Entsetzen nachzulassen. Wieder sah sie sich um und beschloss, auf den Hügel zu steigen. Von dort konnte sie – hoffentlich – eine Siedlung oder zumindest ein Gehöft, eine Straße oder sonst etwas erkennen, das ihr weiterhelfen würde.
Vorsichtig umging sie eine große Fläche niedrigen, dornigen Gestrüpps und beglückwünschte sich, dass sie in der Nacht nicht in das widerliche Zeug hineingelaufen war. Ein lautes Brüllen ließ sie erstarren. Erschrocken wandte sie sich um. Wieder ertönte ein tiefes, dumpfes Brüllen. Ganz langsam schlich sie in die Richtung und erkannte, dass sie nicht am Fuß des Hügels war, wie sie angenommen hatte. Der Abhang setzte sich fort und keine hundert Meter entfernt lagen große, dunkle Körper auf der Erde.
Sharons Augen wurden immer größer, als die Tiere sich erhoben. Sie ähnelten Rindern, waren aber wesentlich zottiger, und ihre Hörner sahen gefährlich aus. Einige Sekunden lang starrten sich die nackte Frau und die kleine Herde gegenseitig an. Dann brüllte das Leittier auf und setzte sich in Bewegung – auf sie zu. Gelähmt vor Angst war sie unfähig, sich zu bewegen. Dicht vor ihr blieb das Leittier stehen. Sie rang nach Luft, sinnlose Worte kamen über ihre Lippen: „Ich tu dir nichts, braves Vieh. Geh einfach zurück, ja? Geh einfach zurück."
Seine Augen schlossen sich kurz, dann senkte das Tier den großen Kopf, wandte sich seitwärts und führte die kleine Herde an der Frau vorbei. Diese schüttelte sich vor Erleichterung und fragte sich, wer nun mehr Angst gehabt hatte? Gleich darauf schrie sie entsetzt auf.
Zwei Körper tauchten urplötzlich aus dem hohen Gras auf. Zwei Gesichter starrten sie an. Zwei Münder öffneten sich und ein Schwall Worte ergoss sich über sie. Erschrocken blickte sie auf die Männer, erinnerte sich daran, dass sie nackt war und wich zurück.
„Bleibt, wo ihr seid."
Die Männer blieben stehen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Würden diese Männer ihre Lage ausnutzen oder ihr helfen?
„Bitte, ich weiß nicht wo ich bin. Nicht einmal, was geschehen ist. Können Sie mir helfen?"
Mit den Händen versuchte sie, sich zu bedecken. Einer der Männer antwortete ihr, doch sie verstand kein Wort. Nun fiel ihr auf, dass deren Kleidung seltsam aussah. Sie bestand ausschließlich aus Leder. Nicht nur die Hosen, auch die Hemden waren eindeutig echtes Leder – und es sah fremdartig aus.
Und warum trugen die Männer Stangen in den Händen? Sie erbleichte, als sie erkannte, dass es in Wirklichkeit Speere oder Lanzen waren. Einer der beiden trat langsam vor. Rasch wich sie voller Furcht zurück. Seine Augen zogen sich zusammen, dann schien er zu begreifen, dass sie Angst vor ihm hatte. Er lächelte, langsam legte er die dicke Holzlanze auf den Boden und richtete sich ebenso langsam wieder auf.
Vorsichtig lächelte sie zurück und wunderte sich. Ihre Nacktheit schien ihn nicht zu stören. Er wirkte weder verlegen noch verwundert. Und glücklicherweise auch nicht lüstern. Wieder sprach er, und sie versuchte, die Sprache zu erkennen, ergebnislos. Sie hatte keine Ähnlichkeit mit irgendeiner ihr bekannten Sprache.
„Können Sie mich verstehen? Bitte nicken Sie, wenn Sie mich verstehen."
Keine Reaktion. Er verstand sie also ebenso wenig wie sie ihn. Wo um alles in Welt war sie? Sie war ratlos, aber auf keinen Fall würde sie nackt mit ihnen gehen. Langsam machte sie eine Bewegung, als ob sie etwas um sich legte. Der Mann schien zu überlegen, dann nickte er endlich. Er wandte sich seinem Begleiter zu und sprach auf ihn ein.
Der andere warf ihr einen seltsamen Blick zu und lief dann fort. Der Sprecher lächelte sie wieder an und setzte sich dann langsam auf den Boden. Seine Handbewegung schien sie aufzufordern, dasselbe zu machen. Sie blickte erst misstrauisch nach unten. Der Boden war nass, aber das war sie auch. Also hockte sie sich hin, sicherheitshalber immer noch einige Schritte entfernt.
Der Mann sprach sie an, stellte ihr offensichtlich Fragen, doch sie konnte seine Gesten nicht deuten und zuckte mit den Schultern. Wieder fragte er, deutete zum Himmel und auf die Erde. Sie begriff nicht und zeigte es ihm. Schließlich gab er auf, und sie warteten.
Sie musterte ihn. Er war schlank, und dass er groß war, hatte sie vorher schon bemerkt. Sein Gesicht war leicht gebräunt, er schien viel im Freien zu sein. Die blaugrauen Augen blickten offen in die ihren. Am meisten wunderte sie sich über seine Haare. Sie waren von einem unauffälligen Braun, fielen fast bis auf die Schultern und waren ziemlich ungepflegt.
Sharn begann die Einzelheiten der Kleidung zu betrachten und schluckte plötzlich. Jetzt wusste sie, warum sie der Anblick mit Unbehagen erfüllt hatte. Sowohl Hemd wie Hose waren mit Tierfellen und Haaren verziert. Vielmehr Stücken aus Tierfellen – Pfoten, Ohren und Schwänze. Auch Krallen und Zähne waren angenäht oder auf Schnüren gezogen und als Ketten umgehängt. Und er war – barfuß!
Sie runzelte die Stirn und überlegte weiter. Gehörte er irgendeiner obskuren Natursekte an? In Amerika gab es ja schließlich die verrücktesten Leute. Auch in Montana hatte sie schon von Gruppen gelesen, die nach irgendwelchen absonderlichen Regeln zu leben versuchten. Aber wieso verstand der Mann sie nicht? Sie hatte schließlich Englisch gesprochen.
Dieser hatte die Musterung schweigend über sich ergehen lassen, sie allerdings ebenso genau betrachtet. Es war ihr peinlich und langsam kroch wieder die Angst in ihr hoch. Musste er sie so anstarren, obwohl sie nackt war?
Er begann wieder zu sprechen, sagte jedoch nur ein einziges Wort. Glücklicherweise klang es nicht bedrohlich. Sie sah ihn fragend an. Er wiederholte das Wort und zeigte auf seine Brust. Sie begriff und nickte. Beim dritten Mal versuchte sie, die Silben nachzusprechen. Es klang mehr als seltsam, doch sein Name schien „Falomar" zu sein. Er nickte begeistert, als sie das Wort nachsprach. Einen Moment überlegte sie, ob sie ihren Namen nennen sollte. Doch warum eigentlich nicht?
„Sharon" sagte sie deutlich.
„Schä-ronn" wiederholte der Mann. Nun ja, vermutlich war ihre Aussprache seines Namens auch nicht besser gewesen.
Sein Begleiter tauchte wieder auf, er trug etwas in seinen Händen. Sie konnte ihre Angst kaum verbergen, als er näher kam. Falomar bemerkte es, hob die Hand und sagte etwas. Der Mann blieb stehen. Dann kam er ganz langsam näher und setzte sich behutsam neben seinen Gefährten. Er streckte die Hände aus und legte das Bündel vor Sharon auf den Boden.
Falomar nickte ihr auffordernd zu. Sharon zog es zu sich, es schien eine Art Decke zu sein. Ebenfalls aus Leder, aber erstaunlich weich. Dankbar wickelte sie sich darin ein und lächelte den beiden zu. Sie fühlte sich gleich um einiges besser und seltsamerweise auch sicherer, obwohl das unsinnig war.
Falomar zeigte auf seinen Begleiter: „Tenizin".
„Tenizin", wiederholte sie und wurde mit einem strahlenden Lächeln der beiden belohnt.
Falomar zeigte in eine Richtung, dann auf sie und blickte sie fragend an. Sharon nickte. Wenn die beiden sie überwältigen wollten, hätten sie dies schon lange tun können. Außerdem brauchte sie dringend Hilfe. Vielleicht konnten die Männer sie irgendwohin bringen, wo man Englisch sprach.
Sie gingen Stunden. Sharon staunte, wie rasch die Männer über den unebenen Boden liefen. Und sie hatte sich eingebildet, gut barfuß laufen zu können. Doch die beiden erkannten schnell, dass sie kaum mithalten konnte und passten sich ihrem Tempo an.
Offenes Grasland mit unzähligen – ziemlich kalten – Bächen wechselte mit kleinen Baumgruppen. Immer wieder blickte sie sich verwirrt um. Wo war das Gebirge geblieben? Sie war tief in die Glacier-Berge hineingefahren und hatte sich eine der schroffsten, steilsten Gegenden ausgesucht. Doch hier waren nur Hügel, kleinere und größere.
Obwohl es keinen erkennbaren Weg gab, schienen die Männer genau zu wissen, in welche Richtung sie einschlagen mussten. So weit Sharon sehen konnte, gab es nicht die geringsten Anzeichen auf Straßen, geschweige denn Ortschaften. Endlich wandte sich Falomar um, lächelte und deutete nach vorne. Sharon suchte, doch sie sah kein Haus oder irgendein sonstiges Gebäude. Vor ihr ragte ein Berg auf, vielleicht auch nur ein größerer Hügel. Jedenfalls war er steiler und höher als die bisherigen. Auf halber Höhe schien sich etwas zu bewegen.
Jetzt konnte sie auch eine Art Weg erkennen, der hinauf führte. Dort war ein großes Felsenband zu erkennen, das wie eine tiefe Terrasse im Berg aussah. Langsam folgte sie ihren Führern und beobachtete die Menschen, die dort oben waren und nun auf sie aufmerksam wurden. Unwillkürlich zog sie die Decke enger um sich. Tenizin lief voraus und schien ihre Ankunft anzukündigen.
Sharon blieb stehen, als eine Frau auf sie zukam. Auch sie trug Lederkleidung. Ihre Haare wirkten ungepflegt und sie war ebenfalls barfuß. Falomar sprach rasch auf sie ein. Die Frau lächelte, nickte und winkte. Skeptisch betrachtete Sharon die Menschenmenge. Sie zuckte zurück, als einer der Fremden nach ihr griff. Falomar stieß einige Worte aus, und der Mann riss erschrocken die Augen auf und trat zurück.
Sharon schluckte, was ging hier vor sich? Langsam und verängstigt folgte sie der Frau. Die Felsen bildeten hier einen riesigen Überhang, der die ‚Terrasse‘ überdachte. Wie eine riesige Höhle, die jedoch nach vorne offen war. Sharon riss ungläubig und staunend die Augen auf, als sie die seltsamen Bauten sah, die hier errichtet waren. Mit aufgeschichteten Steinen oder Holzstangen, zwischen denen große Lederdecken gespannt waren, hatte man hier Kammern errichtet.
„Au!"