Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Grüne Zeiten: Roman
Grüne Zeiten: Roman
Grüne Zeiten: Roman
eBook337 Seiten4 Stunden

Grüne Zeiten: Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Walter Klier erzählt in Grüne Zeiten die turbulente Geschichte des Erwachsenwerdens einer Generation. Die Wohngemeinschaft um Martin Rauch bildet die Kulisse zum studentischen Lebensgefühl der beginnenden achtziger Jahre: Man denkt grün, liebt sich und streitet - über Politik und Zukunft, über
Mülltrennung und die Pieselfrage: Darf man als emanzipierter Zeitgenosse im Stehen pinkeln?
Ein humorvoller und feinsinniger Roman über die Verführungskraft idealistischen Denkens und die Loslösung von der Schönheit der Illusion.
SpracheDeutsch
HerausgeberLimbus Verlag
Erscheinungsdatum18. Feb. 2014
ISBN9783902534224
Grüne Zeiten: Roman

Mehr von Walter Klier lesen

Ähnlich wie Grüne Zeiten

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Grüne Zeiten

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Grüne Zeiten - Walter Klier

    Walter Klier

    Grüne Zeiten

    Roman

    Was für eine Zeit! Die Finsternis der Jugend hatte sich gelichtet. Wir lebten in einer großen Wohnung in einem schönen alten Haus. Wir tranken schlechten Wein und aßen ziemlich unregelmäßig. Der Fortschritt war fast schon besiegt, und es war unser Werk. Wir waren Teil einer Bewegung. Wir waren der neue Mensch. Wir gingen spät schlafen und kamen am Morgen nicht aus dem Bett. Wir dachten nicht und fühlten richtig, sagt Betty, wenn wir über damals reden.

    Jeb Lawson, A Time in Waiting

    1

    Wenn er nur still hielt, erledigte manches sich von selber. Das war schon mit sieben so gewesen, als Martin Rauch zur ersten heiligen Beichte viel zu spät kam, so dass alle anderen, auch der Pfarrer, längst gegangen waren. Die Kirche war nachmittäglich leer und dunkel, und eine Zeitlang stand er hinten und überlegte, was hier zu tun wäre. Schließlich machte er sich einfach aus dem Staub, hinaus auf die weite, sonnenwarme Straße, wo ihm gleich viel wohler war. Als die Mutter ihn fragte, wie es gewesen sei, sagte er: «Gar nicht so schlimm.» Je näher der Tag der Erstkommunion rückte, desto mehr beunruhigte ihn die Angelegenheit. Er würde das Sakrament ja nun im Stand der Sünde empfangen; er fand allerdings keinen Weg, dem Missstand abzuhelfen. Dann war es so weit, und er stand in blauem Blazer und neuer grauer Hose mit den anderen in Zweierreihe vor der Kirche, in einer separaten Zweierreihe daneben, überirdisch weiß, die Mädchen. Er schob den Moment, an dem er aus der Reihe treten und den bereits im Ornat befindlichen und unaufhaltsam an der Feierlichkeitsschraube drehenden Stellvertreter Gottes oder wenigstens den nicht ganz so furchteinflößenden Kooperator ansprechen würde, immer weiter hinaus. Schließlich begann die Messe, und damit war die Lage ausweglos geworden. Auf die Gefahr hin, eine beträchtliche himmlische Strafe aufgebrummt zu bekommen, nahm er die Hostie, einfach so wie alle anderen, in seinen unverändert mit der Erbsünde behafteten Leib auf und versuchte sich nicht nur vor den Menschen, sondern auch vor Gott möglichst unauffällig zu verhalten. Er würde das irgendwie ins Lot bringen. Doch bei der nächsten, für ihn ersten Beichte konnte er sich nicht überwinden, mit der eminenten Verfehlung herauszurücken, und begnügte sich mit dem Geständnis, die Fastengebote übertreten, die Eltern beschwindelt und den Namen des Herrn unnötigerweise in den Mund genommen zu haben.

    Mit zwölf verlor er das Interesse an der Religion und begann stattdessen Briefmarken zu sammeln. Das ging ungefähr bis fünfzehn gut. Da begann, was auf dem Rücken eines von der Großmutter übriggebliebenen Romans aus alter Zeit so treffend Die Jagd nach Liebe hieß, die sich bei ihm anscheinend ungewöhnlich in die Länge zog. In der Woche, als er die mündliche Reifeprüfung bestand, wurden im Spiegel die neuesten Daten über Jugendsexualität veröffentlicht. Er studierte sie genau. Es waren anschauliche Kurven, die klarmachten, in wie rarer Gesellschaft er sich befand, wenn er mit achtzehn noch nicht das Vergnügen gehabt hatte.

    Nach der Matura kam das Militär, und dann kam die Freiheit. Die Universität erleichterte den Kontakt zum anderen Geschlecht, im Vergleich zum Knabengymnasium, doch erheblich. Zumindest in so unmännlichen Fächern wie Deutsch und Englisch, dem Stufenbarren unter den Geisteswissenschaften, war die Frau zahlenmäßig gleichgestellt. Mit den Kolleginnen ins Gespräch zu kommen, die ihrerseits dasselbe Problem hatten, bedurfte es keiner besonderen Listen, und es ergab sich zwanglos, dass man nach der Vorlesung mitsammen ins Café Thaler ging. Auf den kleinen runden Tischen breiteten sie ihre konfusen Mitschriften aus. Vielleicht würde man den Rätseln der hochdeutschen Lautverschiebung hier auf die Spur kommen. Die festverschraubten stumpfbraunen LederimitatBänke im Stil der sechziger Jahre hatten in regelmäßigen Abständen blankgewetzte Dellen. Die waren im Gegensatz zum Rest glänzend rot und gaben an, wo genau man sich zu setzen hatte. Die Zigarettenasche landete – man war noch ungeübt – nie im Aschenbecher, sondern wanderte vom Schreibblock auf die gelbe Resopaloberfläche und mischte sich dort mit den Coca-Cola-Ringen und Kaffeeresten zu einem Klebstoff, der mit den Ellenbogen großzügig verteilt wurde.

    Im ersten Jahr machte Martin Rauch die Bekanntschaft einer Anzahl kleiner, dünner, streberhafter Vorarlbergerinnen und ebensolcher, doch an ihrem Studienfach auffallend desinteressierter Südtirolerinnen, die sich nicht nur nicht für die Literatur jenseits der Leselisten, sondern auch nicht fürs Kino oder den Jazz begeistern konnten. Und wenn, dann war diese Begeisterung durchsichtig, oberflächlich, es fehlte das banalste Grundlagenwissen.

    Es gab eine Ausnahme, Elisabeth Berghofer, von Freunden Betty gerufen. Sie stammte nicht aus den genannten Ländern, sondern aus Oberösterreich, und trug als einziger Mensch ihrer Zeit keine grüne Parka, sondern eine braune, etwas abgeschabte Lederjacke. Das verlieh ihr, zusammen mit den randlosen Brillen, dem gescheitelten, halblangen, straff nach hinten gebundenen Haar und ihrer tadellosen linken Gesinnung etwas Strenges, um nicht zu sagen Politkommissarhaftes: ein Eindruck, der gleich verflog, wenn die Rede auf ihre Lieblingsautoren kam, George Eliot oder Jane Austen, von denen sich Rauch umso lieber erzählen ließ, als er sie selber nicht gelesen hatte. Er versuchte mit Flaubert und Marcel Proust zu punkten, doch bei letzterem wurde es Elisabeth zu bürgerlich-dekadent.

    In jedem Fall war sie außer Reichweite, nämlich in einer festen Beziehung. Er sah sie manchmal mit diesem Menschen Arm in Arm auf der Straße gehen, den er nicht leiden konnte, obwohl er ihn gar nicht kannte. Dabei hätte er ihm dankbar sein müssen und war es insgeheim auch. Bettys Freund, politisch noch strikter als sie, bewahrte ihn vor der Zumutung, eine Annäherung im Ernst zu unternehmen. Sie nahm ihm auch dann den Mut, wenn sie, zwischendurch unstreng, in ihr raumfüllendes Lachen ausbrach, das sie größer wirken ließ, als sie war, nämlich fast so groß wie er und eindeutig größer als die vielen fleißigen Kolleginnen, die sich ohne Zweifel innerhalb der Mindeststudiendauer (welch ein Wort) zu hundertprozentig systemerhaltenden Gymnasiallehrerinnen fortentwickeln würden.

    Im dritten Semester absolvierte Rauch das erste Seminar. Es handelte von den Methoden der deutschen Literaturwissenschaft, und man war angehalten, sich Gedanken über das Handwerkszeug der Wissenschaft und dessen richtigen Gebrauch zu machen. Für die vierköpfige Referatsgruppe, in der er sich befand, war das Endergebnis dieser Reflexion ein Mordsstreit mit den damals noch intellektuell regen und stets wachsamen Marxisten. Deren geistliches Oberhaupt, Morak, ein höheres Semester mit langem Haar, Bart und Krankenkassenbrillen, der die Parka auch in gutbeheizten Räumen nie ablegte, um bereit zu sein, sollte die Revolution überraschend losbrechen, war fassungslos, zu welch erzreaktionären Ansichten sie da in ihrer heiligen Einfalt gelangt waren. Die Literaturwissenschaft habe die Aufgabe, zu einer allgemeinen Bedeutung des jeweiligen Textes zu gelangen, etwas, das sie «umfassende Interpretation» nannten. Der Begriff stammte von Rauch, und er war sehr stolz darauf gewesen. Dieser Stolz verlor sich ohne Rückstände in dem Gebrüll und Gezeter, das den Hörsaal füllte. Der Dozent verlor die Kontrolle über das Geschehen, und Rauch, Mumelter, Mair und Niedermeyer kamen über die einleitenden Bemerkungen nie hinaus. Der Professor, dem sie später die schriftliche Fassung des Referats vorlegten, dachte glücklicherweise gleich altmodisch wie sie.

    Betty Berghofer lachte schallend, als er von dem Eklat erzählte, und sagte, ihn müsse man tatsächlich ins Museum für spätbürgerliche Ausnahmeerscheinungen stellen. Sie hatte inzwischen von der Germanistik zur Geschichte gewechselt. So sahen sie sich seltener, da er seinerseits die Anglistik wegen schwer erträglicher Langweiligkeit boykottierte; doch wann immer sie sich trafen, mussten sie auf ein Stündchen ins Café Thaler oder, als dieses zugesperrt wurde, notgedrungen gegenüber ins biedere Murauer.

    Bettys feste Beziehung hatte sich mittlerweile wegen Differenzen über die führende Rolle der kommunistischen Partei (die sie nicht akzeptierte) in eine unfeste verwandelt. Allerdings war von ihr selber dazu nichts zu vernehmen. Sie legte in den Schwung, mit dem sie sich das Haar aus dem Gesicht fegte, zwar alle Verachtung der Welt für konventionelle Tugenden und Vorschriften, doch folgte für sie daraus nicht, dass das eigene Intimleben vor anderen Leuten ausgebreitet zu werden hatte. Im äußersten Fall sagte sie: «Das soll jeder halten, wie er will.» Folgte der bekannte Haarschwung, manchmal mit Hilfe der rechten Hand ausgeführt, manchmal ohne, und der dünne weiße Strich des Mittelscheitels glänzte streng.

    Das Methodenseminar verhalf Martin Rauch nicht nur zu einem Schein, wie die Bestätigung für den positiven Abschluss einer Lehrveranstaltung in der Verwaltungssprache hieß, sondern auch zur langersehnten Frau fürs Leben, zumindest zu deren Bekanntschaft. Sie hieß Viktoria, und er belagerte sie in diesem Winter beharrlich. Da sie Kaffeehäuser verabscheute, musste er sich alles Mögliche ausdenken, damit er sie daheim besuchen konnte. Sie wohnte in einem winzigen Zimmer am anderen Innufer, in der Gilmgasse, wo es immer zu kühl war und drunten die Autos vorbeibrausten, dass die Scheiben klirrten. Aus dem Kassettenrecorder tönten Georges Brassens und Jacques Brel, mit deren Leben und Werk er sich nun vertraut machte, obwohl er sonst ausschließlich für Jazz zu haben war. Von der so unbestimmten wie umfassenden Traurigkeit der Studienanfänger erfüllt saßen sie beisammen und tranken Tee und redeten. Wie man den kleinen Schritt vom Reden zum Tun bewerkstelligen sollte, blieb ihm weiterhin ein Rätsel.

    Noch im Februar versuchte sie sich während eines endlosen nächtlichen Heimwegs von einem Fest mit einem «Bleiben wir einfach Freunde» aus der Affäre zu ziehen. Aber Martin nahm nach Wochen dumpfer Resignation die Belagerung unverdrossen wieder auf. Aus Gründen, die ihm selber nicht klar wurden, durfte es nur sie und keine andere sein. Nicht dass eine andere irgendwo in Sicht gewesen wäre.

    Erst im milden Monat Mai kriegte er sie herum. Da gingen sie an lauen Abenden am Inn entlang, die jahreszeitlich bedingt leichtere Kleidung wird ein Übriges getan haben, die jugendliche Verstiegenheit zu überwinden, und Mitte Juni war es so weit. Er blieb eine Nacht über bei ihr, und wenn es dabei auch in sorgfältiger Aufrechterhaltung letzter Schamgrenzen nicht zum Äußersten kam, so konnte er doch mit einigem Recht davon ausgehen, dass der Großteil des Rückstands auf die Altersgenossen mithin aufgeholt war.

    Das Semester ging zu Ende, ein Tag war heißer und sommerlicher als der andere, und er konnte weitere drei Nächte in ihrem Bett verbuchen. Am Morgen ging es im Galopp nach Hause, mit einer Mischung aus Stolz und Peinlichkeit an allfällig anwesenden Familienmitgliedern vorbei, das Bergzeug herausgeholt und allein, frei und jubilierend hinaus in die Natur, hinauf ins Gebirg und im Alleingang haarsträubende Touren wie den Gipfelstürmerweg auf die Kleine Ochsenwand begangen. Schlafen konnte man in höherem Alter.

    Er verlegte sich dann mehr auf die Sprachwissenschaft, die ihm seriöser vorkam als die Literaturwissenschaft, mit oder ohne Marx und Morak. Auf dem kleinen, schläfrigen Institut mit den staubigen, grauen Leuten fand er eine Geborgenheit, die in dem massenuniversitären Durchhaus der Germanistik oder der Anglistik kaum denkbar war. Da saß man zu zweit in der Vorlesung Indogermanische Sprachen in unvollständiger oder relikthafter Bezeugung, und Professor Meidlinger sprach nur für sie zweieinhalb Stunden nonstop, in den Kunstpausen pfauchend und schnaufend und mit leicht aufgeblasenen Backen wie ein gutgelaunter Kater. Er sprach frei und fixierte ohne Ausnahme eine der Zimmerecken, schaute seine zwei Hörer nur zu Beginn und Ende der Veranstaltung einmal kurz an, und dazwischen malten sie beflissen Reihen von Wörtern ab, die es womöglich nie gegeben hatte, Rauch und der hagere, abenteuerlich stotternde Francesco Böhm, der alle gängigen Theorien über die Entstehung der menschlichen Sprache für Humbug hielt. Seine eigene Theorie dazu würde er in absehbarer Zeit präsentieren. Vorderhand wollte er davon offenbar nichts verraten.

    Dann fuhr Martin Rauch für elf Monate ins Ausland. Die Zeit in Dundee, der Industriestadt an der schottischen Ostküste, verdankte er Viktoria. Die Liebe war groß und schwer zwischen ihnen am Gedeihen und am Schwanken; trotz alledem verlangte sie von ihm, sich für das Assistentenjahr zu bewerben, das ihnen als Fremdsprachenstudenten offenstand. Für sie, so sagte sie, war das der Beginn ihres eigentlichen Lebens gewesen. So riss er sich unter grässlichen Trennungsschmerzen los und lebte elf Monate dort im Norden mit einem fahrigen Franzosen und einem cholerischen und kälteempfindlichen Spanier in einer Wohnung, die mindestens so unwirtlich war wie die Viktorias in der Gilmgasse, versuchte sich als pädagogische Hilfskraft und trank eindeutig zu viel.

    Ohne sie war es kaum auszuhalten, von den Mühen des Lebens in der Fremde ganz abgesehen, aber sie hatte recht: Man wurde so erst ein richtiger Mensch.

    Im Frühjahr fuhr er mit befreundeten deutschen und französischen Assistenten zusammen nach Torness, einem Ort bei Edinburgh, wo sie mit tausenden anderen drei Tage lang gegen den geplanten Bau eines Atomkraftwerks demonstrierten. Am erstaunlichsten war, dass die Polizei, anstatt die Demonstranten zu verprügeln, den vom Stocken bedrohten Verkehr regelte und mit dem Besitzer des Feldes verhandelte, damit sie dort kampieren durften. Sie aßen pampigen Naturreis von Plastiktellern, gingen von einem Stand zum anderen, wo zwischen Baghwans und Punks, zwischen Radikalfeministinnen und Trotzkisten der Supermarkt der kommenden und gehenden Ideen gut bestückt war. Am Abend saßen sie am Lagerfeuer nicht weit vom Meer und leerten die mitgebrachten Bierdosen und Whiskyflaschen. Dieser besonderen Art von freudiger Erregung, dem Aufgehobensein in einem größeren, guten Ganzen war Martin Rauch zum ersten Mal zwei Jahre zuvor begegnet.

    Er hatte eine Reportage über die linken Anthroposophen gelesen, deren Zentrum sich in Achberg bei Lindau befand. Zu dritt fuhren sie dorthin und ließen sich die «Projekte» zeigen und erklären; verzaubert von dem Vorhaben, den Geist von Achtundsechzig mit der Geheim- und sonstigen Wissenschaft des Doktor Rudolf Steiner zu vermählen, dort auf dem Land, in den grünen Hügeln hinter dem Bodensee, saßen sie in der Teestube und lauschten dem weißhaarig-löwenmähnigen Peter Schilinski, wie er verkündete: «Die letzte freie Universität ist die Kneipe; da werden bloß die Scheißhäuser und die Gläser kontrolliert.»

    Beim Abschied waren sie überrascht, wie viel die Erneuerer der Menschheit für das dreimalige Zelten auf der Wiese hinterm Haus verlangten. Doch irgendwo musste das Geld herkommen, für die Arbeit des Vernetzens, die Bücher, Zeitschriften, Kongresse. Viel wichtiger aber war die menschliche Ausstrahlung dieser Leute, deren Begeisterung, zumindest für eine Zeitlang, auf Martin und seine Freunde übergriff. So fiel er dem Buchhändler Stefan mit der Forderung auf die Nerven, Rudolf Steiners gesammelte Werke ins Sortiment zu nehmen und dazu die Schriftenreihe der Achberger, insbesondere die Sachen über den «Dritten Weg» (zwischen Kapitalismus und Kommunismus). Stefan hatte die Buchhandlung Pegasus gerade eröffnet, in einem winzigen Geschäftslokal draußen in der Amraser Straße, und er lachte bei Rauchs sozusagen mit glühenden Wangen vorgetragenen Ausführungen. Er sagte, «Das darfst nicht so verbissen sehen», und dann hielt er Rauch eine kurze Vorlesung über Habermas und die Theorie des kommunikativen Handelns, worüber er gerade im Begriff war seine Dissertation zu schreiben.

    Martin Rauch war unter den Gründern des Lesekreises «Die Dreigliederung des sozialen Organismus», dem er selber nach dem dritten Abend fernblieb, Viktoria schon nach dem ersten. Doch die Drachensaat sollte, mit einiger Verspätung, prächtig aufgehen. Viktoria, die sein Engagement mit distanziertem Hochmut verfolgt hatte, begann sich, während er in Schottland war, für die Anthroposophie zu interessieren. Damit war es auf längere Sicht nicht nur um ihren Agnostizismus, sondern auch um die Liebe zwischen ihnen geschehen. Sie zog nach Stuttgart, um die Lehrerausbildung für Waldorfschulen zu machen. Da hatte sie sich zu der Erkenntnis durchgerungen, dass sie beide trotz aller Differenzen in den kleinen, mittleren und auch großen Dingen des Lebens letztlich für einander geschaffen seien, während er nach schwerem innerem Kampf von eben dieser Meinung wiederum abgekommen war, die er gehegt hatte, seit sie einander im Rahmen der Methoden der deutschen Literaturwissenschaft über den Weg gelaufen waren.

    Zudem lernte er, von der fernen Viktoria unbemerkt, in jenem Herbst Charlotte kennen und rasch als «erste normale Frau» in seinem Leben schätzen und, weniger rasch und schließlich, wie immer, sich ihrer Initiative überlassend, lieben. Charlotte büßte er allerdings ziemlich bald wieder ein. Sie desertierte zu einem ehemaligen Jugend-Staatsmeister im Kunstturnen, Spezialgebiet Seitpferd, der im Zivilberuf eine Sparkassenabteilung leitete. Im Weiteren verzettelte sich das Rauchsche Liebesleben in seltene, so unübersichtliche wie unbefriedigende Beziehungs-Kurzgeschichten, deren letzte, eher eine Anekdote von Kleistscher Knappheit, jene mit einer gewissen Franziska war, die aus einem Abend, einer Nacht und einem Morgen bestand und wovon wegen der für beide Seiten eminenten Peinlichkeit, ja Unerfreulichkeit des Ereignisses, oder soll man Zwischenfall sagen, hier nicht weiter die Rede sein soll.

    2

    Martin Rauch zog nicht im Streit von daheim aus. Er blieb in der Stadt zurück, als die Eltern, bei nahender Pensionierung, sich ihren Lebenstraum erfüllten. Sie kauften sich ein Haus am Stadtrand, thujenumwachsen und schuldenfrei. Das Zimmer, das sie Martin dort einrichteten und für ihn freihielten, bezog er nie.

    Er traf nämlich um diese Zeit wieder einmal Betty Berghofer, seine Sonne trüber Montagvormittage zwischen Altenglisch und der Hauptvorlesung, im Café Murauer. Sie hatte noch die restlichen vier aus der Vormittagsration Flirt Filter zu rauchen, und nachdem sie und Martin einiges über die Stumpfsinnigkeit der gesamten Kollegen- sowie Professorenschaft zu Protokoll gegeben hatten, berichtete sie von einer neu zu begründenden WG, die noch ein – wegen der Geschlechterparität – männliches Mitglied suchte, eine Formulierung, die im Sinne der Glieder- und Geschlechterbewusstheit der Epoche schon als pleonastisch zu bezeichnen war.

    «Ich kann dich vorschlagen», sagte sie. «Du musst dich dann mit uns treffen, damit wir sehen, ob wir alle zueinanderpassen.»

    Das klang gruselig, und an Schauergeschichten vom Leben in den Wohngemeinschaften herrschte kein Mangel. In 15 William Street, Dundee, hatte er selber einige zu Herzen gehende Erfahrungen machen können. Betty schien ihm dafür zu garantieren, dass es dort, wo sie mit von der Partie war, nicht gar zu schlimm würde. In jedem Fall schauderte ihn bei der Vorstellung, im gepflegten elterlichen Heim sozusagen alt zu werden, mehr als alles andere. In Egerdach bestand akute Gefahr, den Geist der Zeit aus den Augen zu verlieren.

    Alle vier Großeltern Rauch stammten aus dem Dreieck zwischen Wien, Prag und Brünn und hatten, als letzte Erben der habsburgischen Monarchie, von dort eine relativ städtische Kultur mitgebracht, den selbstgewissen Besitz einer halbverschütteten klassischen Bildung, die keiner Ergänzung mehr bedurfte. Diese urbane Kultur hatte sich, nach Martins und seiner Schwester Magdalena übereinstimmender Ansicht, unter den Händen der Elterngeneration während der Jahrzehnte hier im Gebirge in eine relativ ländliche verwandelt in dem Maß, wie sie sich Sitten, Gebräuche und vor allem die Sprache des zweitwestlichsten Bundeslandes aneigneten, ja in sich aufsaugten. Das Bergsteigen, das die Eltern gemäßigt betrieben, der Sohn exzessiv, fiel hierbei unter «Sitten und Gebräuche».

    Magdalena ging nach der Matura nach Wien und schickte sich an, die inneralpine Verländlichung rückgängig zu machen, was sie aber nicht nur dem Bruder, sondern auch, auf andere Weise, den Eltern entfremdete. Sie sahen grüne Haare und ultrakurze schwarze Lederröcke bei Frauen nicht als Signale wiedergewonnener Höhe, sondern als Absturz in die Barbarei, vielleicht sogar die Hölle der Drogenszene.

    Dass Magdalena sich mit Elan der gebirglerisch harschen Reibelaute und Affrikaten entledigte und sich sprachlich an den neunzehnten Wiener Gemeindebezirk assimilierte, machte ihre modische Extravaganz nicht wett, sondern verschlimmerte das Ganze bloß. In jenen Jahren wurde sie in der Familien-Gesamtbilanz als verlorene Tochter geführt, was zusammen mit des Sohnes Weigerung oder Unfähigkeit, sich zügig zum Universitätsprofessor weiterzuentwickeln, zu einer gewissen Verdüsterung bei den älteren Rauchs führte, die durch die Freude am Eigenheim nur gerade eben wettgemacht wurde. Erst als sie sich einen Hund, eine Tiroler Bracke namens Wasti, anschafften, kamen sie dem seelischen Gleichgewicht wieder näher.

    Martin Rauch bestand die Aufnahmeprüfung in die geplante WG, und bald darauf zog er in die Gilmgasse.

    Ein paar Häuser oberhalb der Bruchbude, in der Viktoria gewohnt hatte und wo er in dem winzigen dunkelgrün gestrichenen Zimmer zur Straße im Getöse des Autoverkehrs eines lauen Junimorgens endlich seine Unschuld verloren hatte, gab es eine weitere Bruchbude. Die Nummer siebzehn war eine Villa auf halber Höhe der Gasse, ein quadratischer Bau mit großem, wild wucherndem Garten nach Westen und Norden, einer Mauer mit Torbogen gegen die Gasse und einem Türmchen auf der Spitze des pyramidenförmigen Daches. Das Haus war ein schönes Haus, vor fast zweihundert Jahren hatte es sich ein wohlhabender Arzt bauen lassen. Später war es einige Male verkauft und zuletzt unter verschiedene Erben aufgeteilt worden, die die Wohnungen vermieteten und sich selbst über kleine Reparaturen nie einigen konnten, geschweige denn über Renovierung oder Verkauf. Niemand fühlte sich für das Ganze verantwortlich, und so sah es auch aus: sehr romantisch, wie Besucher oft bestätigten. Auch die WG-Mitglieder selber fanden es romantisch, obgleich das Wohnen mit manchen Strapazen behaftet war, etwa der Unmöglichkeit, die Räume ordentlich zu beheizen.

    Das Haus war kunsthistorisch wertvoll; die wichtigste Sehenswürdigkeit im ersten Stock stellte die Stuckdecke in Peters (vormals Annemaries, vormals Katrins) Zimmer dar. Eines Morgens um halb neun stand der für den Vormittag avisierte oberste städtische Denkmalschützer, Herr Hofrat Candolini, mit einer Gruppe Studenten bei Peter im Zimmer; dem war es noch gelungen, den Bademantel überzuwerfen, und während der Besuch die gut erhaltene Original-Stukkatur von 1799 oder 1805 (die Quellen widersprechen sich da) erklärt bekam und betrachtete und sich konfuse und später nicht mehr entzifferbare Notizen machte, wie es die Art der Studenten ist, suchte Peter zwischen ihren Füßen die verstreut liegenden Kleidungsstücke zusammen, um sich endlich ins Bad verdrücken zu können. In späteren Jahren wurde die Wohnungs-Heldensage weiter ausgeschmückt: mit überquellenden Aschenbechern, halbleerer Weinflasche neben dem Bett, nackter Freundin im Bett und was sonst geeignet wäre, Kunsthistorikerinnen im dritten Semester zu verstören.

    Die Verwahrlosung des Hauses ging zu dieser Zeit bereits in Verfall über. Unter anderen Umständen wäre der ehemals elegante Bau einfach abgerissen worden. Das verhinderte der Herr Hofrat, der an dem Ensemble einen Narren gefressen hatte, und alles blieb, wie es war. Der Putz bröckelte und das Mauerwerk, das darunter zum Vorschein kam, ebenfalls, das Dach wurde manchmal notdürftig geflickt, und vor allem an der straßenseitigen Fassade wuchs die Schicht aus Ruß, Staub und Taubendreck immer dicker an.

    Unten stand eine Wohnung leer; sie gehörte, wie es hieß, jemandem, der in Amerika lebte. In der anderen wohnte Frau Erna Schintlholzer, Hausbesorgerin, fortgeschrittenen Alters und mit wechselnden Lebensgefährten. Dem vorläufig letzten, der sich an einem Sommerabend hatte trollen müssen, war durch den Hausgang hinterhergeschallt: «Auf dein Grab geh ich nie!» Er hatte zurückgerufen: «Dafür geh ich auf deins!»

    Der Art, wie Schintlholzer ihre Liebesgeschichten handhabte, galt die ungeteilte Bewunderung des weiblichen Teils der WG. Dass die alte Dame von ihrem emanzipierten Privatleben abgesehen eindeutig unter dem Stichwort Faschistin abzuheften war, trübte ihr Image nur geringfügig.

    Im zweiten Stock, in der lauten Ostwohnung, wohnte das Ehepaar Kapinski. Beide etwas Mittleres beim Stadtmagistrat, hatten sie vier Jahrzehnte Berufsleben offenbar ganz unverbraucht überstanden und lebten nun pensioniert so ruhig und unauffällig wie zuvor. An Kindes statt besaßen sie drei Katzen, gleich alt, gleich groß und grau getigert, ehemals männlichen Geschlechts. Sie waren nur von Fachleuten mit einiger Sicherheit zu unterscheiden, hießen Kaspar, Melchior und Balthasar, was Schintlholzer für blasphemisch hielt, und bildeten den Kitt im Sozialgefüge des Hauses. Alle Parteien versuchten sich, mit wechselndem Erfolg, an ihrer Fütterung. Die drei wanderten, meistens allein, manchmal im Rudel, durchs Stiegenhaus und ließen sich bewundern, und wenn ihnen danach war, gingen sie in die Wohnung mit, und dann tat man gut daran, etwas für sie vorrätig zu haben, was ihnen auch schmeckte. Sonst hörten sie nicht mehr auf zu maunzen und fixierten ihr Opfer mit dem anklagenden Blick der getretenen Kreatur, dass diesem ganz schwummelig wurde und alle theoretischen Erörterungen, inwieweit solche Tiere eigentlich ein «natürliches Leben» führten, vergessen waren. Die tierliebende Birgit litt besonders unter der kätzischen Angewohnheit, in Garten oder Haus gefangene Vögel und Mäuse im Hausgang zu massakrieren. Die Opfer wurden entweder auf der Stelle verspeist, wobei von Mäusen einige Innereien und von Vögeln das Federkleid übrig blieben; oder aber Balthasar et al. legten den kleinen Leichnam auf dem Fußabstreifer ab und miauten herzzerreißend, bis jemand aufmachte oder vorbeikam; sie wollten für die schändliche Tat auch noch gelobt werden.

    In der ruhigeren Westwohnung, gegen den Garten hin, lebte Dr. Benedikt Greul, Gymnasialprofessor um die vierzig, beleibt, bebrillt, alleinstehend, mit seiner Großmutter, die den Haushalt führte. Sie hieß Amalie, war im Gegensatz zu ihrem Enkel klein, mager und hielt sich gerade; sie hatte den vorletzten, also den letzten richtigen, Kaiser noch mit eigenen Augen gesehen.

    Professor Greul war der einzige arbeitende Mensch im Haus. Wochentags hastete er zu nachtschlafender Zeit die knackende Holztreppe hinunter, hinaus auf die Gasse, hinunter in die Stadt und zu seiner Schule, knappe zwanzig Minuten Gehzeit. Damit hielt er sich in Form. Mittags traf man ihn manchmal, wie er zu Tode erschöpft von der Schule heimkam, von seinen Muppets, wie er sagte. Amalie

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1