Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Löwentatze
Löwentatze
Löwentatze
eBook359 Seiten5 Stunden

Löwentatze

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Adam Zumstein, Historiker, aus dem gemütlichen Städtchen Greifswald stammend, stolpert im 22. Jahrhundert in seiner Doktorarbeit im fernen Greenley nahe den Rocky Mountains über ein unfassbares Projekt, welches gut 200 Jahre zurückliegt. Dabei beruft er sich auf populärwissenschaftliche Quellen, was den Oberen der altehrwürdigen Universität völlig unangebracht und unwissenschaftlich erscheint. Intrigen spinnen sich zusammen. Zum Glück hat Adam Freunde, die auf eine geniale Idee kommen...
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum28. Apr. 2015
ISBN9783738025286
Löwentatze

Ähnlich wie Löwentatze

Ähnliche E-Books

Fantasy für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Löwentatze

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Löwentatze - Albert Hurny, Mady L. Hurny

    Kapitel I

    „Sieben Uhr!", schnarrte der vom Servanten gesteuerte Weckrufer.

    Adam Zumstein wälzte seine neunzig Kilo auf die andere Seite und zog die Decke über die Ohren. Nach einer Minute meldete sich der lästige Mahner abermals, diesmal einige Phon lauter. Nach dem fünften Weckruf, nun schon in der Lautstärke einer Trompete, gab sich 

    Adam Zumstein geschlagen und tapste ins Bad. Der Ausschalter befand sich neben dem Waschbecken.

    Das muss ein Sadist ausgeheckt haben, dachte er wütend. Wer weiß denn am Abend, wie müde er noch am Morgen ist? Das Miststück lässt einem keine Chance!

    Er duschte, erst heiß, dann kalt, das ermunterte ihn vollends, rasierte sich danach - den Huschelpeter, wie er den Badservanten nannte, nutzte er nur zum Haare schneiden und zur Massage - kleidete sich an und fuhr hinab in den Essraum. Als er ihn betrat, rief er „Hallo!" und winkte unbestimmt. Er hielt es für weltmännisch. Die zunächst Sitzenden hoben lässig die Hand, ohne sich in ihren Gesprächen stören zu lassen.

    Wie an jedem Morgen musste er erst das Programm des Servier-Servanten ergänzen. Der hier übliche Haferflockenbrei widerstand ihm. Sein europäischer Magen verlangte nach Brötchen, nach Butter, Wurst, Honig und vor allem nach starkem Kaffee. Während er auf die Erfüllung seiner Sonderwünsche wartete, was einige Zeit dauerte, weil nur Kräutertee tischfertig bereit stand, beobachtete er die Mitbewohner des Heimes - Studenten der Hochschule für Landwirtschaft. Seine Kontakte zu den jungen Leuten beschränkten sich auf einen freundlichen Gruß, wenn er mit ihnen zusammentraf. Sie luden ihn stets zu ihren lautstarken Abendgeselligkeiten ein, doch er hatte immer einen Vorwand gefunden, sich davor zu drücken. Er fühlte sich fremd unter ihnen. Sie behandelten ihn wie einen Onkel in reiferen Jahren, dem man zwar Respekt bezeigt und dessen Schrullen man toleriert, mit dem man aber nichts Rechtes anzufangen weiß. Wozu also hätte er bei ihnen hocken und sich und sie langweilen sollen? Sie hätten sich seinetwegen nur Zwang auferlegt.

    Seine Blicke verweilten, wie jedes Mal, wenn er sie sah, bei einem der Mädchen, das ihn in bestimmten Gesten an Wanda, seine Freundin im heimatlichen Greifswald, erinnerte. Ein merkwürdiges Spiel der Natur. Sollte er sie einfach mal ansprechen, nur so, um festzustellen, wie weit diese Ähnlichkeit ging? Wie hätte er seinen Annäherungsversuch begründen sollen? Damit, dass er an seine Freundin denkt, wenn er sie erblickt? Dass sie seine Sehnsucht nach ihr weckt, sie fast ins Unerträgliche steigert? Das dürfte sie wohl als ziemlich geschmacklos empfinden.

    Nun hob sie die Augen, ihre Blicke trafen sich, nur kurz, dann sah er beiseite. Ihm war bewusst geworden, dass sie sein Anstarren belästigen musste.

    Er dachte viel an Wanda, voller Unruhe wegen der Eigenart des zwischen ihnen entstandenen Verhältnisses, nicht Fisch noch Fleisch, mehr als Freundschaft, weniger als verpflichtende dauerhafte Beziehung. Es lag an ihr. Sie wich aus, suchte offen zu halten, behielt sich Selbständigkeit vor ... obwohl sie ihn wollte. Doch sie wollte auch kein Quäntchen ihrer Freiheit aufgeben. So lange sie zusammen waren, hatte er sich mit ihrem Selbständigkeitstick abgefunden, aber nun ... ein Jahr ist lang, und wer weiß ... da sie sich doch frei fühlte, ungebunden, ihm keinerlei Rechte auf sie zugestanden hatte, die über den Rahmen einer engen Freundschaft hinausgingen.

    Kennengelernt hatten sie sich im Persönlichen Arbeitskreis, ein freiwilliger Dienst für die Gesellschaft, zu dem sich Universitätsangehörige verpflichtet fühlten. Nichtteilnahme hätte bedeutet, sich außerhalb der Gemeinschaft zu stellen und auf deren Unterstützung zu verzichten, was einem Unvermögen gleich kam, im Team wirken zu können. Der Studentenrat hätte sich brüskiert gefühlt, die Innung wäre ihm verschlossen gewesen, eine erfolgreiche berufliche Laufbahn erschwert.

    Der Zufall hatte es gefügt, dass sie zwei nebeneinander liegende Parzellen im Arboretum betreuten, sie Philologiestudentin im ersten Semester, er bereits mit der Diplomarbeit befasster Historiker. Im Persönlichen Arbeitskreis durften nur einfachste Geräte verwendet werden. Es ging um die Gewöhnung an Handarbeit, darum, der Abhängigkeit von den Automaten, den Servanten jeder Art, entgegenzuwirken, nicht zuletzt aber auch darum, Verantwortungsgefühl für Dinge außerhalb von Beruf und Familie zu wecken. Es ergab sich von selbst, dass sie sich gegenseitig halfen.

    Er brachte mehr guten Willen als Talent zu körperlicher Arbeit mit, während Wanda Blick und Gefühl für Praktisches besaß und, sein Ungeschick bald bemerkend, Ratschläge gab und auch notfalls bei ihm mit zufasste. Ein bisschen empfand sie sich wohl als sein Lehrmeister oder Pate, fühlte sich für ihn verantwortlich, so die ungeschriebene hierarchische Rangfolge suspendierend, nach der sie der Anfänger und er der erfahrene Fast-Absolvent war. Fünf Jahre Altersunterschied spielen keine Rolle zwischen einem jungen Mädchen und einem noch jungen Mann, wenn sie erst einmal vertraut miteinander geworden sind. Und das geschah ziemlich rasch.

    Vor seiner Abreise hatten sie sich geeinigt, auf Anrufe zu verzichten: Die Zeitverschiebung, die Ungewissheit, ob man gerade störe bei einer wichtigen Beschäftigung. Stattdessen wollten sie sich schreiben. Im Briefe, so herrlich nostalgisch, hatten sie gemeint, ließen sich Gedanken besser ordnen als beim üblichen spontanen Gespräch per Distanz. Das Persönlichste wird oft erst beim Schreiben offenbar, zwingt zur Reflexion der Gedanken und Gefühle.

    Das Briefeschreiben war unter den Studenten in den letzten Jahren wieder groß in Mode gekommen, im Gefolge der mächtigen Nostalgiewelle, die fast ganz Europa erfasst hatte. Es galt als grandios, sich lange Briefe mit der Hand zu schreiben, wie es seit Jahrhunderten Menschen taten, die sich Dinge mitteilen wollten, die nur für sie bestimmt waren. Auch Wanda frönte diesem zeitaufwendigen Hobby. Leider nicht mit erwünschter Regelmäßigkeit. Bisher hatte er erst einen Brief von ihr erhalten, recht allgemeinen Inhalts und große Eile verratend. Sie war wohl stark beschäftigt ... womit ...? Man kann sich allerlei denken. Seine Antwort war entsprechend kühl ausgefallen.

    Der Servant servierte endlich.

    Adam frühstückte gemächlich. Der Kaffee, heiß und stark, wie er ihn liebte, das Algengelee, na ja, die Erdnussbutter klebrig, das Brot flockig weiß und weich wie Watte. Eine derbe Schwarzbrotstulle müsste man mal wieder beißen können, dachte er. Im Haferflockenbrei, nicht bestellt und trotzdem geliefert, weil ein Frühstück ohne ihn hier nicht denkbar war, rührte er nur mit dem Löffel.

    Er konnte frei über seine Zeit verfügen, doch er, an feste Arbeitszeiten gewöhnt, hatte es sich zur Pflicht gemacht, das Studio des Archivs um Punkt acht Uhr zu betreten und es erst wieder zu verlassen, wenn um sechzehn Uhr geschlossen wurde.

    Den Mittagsimbiss konnte er in der „Butike" der Archivangestellten, wie der kleine Ruheraum mit Speisemöglichkeit genannt wurde, einnehmen. Sein großes Schlafbedürfnis, Folge der ungewohnten Höhenluft, brachte ihn jeden Morgen in Konflikt mit seinem Pflichtbewusstsein; er war stolz darauf, dass er der Versuchung, bis in den Vormittag hinein zu schlafen, noch niemals erlegen war. Die Erbarmungslosigkeit des Weckrufers ersetzte seinen nicht so starken Willen. Immerhin, das Weckprogramm tippte er abends ein, kämpfte damit erfolgreich gegen den Widerstand seines schlafhungrigen Leibs, schlug ihm gewissermaßen ein Schnippchen. Denn er wusste um seine Schwäche.

    Jetzt allerdings begann er sich zu fragen, welchen Sinn seine tägliche Selbstüberwindung eigentlich noch habe. Fast zwei Monate lang hatte er nun schon Quellenmaterial gesichtet, ohne etwas gefunden zu haben, das geeignet gewesen wäre, seiner Dissertationsarbeit die wünschenswerten Glanzlichter aufzustecken.

    Sein Thema, an dem er ein Jahr lang in Greenley, im Zentralarchiv für Publikationen des zwanzigsten bis zweiundzwanzigsten Jahrhunderts im nordamerikanischen Raum, arbeiten wollte, hieß: „Publizistische Äußerungen in Massenmedien als nutzbares Quellenmaterial für den Geschichtsforscher".

    Da im Archiv sämtliche Original-Drucke und Original-Aufzeichnungen bewahrt wurden, hatte er geglaubt, ein erholsames Jahr genießen zu können. Ein Irrtum, wie sich herausgestellt hatte. Gerade die unübersehbare Fülle der Exponate brachte ihn zur Verzweiflung. Sie waren widersprüchlich, unverständlich oft, enthielten kaum Angaben von dokumentarischem Wert, mit denen er hätte etwas anfangen können. Ihn bedrückte auch, dass der abgelegene Ort keine Möglichkeiten bot, Beziehungen anzuknüpfen oder zu festigen, die ein junger, strebsamer Wissenschaftler nun mal braucht, um voranzukommen. Er strampelte, am Rande der Welt gewissermaßen, wie die berühmte Fliege in der Milch, doch die rettenden Butterklümpchen wollten sich nicht bilden.

    In Greenley, verschlafene Landstadt auf der Hochebene östlich der Rocky Mountains, nördlich von Denver, schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Ein Ort im Grünen. Es gab hier sogar noch Straßen mit Einzelhäusern, von gepflegten Rasenflächen umgeben, unter hohen Platanen, Fichten und Ahornbäumen. Ein erstaunlich weitläufiges und erschreckend stilles Nest, Mittelpunkt eines auf traditionelle Landwirtschaft sowie moderne Methoden der Nahrungsmittelgewinnung spezialisierten Gebietes. Lediglich die berühmte Hochschule für Landwirtschaft und das Zentralarchiv besaßen überregionale Bedeutung, wobei letzteres so gut wie keine Rolle im Leben der Stadt spielte. Viele ihrer Bewohner wussten nicht einmal, wo es sich befand. Es lag außerhalb in westlicher Richtung, in den Bergen, ehemals Sitz einer ständigen Ausstellung von Landmaschinen. Vor dreißig Jahren hatte die regionale Verwaltung das solide, vollklimatisierte Bauwerk der Kulturbehörde zur Verfügung gestellt, und diese - immer in Raumnot - hatte, da die weltabgeschiedene Lage publikumsabhängige Einrichtungen ausschloss, das Archiv in ihm untergebracht.

    Adam warf einen Blick auf die Uhr und erhob sich. Es war Zeit, sich auf den Weg zu machen. Die Betreuerinnen des Archivs, zwei Damen reiferen Alters, würden sich beunruhigen, wenn er sich verspätete. Er war zurzeit der einzige Hospitant. Sie brannten darauf, ihm jeden Wunsch zu erfüllen, und auch darauf, sich mit ihm zu unterhalten. Unter zwanzig Minuten kam er selten davon.

    Der Rollweg trug ihn den gewaltigen Bergzügen entgegen, deren zerklüftete Kämme aufzackende Gipfel krönten, die, teils schon schneebedeckt, bläulich kalt schimmernd, in den blauen Himmel eingewachsen schienen, als schlössen sie die Welt ab. Bis zu halber Höhe Hochwald, dann Krüppelgehölz, darüber nackter Fels, dessen Farbe je nach Wetter und Winkel der Sonneneinstrahlung zwischen dunklem Grau und hellen Brauntönen wechselte.

    Etwas Unnahbares und zugleich Lockendes ging von dieser Hochgebirgssilhouette aus, das ihn, den Mann aus der Norddeutschen Tiefebene, wie ein Anhauch von Außerirdischem anrührte. Es ließ sich nicht in Worte fassen, nur empfinden.

    Im Studio des Archivs wurde er schon erwartet, freundliche Begrüßung, dann das obligatorische Gespräch, das die netten Damen fast vollständig bestritten; sie genossen es, dass er da war und sie brauchte. Ihr Tun glich dem unscheinbaren Fleiß von Ameisen, vollzog sich in der Abgeschiedenheit des Archivs. Sie pflegten und konservierten den Thesaurus, der zu kostbar war, um ihn allein der Obhut von Servanten anzuvertrauen. Sie mussten sich emsig regen, kannten wahrhaftig keine Langeweile. Doch das war unpersönlich, Routine, vollzog sich anonym. Wie viel aufregender, dem Gast aus Europa im Studio bei der Arbeit über die Schulter sehen zu können. Der Unterschied zwischen Konfektion und Maßatelier. Wobei in seinem Falle hinzukam, dass er Dauerhospitant war, ihnen schon fest zugehörig, und sämtliche Publikationen eines ganzen Zeitabschnittes durchackerte, die meisten noch so unberührt wie am Tage ihrer Katalogisierung. Er bestätigte ihnen damit, dass hier nicht nur lauter unnützes Zeug lagerte, wie ihre Bekannten in der Stadt abfällig zu äußern liebten.

    Endlich auf seinem Stammplatz im Studio setzte er sein Werk fort, Magazine, Tageszeitungen, Dissertationen und Dokumentationen aller Art durchzusehen, abzuhören, auf für ihn wichtige Hinweise hin abzuklopfen und zu verdauen, obwohl er von Tag zu Tag mehr 

    empfand, dass das meiste von dem für einen mit normaler Vernunft begabten Menschen unverdaulich sei.

    Er hatte zuvor keine Vorstellung davon gehabt, wer alles und womit bemüht gewesen war, den Geist der Amerikaner des 21. Jahrhunderts zu verwirren. Die meisten Schwierigkeiten bereiteten ihm die dickleibigen Magazine, zur Hälfte mit ganzseitigen Reklamen gefüllt für Dinge, deren Sinn er kaum erahnte, der Rest erschütternd flache, sinnlose Geschichten und einige wenige auf das Zeitgeschehen bezogene Artikel, die ihn aber mehr verwirrten als belehrten. Die vielfältigen Anspielungen, Bezugnahmen, Ironismen und dergleichen mehr erschwerten das Verständnis zusätzlich. Am informativsten war noch die Fülle der Fotos.

    Aber schon die Bildunterschriften ließen mehr Fragen als Antworten entstehen … trotz wort- beziehungsweise sinngetreuer Übertragung durch den Archiv-Servanten in Interling - ein Kurzwort für „Lingua artistico simpla el Mundo entere", dieser sperrige Begriff war nur noch Fachleuten bekannt – der Weltsprache, die bereits die Kleinsten neben ihrer jeweiligen Muttersprache lernten.

    Als der bevorstehende Zusammenschluss zur Großen Völkerunion eine gemeinsame Sprache dringlich machte, wurde deren Auswahl einem Kongress übertragen. Diese scheinbar einfache Aufgabe komplizierte sich unerwartet, weil neben Englisch, Russisch, Deutsch, Französisch, Spanisch auch noch Chinesisch vorgeschlagen wurde mit der Begründung, das werde ohnehin bereits von fast einem Drittel aller Erdbewohner gesprochen, es sei nur recht und billig, wenn sich der Rest der Menschheit anbequeme. Dagegen polemisierten die Anhänger der europäischen Sprachen, brachten gewichtige Gegengründe vor wie: Zu schwer erlernbar für Nichtasiaten, die Schrift auch in modifizierter Form untauglich für gedachten Zweck, ohne indes die chinesische Delegation zur Rücknahme ihres Antrages bewegen zu können. Nach wochenlangen heftigen Debatten drohte der Kongress ergebnislos auseinanderzugehen. Es war klar, dass unter diesen Umständen keine der vorgeschlagenen Sprachen die Zwei-Drittel-Mehrheit erhalten konnte.

    Einen Ausweg aus der Sackgasse wiesen schließlich die Vertreter der spanisch sprechenden Länder, nachdem sie sich intern beraten hatten. Da Einigung auf eine der Nationalsprachen offenbar unmöglich, zögen sie ihren eigenen Antrag zurück, brächten dafür aber einen neuen ein. Sie schlügen vor, eine Kunstsprache nach dem Vorbild des Esperanto zu wählen. Das System liege vor, es brauche lediglich den aktuellen Bedürfnissen angepasst zu werden. Weder sei kulturelle Überfremdung davon zu befürchten, noch Verletzung von Nationalgefühlen, was in jedem anderen Falle unvermeidlich sei.

    Die Mehrzahl der Delegierten bezeichnete den Vorschlag als unreal. Die Kosten für das Einführen eines völlig neuen Lehrfaches weltweit seien viel zu hoch, es fehle an ausgebildetem Lehrpersonal und an geeigneten Unterrichtsmethoden. Dennoch musste er, da einmal gestellt, auf die Vorschlagsliste gesetzt werden, als der Kongress, um gegenüber der Weltöffentlichkeit das Gesicht zu wahren, die mit wachsender Ungeduld ein Ergebnis verlangte, endlich die Wahl beschloss.

    Die ersten beiden Wahlgänge endeten wie erwartet, keine der vorgeschlagenen Sprachen erhielt eine nennenswerte Mehrheit. Doch dann brachte der dritte und letzte Wahlgang die Riesenüberraschung: 72,6 % der Delegierten hatten für die Kunstsprache votiert und sie zur Weltsprache gekürt.

    Interling hatte sich dann rasch durchgesetzt, man bediente sich der Kunstsprache bald an jedem Ort ebenso mühelos wie der Muttersprache, die jedoch ihre Bedeutung behielt, nicht zuletzt als künstlerisches Ausdrucksmittel, wie denn jegliches Kunstbemühen in den Traditionen der jeweiligen Nationalkultur wurzelt und von daher Impulse für die Eigenart von Inhalten und Formen empfängt.

    Hatte sich Adam nicht doch mit seinem Vorhaben übernommen?

    In ihm festigte sich die Meinung, dieses transozeane Land müsse damals Psychopaten ausgeliefert gewesen sein. Wer anders hätte sich noch Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts für ein fliegendes Kriegsschiff, getarnt als „Fliegendes Forschungslabor, begeistern können? Ein Begriff, der seither in allen möglichen Variationen zum Grundvokabular der meisten Publizisten zu gehören schien und damals mit wachsender Hysterie verwendet worden war, so, als bedrohten Monster aus dem Weltall die Erde und könnten jeden Augenblick über sie herfallen. Der Irrsinn gipfelte in dem berüchtigtsten Projekt namens „Löwentatze - eben jenes „Fliegende Forschungslabor" -, dazu bestimmt, Milliarden Menschen in Europa und Asien umzubringen, was gerade noch in letzter Stunde verhindert werden konnte.

    Obwohl das genau in sein Thema passte, ließ es sich doch nur allenfalls als bekanntes Beispiel verwenden. Die das Mordprojekt „Löwentatze" betreffenden Fakten waren in den seitdem vergangenen fast zweihundert Jahren längst bis ins Detail erforscht und be- und verurteilt.

    Es war zum Verzweifeln: Berge von Stoff und trotzdem kein Ansatzpunkt für seine Arbeit. Er sah sich in einem Irrgarten, aus dem scheinbar kein Weg zu neuen oder wenigstens originellen Erkenntnissen führte, die man nach so langem intensivem Forschen zu Recht von ihm erwarten durfte. Und allmählich lief ihm die Zeit davon.

    Am Abend schrieb er an Wanda, obgleich eigentlich sie an der Reihe war. Er musste sich Luft machen und hatte sonst niemanden, dem er sich anvertrauen mochte.

    Liebe Wanda,

    warum vernachlässigst du mich? Ich dürste nach ein paar Zeilen von dir wie ein in die Wüste Verschlagener nach Wasser. Ich werde hier langsam trübsinnig, die endlos weite Ebene, die gewaltigen Höhenzüge - mir fehlt die See. Zu den jungen Leuten finde ich noch immer keinen Kontakt. Unsere Interessen sind wohl zu verschieden. Wir grüßen uns freundlich und leben nebeneinander her. Ich führe ein Einsiedlerdasein.

    Doch viel mehr deprimiert mich, dass ich mit meiner Arbeit im Archiv nicht vorankomme, obwohl ich schon ungeheuer viel Material gesichtet habe. Je tiefer ich eindringe, desto widersprüchlicher, verworrener, unverständlicher erscheint mir alles. Mir ist, als müsste ich einen Code entziffern, zu dem der Schlüssel verloren ging. Ich sehe, lese, höre ... aber wie ein Fremder in einem Land, dessen Sprache er nicht versteht.

    Ich glaubte, alles Wesentliche über jene Zeit zu wissen, jetzt habe ich begriffen, ich kannte nur die großen Zusammenhänge, kaum etwas von der Unmenge scheinbarer Nebensächlichkeiten, die ebenfalls zum Sachkomplex gehören und erst in ihrer Gesamtheit das reale Bild der Epoche ergeben. Doch deren Zeugnisse sind so vieldeutig, dass ich nicht zu erkennen vermag, was das Geschehen damals wirklich beeinflusst hat und in welchem Maße. Kaum habe ich eine Einsicht gewonnen, wird sie von der nächsten Quelle über den Haufen geworfen. Ich bin völlig konfus und, was noch schlimmer ist, mutlos.

    Am liebsten möchte ich alles hinschmeißen und nach Hause, ins schöne alte Greifswald zurückflüchten. Wozu quäle ich mich hier? Es hat ja doch keinen Sinn. Und wäre nicht die Furcht vor der Blamage ...

    Ich bitte dich, schreib mir! Bald! Von dir, von der lieben kleinen Stadt, von den Querköpfereien unserer Meistermacher, die von hier aus nicht ganz so groß erscheinen wie ihren Adepten vor Ort. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe grausames Heimweh. Glaub mir, das ist ein schlimmes Leiden, es äußerst sich als schmerzende Sehnsucht ... unter anderem nach dir.

    Dein Adam

    Schon nach zwei Tagen traf ihre Antwort ein.

    Hallochen, Adam,

    du machst mich schwach! Du weißt doch, dass ich vor der Prüfung stehe und wie irre ackern muss. Ich finde kaum Zeit zum Essen und Schlafen. Und dann nervst du mich mit deinem Versagerkomplex. Entschuldige schon, aber mir kommen die Tränen ob deines Jammerbriefes. Schäme dich! Ein erwachsener Mensch und stellt sich an wie ein Vögelchen, das aus dem Nest gefallen ist. Sehnsucht ...! Na und? Habe ich auch, aber deswegen die Prüfung schmeißen? Ehrlich, Adam, du solltest dich mehr beherrschen!

    Nun zu deinen Schwierigkeiten: In meinem dummen Sinn denke ich mir, dass sich jedes Problem mit logischem Denken und einiger Systematik lösen lassen müsste. Mir scheint, du hast so was wie eine Gleichung mit vielen Unbekannten vor dir, mit der du nicht zurechtkommst. Das kann nur eine Ursache haben - dein Ansatz ist falsch!

    Im Prinzip interessieren mich lebende Historiker weitaus mehr als tote Historie, doch auch die Philologie hat ihre Geschichte; sie ist, erinnere dich, voller Analogien zu deinem Fall. Denk nur mal an die Keilschrift und die ägyptischen Hieroglyphen, die den zeitgenössischen Fachleuten nicht nur als Codes ohne Schlüssel erschienen. Es war tatsächlich an dem. Bis es nach jahrhundertlangem Umherrätseln Grotefend und Champollion gelang, diese Codes zu knacken, indem sie von einzelnen Wörtern ausgingen, deren Sinn deutbar war. Was natürlich nun stark vereinfacht ist, Adam. Aber das Prinzip, verstehst du, das Prinzip! Du brauchst wahrscheinlich einen Bezugspunkt, von dem aus sich das Faktenchaos ordnen lässt.

    Damit enthülle ich dir sicher kein Geheimnis. Dass du dennoch schwimmst, liegt, wie ich vermute, daran, dass du gewöhnt bist, alles mit den Augen der Autoritäten deiner Zunft anzustarren. Mein Vorschlag: Versuche mal, deine eigenen zu gebrauchen! Schließlich waren nicht mal die antiken Götter unfehlbar, wie man weiß.

    Ich bin gut in Ratschlägen, was? Ach, verstehst du, es regt mich einfach auf, dass sich ein Kerl wie du, der doch allerhand - zumindest fachlich - auf der Pfanne hat, so anstellt, als sähe er den Wald vor lauter Bäumen nicht, obwohl du doch nur das beschissene Brett vor deinem Kopf weg tun musst statt zu jammern!

    Das als Kopfwäsche.

    In unserem alten Greifswald sind die Meistermacher immer noch die Größten und versichern es sich gegenseitig. Die X und der Y liefen nun endgültig auseinander, der Klatsch muss sich neue Opfer suchen. Im Frühjahr soll mit der Renovierung der Aula begonnen werden, jetzt sucht man verzweifelt nach Leuten, die noch Ahnung von mittelalterlichen Bautechniken haben und merkt auf einmal, dass unsere nostalgische Bewegung - dir zur Kenntnis, ich mische seit vier Wochen im Vorstand mit - die einzige Quelle ist, aus der man fischen kann. Was aber noch lange nicht bedeutet, dass man sie, unsere „Weck-Bewegung" ... treffender Begriff, 

    oder?... nun mit freundlicheren Augen betrachtet. Wir sind ihnen nach wie vor die Aufmüpfigen, die am altehrwürdigen Zopf herumschnippeln statt ihn zu bewundern. Erst vorige Woche bezogen wir wieder mal Dresche seitens der halbkundigen Fachwelt, weil wir, ohne zuvor ihren Segen einzuholen, in der Eldenaer Klosterruine ein Konzert organisiert hatten, das die Freunde von den Bänken riss: Alte Musik - Jazz, Rock und so - mit den von uns restaurierten Originalinstrumenten aus deren Zeit. Das Wehgeschrei hallte bis in die umliegenden Orte. Oh! Diese verderbte Jugend! Das alte Lied. Hier singt man es nach wie vor. Danach brauchst du dich wirklich nicht zu sehnen. Ehrlich, ich beneide dich, du bist mal raus aus diesem Mief von Tradition, Überzeugung von der eigenen Unfehlbarkeit und penetrantem Rechtdenken. Du bist frei und nur dir selbst verantwortlich. Wenn ich könnte, wie ich wollte, stünde ich morgen vor deiner Tür. Ich sehne mich sehr ... nach Höhenluft, nach Weite und anderen Tapeten und ein bisschen auch nach dir. Aber bilde dir ja nichts darauf ein. Ich wüsste auch nichts, was du mit mir anfangen wolltest, wo du doch nicht mal mit deinen eigenen Problemen klar kommst.

    Wann ich dir das nächste Mal schreibe, weiß ich noch nicht. Es kann sehr lange dauern, vielleicht bis zum Frühjahr. Sei mir bitte deswegen nicht böse, es ist einfach nicht drin ... ich ertrinke fast vor Arbeit: das Examen, die Diplomarbeit und das ganze Programm. Die Nostalgiker, ich meine die Weckbewegung, die ich auch nicht hängen lassen kann, wo ich doch gerade erst gewählt bin - ich hoffe, du verstehst. Tust du doch?

    Alsdann, mein Alter, reiß dich zusammen und fühle dich geküsst von deiner

    Wanda

    Ihn bewegten widersprüchliche Gedanken, als er den Brief aus der Hand legte. Das war typisch Wanda: klug, resolut, scharfzüngig, ein unter ständigem Hochdruck stehender Dampfkessel und betriebsam wie ein Hochhauslift. Die lange Trennung von ihm schien sie aber gut ertragen zu können. Oder wollte sie es ihm nur leichter machen? Doch ihre Ankündigung, sie werde nun monatelang nichts mehr von sich hören lassen, war nicht eben dazu angetan.

    Sein Puls ging schneller, als er sich vorstellte, sie wäre ihrem Impuls gefolgt und stünde plötzlich in seinem Zimmer. Er sah sie vor sich: im hellgrauen Reisedress, in der Pose „Hier bin ich!" - sogleich von ihm und dem Apartment Besitz ergreifend. Ihre großen, grauen, etwas schräg geschnittenen Augen mustern ihn prüfend, als überlege sie bereits, was an ihm zu verändern sei. Sie war nur mittelgroß, wirkte aber stämmig, jedenfalls kräftig, dabei erregend weiblich. Ein weiches, rundes Blondinchen. Die Nase ... na ja ... mit einem kecken Stups, nicht gerade klassisch. Das rundliche Gesicht unter der kurzen Ponyfrisur, die vollen Lippen um den großen, immer wie zum Lachen bereiten Mund, die ziemlich ausgeprägten Wangenknochen verhießen ein heiteres Naturell, Gutmütigkeit und Hingabefähigkeit, doch mit einem Hauch von Strenge darüber. Vielleicht machte das das kleine, aber feste und eine Winzigkeit vorstehende Kinn, möglich aber auch, dass ihre ganze Haltung dazu beitrug. Sie hielt sich sehr gerade, wie Distanz fordernd. Ach ja, sie war schon ein kapriziöses Geschöpf ... und nicht nur äußerlich. Manitou und ich wissen Bescheid: oben Schokolade, darunter Stahlbeton ... wenn sie es so will. Die Natur muss ihren Willen aus Edelstahl gemacht haben.

    Er seufzte sein Fantasiebild weg.

    Was das andere betrifft, dachte er, das Brett vor meinem Kopf, obwohl wenig schmeichelhaft für mich, auf jeden Fall bedenkenswert. Man wird ja wirklich unmerklich zum Ableger des geistigen Ziehvaters, sieht mit dessen Augen, bedient sich seiner Methoden. Selbstverständlich, welcher denn sonst? Was aber, wenn sie nicht zum Ziel führen, weil aus einer anders gearteten Praxis heraus entwickelt? Dann steht man wie vor einer Mauer und resigniert. Dabei brauchte man vielleicht nur um die Ecke zu gehen, um eine Tür zu finden. Ich glaube, genau das hat Wanda gemeint. Wobei sie mich, bei Lichte gesehen, als Wissenschaftler abqualifiziert ... weil sie mich indirekt der Todsünde zeiht, nur anerkannte Lehre bestätigen zu wollen, statt unvoreingenommen nach Erkenntnis zu forschen, was allein wissenschaftliche Arbeit als solche legitimiert.

    Muss ich mir diesen Vorwurf zuziehen? Er überlegte und kam zu dem Schluss: Nein ... oder doch nur bedingt. Wenn ich mir etwas vorzuwerfen habe, dann lediglich mein Unvermögen, gleich den richtigen Zipfel zu erwischen. Und dass ich deswegen versucht war, aufzustecken. Aber auch weitaus Größere sind schon schwach geworden in vergleichbaren Situationen.

    Nun gut ... beschlafen wir die Sache erst mal.

    Wandas Brief hatte Adam bewusst gemacht, dass er endlich eine Konzeption finden musste. Er verbrachte Stunden damit, darüber nachzudenken, wie sie aussehen könnte und wie er weiter vorgehen sollte, nachdem seine bisherigen Forschungen so gut wie kein nennenswertes Ergebnis gezeitigt hatten.

    Auf jeden Fall schien es uneffektiv, weiterhin ziellos, auf eine vage Hoffnung hin, in den Medienrelikten zu wühlen. In den Unmassen von Exponaten, die er inzwischen durchgesehen hatte, war nichts zu entdecken gewesen, dem nachzugehen etwas in der Art versprochen hätte, wie es seinem Mentor, Professor Delgare, und ihm bei der Formulierung seines Themas vorgeschwebt hatte. Die Vorstellung, das Archivmaterial könne eine sprudelnde Quelle neuer Erkenntnisse sein, war illusionär.

    Eine Niederlage ...?

    Nun, nicht unbedingt ... in der Medizin gilt ein negativer Befund als erleichternd positiv. Es kommt immer auf den Standpunkt an, von dem aus man ein Ergebnis betrachtet.

    Sein Thema klang zwar programmatisch, ließ sich aber durchaus auch anders interpretieren, wenn er die Arbeit anders anlegte. Wie ...? Eine verdammt gute Frage und verdammt schwer zu beantworten.

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1