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Der Ton des Lebens: Roman
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eBook476 Seiten6 Stunden

Der Ton des Lebens: Roman

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Über dieses E-Book

Was passiert, wenn die eigene Biographie einen durch das Leben zerrt, wenn man von etwas getrieben wird, wofür man keine Erklärung hat und das Unfassbare immer wieder dunkel nach einem greift?
Jules begeht, getragen von Familie und Freunden, einen einsamen mystischen Weg, der ihn ins Licht führt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum11. Dez. 2017
ISBN9783743975415
Der Ton des Lebens: Roman

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    Buchvorschau

    Der Ton des Lebens - Freia Sol

    Lehrjahre

    Die Fahrt führte über das Land und streifte ein paar kleinere Ortschaften. Bauern mähten mit der Sense, mit weit ausladenden, im ruhigen Rhythmus schwingenden Bewegungen Gras, welches durch den warmen, jedoch nicht an Niederschlägen mangelnden Sommer, frisch und kräftig den Wiesen ihr saftiges Grün verlieh. Grillen zirpten lockend, hier und da drehte ein Bussard seine Kreise. Idyllisch gleißte über der Landschaft das Licht des vormittäglichen Versprechens auf Wärme und Frieden.

    Es wurde nicht gesprochen.

    Jules, dessen Vater noch nie mit ihm allein das Haus verlassen hatte, wusste, dass dies ein besonderer Tag sein musste. Nicht ohne Scheu gedachte er der kommenden Stunden, denn das Befremdliche dieser Situation fuhr mit.

    Ein Ereignis der näheren Vergangenheit hatte ihn gelehrt, den Vater nie auf Musik und Violinen anzusprechen.

    Jules Gedanken wurden durch das Erreichen des Zielortes unterbrochen. Meister Reiter trat durch die geöffnete Werkstatttür ins Freie. Hendrik entstieg mit Jules der Kutsche und sprach mit dem Kutscher den Zeitpunkt der Rückreise ab. Die zwei Apfelschimmel setzten sich wieder in Bewegung.

    Der Geigenbauer und Hendrik begrüßten sich mit herzlicher Zurückhaltung, in der Art, wie es gute Bekannte taten, die sich lange nicht gesprochen hatten.

    „Schön Sie zu sehen, mein Lieber Hendrik. Mir dünkt, es wäre eine kleine Ewigkeit vergangen."

    „Ja, da haben sie Recht. Hendrik ließ seinen Blick schweifen. „Ich freue mich endlich wieder hier zu sein, wenn auch leider nicht aus eigennützigen Gründen. Um die staubige Belegung seiner Stimme abzuschütteln räusperte er sich, suchte mit der rechten Hand die Schulter seines Sohnes, den er hinter sich stehen spürte und mit erwartungsvollem Glanz in den Augen schob er Jules nach vorne und stellte ihn Herrn Reiter vor. Dieser reichte ihm mit einer freundlichen aufmunternden Geste die Hand.

    „Hallo mein Kleiner."

    Jules, der die Dargebotene nur zögernd ergriff, wandte sich seinem Vater zu. Die liebenswerte Art überforderte ihn. Doch ihm kam keine Hilfe entgegen. Reiter milderte das Unbehagen des Kleinen selbst und strich ihm mit seiner rauen schwieligen, von Narben der handwerklichen Arbeit veredelten Hand, über den Kopf.

    „Wohl denn, schauen wir mal, ob ich eine passende Violine habe. Mich dünkt, dass zwei oder drei zur Wahl stehen."

    Als sie die geräumige Werkstatt betraten, glitt sein prüfender Blick erneut über Jules.

    Es roch nach Holz, Harz, Terpentin. Eine dünne Lavendelnote rundete, dass in seiner Intensität betörend angenehme Arbeitsbouquet ab. Auf dem Boden vor der Werkbank lagen Sägespäne, die an anderer Stelle zusammengekehrt Haufen bildeten. Fast jede Fläche schien von feinem Staub bedeckt und hüllte den Raum in eine mystische Aura, wie sie bisweilen betagten Gebäuden innewohnt, die in Jahren der Nichtnutzung, selbst senkrechten Flächen erlaubten, sich mit dem Staub der Zeit zu bedecken.

    Regale, die mannigfach an den Wänden aufgestellt und angebracht waren, boten einen chaotischen Anblick, der jedoch bei näherer Betrachtung, selbst dem Unwissenden eine Systematik offenbarte.

    Man fand Unmengen an Töpfen, Tiegeln und Gläsern, alle mit sauber angebrachter Etikettierung. Werkzeuge verschiedenster Bestimmung, teils hängend, teils liegend, der Größe nach geordnet, mit Leerräumen, die auf einen momentanen Gebrauch des Hilfsmittels schließen ließen. Pinsel standen zur Säuberung mit den Borsten in Lösungsmittel, daneben lagerten Baumwolllappen. In einem weiteren Regal, stapelte sich Holz verschiedener Herkunft und Größe, sowie Innenformen.

    An Seilen, welche horizontal gespannt die Längsseite des Raumes durchliefen, hingen die Kinder dieser Werkstatt. Violinen über Violinen adelten die Stätte ihrer Geburt. Aufgereiht in der Einkerbung zwischen Schnecke und Wirbelkasten, harrten sie, das Sakrale ihrer Entstehung ausstrahlend, ihren zukünftigen Besitzern.

    Meister Reiter näherte sich dieser Sammlung mit zögerlichem Schritt. Sein Blick glitt über die kleinsten Geigen. Er entnahm dieser Reihe eine Violine der Größe einsechzehntel.

    Von den für Jules zur Wahl stehenden, sprach diese den Jungen besonders an. Jules barst innerlich vor Anspannung.

    Es war das erste Mal, dass er einem Instrument so nahe war und somit beschränkte sich sein Geschmack auf die Vorliebe für Gebrauchtes. Die Geige schmückte ein tiefer, gelber Braunton wie er denen entsprach, die zumeist alt sind, schon Geschichte singen können. Der unregelmäßig geflammte Boden und die Ebenholzgarnitur, zu der erst jüngst der Kinnhalter gefunden hatte und zusammen mit den Wirbeln und dem Saitenhalter einen angenehm antiken Eindruck machte, ließen sein Herz höherschlagen.

    In der Art, wie Meister Reiter die Geige ihrem Platz entnahm, lag die ganze Liebe seiner Arbeit. Mit der Rechten, den unteren Bereich des Korpus haltend, mit spitzem Zeigefinger und Daumen der Linken, den Hals greifend, nahm er sie vom tragenden Seil, um sie so behutsam, als reiche er einen Säugling weiter, an Hendrik zu übergeben. Dieser zuckte merklich zusammen und mit dünnen Lippen presste er hervor,

    „Oh nein, danke. Übernehmen Sie das bitte."

    Einen kurzen Augenblick sahen sich die Männer in die Augen. Hendrik sah das schmerzhafte Verständnis, dass er so hasste.

    „Selbstverständlich, dann wollen wir mal."

    Durch das Bewusstsein, die Erwartungen seines Vaters erfüllen zu müssen, senkte Jules seinen Blick und verschattete sein unsicheres Antlitz. Meister Reiter ging in die Knie und in ruhigem Bariton wandte er sich an das verunsicherte Kind.

    „Du brauchst dich nicht fürchten, kleiner Jules, es ist ähnlich wie bei der Anprobe von Schuhen."

    Diese kleine Violine hatte ein Korpusmaß von 22,5 cm und musste auf einen Erwachsenen, der sich dem Instrument nicht verbunden fühlte, den Eindruck eines Spielzeugs machen. Auch die optische Wertigkeit, litt für den Ungeübten unter der Miniatur. Doch alle Beteiligten, diese drei Personen in der Werkstatt des Meisters, sahen in ihr das Wunder das es war. Eben, dass aus diesen, kunstvoll mit Zeit, Erfahrung und Liebe gearbeiteten und zusammengefügten Holzteilen, göttliche Töne erklingen konnten. Jules wohnte einst mit seiner Mutter dem Geigenspiel einer ihrer Freundinnen bei, deren Unterricht zum Zeitpunkt ihres Besuches noch nicht geendet hatte. Auch wenn die Etüdenfragmente nur mäßig und durch vielfache Unterbrechung des Lehrers, kaum genossen werden konnten, empfand er diese Erfahrung als ungemein ansprechend. Die zitternde Intensität dieser wenigen Minuten, machte soviel Eindruck auf ihn, dass er in den darauffolgenden Nächten kaum Schlaf fand.

    Sein Vater sollte davon nichts erfahren. Jules verstand nicht die Notwendigkeit der Geheimhaltung, doch die Art, wie seine Mutter beschwörend auf ihn eindrang, bezeugte die Dringlichkeit. Die Angst seiner Mutter ging soweit, dass sie zwar fahrig, doch sanft sein Haar streichelte und auf dem Heimweg seine Hand nicht mit der Härte hielt und ihn hinter sich herzog, wie es ihrer Gewohnheit entsprach. Dieses Zupacken, als wenn man genötigt ist, etwas Unangenehmes anzufassen und darum lieber einmal fester zugreift, als es womöglich mehrfach tun zu müssen, erlag an diesem Tag ihrer Sorge, dass Hendrik vom Musizieren ihrer Freundin erfahren könnte. Jules Xaver nahm das Geschehen befremdet wahr. Zurück blieb der Wunsch, die weiche Hand seiner Mutter wieder spüren zu dürfen.

    Nun, mit der Violine am Hals, begriff er, dass er diese Stimme nicht nur hören, sondern selbst hervorzaubern lernen sollte. Mit der Hilfe des Geigenbaumeisters, verstand er sie zwischen Schulter und Kinn zu halten. Das ungewohnte Gefühl und die Angst sie fallen zu lassen vergessend, harrte er mit geschlossenen Augen in tiefer Pose, welche angesichts seines Alters eine komische Komponente trug. Er bemerkte nicht, wie die zwei Männer vielsagende Blicke tauschten und ein zuckendes, weinerliches Lächeln um den Mund seines Vaters spielte.

    Dieser stille Moment währte lange. Jules schreckte erst auf, als die Gegenwart der Erwachsenen in sein Bewusstsein zurückkehrte. Gütig schaute Reiter auf ihn herab, nickte wissend und sagte,

    „Wir haben sie wohl schon gefunden."

    Das stumme Verständnis ließ Jules Herz schneller schlagen und Tränen des Glücks liefen seine Wangen herab. Während Reiter, mit seiner linken schwieligen Hand, ihm eine von der Wange wischte, umfasste er mit der anderen die Violine und nahm sie ihm ab.

    Eine unaufdringliche Geschäftigkeit begann, in der der Meister, die Geige der Obhut eines eigens dafür vorgesehenen Kastens übergab, in dem auch ein Bogen verankert lag. Der finanzielle Aspekt wurde besprochen. Schnell waren die Männer sich einig und auf dem Weg zur Tür brachten sie den Besuch, Höflichkeiten austauschend, zum Ende. Die Kutsche stand bereit und stumm gab man sich unter angedeuteter Verbeugung die Hand.

    Der Meister sah den Abfahrenden nach, sah wie der Junge zögernd seine Hand hob, um sachte zu winken. Die Kutsche bog um die Straßenkehre und entzog sich seinem Blick. Reiter blieb stehen. Er senkte seinen Blick und schaute sich seine schwieligen Handflächen an. Dann schob er sie in die Hosentaschen.

    Es wurde auch auf der Heimfahrt kein Wort gewechselt. Beider Gedanken, drehten sich um das zukünftige Spiel. Wie stark die Vorstellungen voneinander abwichen, sollte Jules bald erfahren.

    Jules, hatte die halbe Nacht vor Spannung wachgelegen.

    Beim Frühstück stellte sich heraus, dass nicht nur Jules mit der Übermüdung zu kämpften hatte. Auch seine Mutter schien mit ihrem Brötchen solange beschäftigt, dass es den Eindruck erweckte, es könne sich regenerieren. Sein Vater hingegen aß regelrecht hastig, wenn auch nicht so üppig wie gewöhnlich und ließ die Zeitung, deren Lektüre er im Anschluss gewohnt war, unbeachtet bei Seite liegen.

    Hendrik stand auf und ging zu dem für die Feierlichkeit seiner Schritte zu nahe stehenden Sekretär, auf dem seit ihrer Ankunft der Violinenkasten lag. Isabel, deren innere Unruhe, durch ihr bemüht ausdrucksloses Gesicht, Jules schon den ganzen Morgen in angespannter Beobachtung hielt, erhob sich vom Tisch, schob dabei den Stuhl nach hinten, ging um den Selbigen und setzte ihn an seinem angestammten Platz leise ab. Und ebenso leise, als wolle sie ihre vorherige Anwesenheit leugnen, verließ sie das Zimmer.

    Der Tisch, mit dem Frühstücksgedeck versehen, bot ein ungewohntes Bild.

    Der Vater hatte die Tafel aufgelöst und unter anderen Umständen wäre das Abräumen alsbald erfolgt. Doch entweder auf Grund der Tatsache, dass Isabel und Jules nicht geendet hatten oder, dass Hendrik im Hinblick auf die kommende Stunde für derart Aufhaltendes keine Zeit erübrigen wollte, blieb er vorerst in seiner Unordnung.

    Jules wurde bei so viel feierlichem Ernst von Seiten seines Vaters mulmig. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Ein Zerren ergriff seine Eingeweide und seine Atmung verkrampfte, seine Lippen pressten sich zusammen und seine Nasenflügel bebten.

    „Steh auf mein Sohn und stell dich neben mich. Wir wollen sehen, was in dir steckt."

    Jules gehorchte. Seine Knie hatten zwar an Festigkeit verloren, doch brachten sie ihn, an den ihm zugewiesenen Platz. Die Geige fand, wie tags zuvor in der Werkstatt, ihren Weg auf die Schulter und an den Hals des Jungen, diesmal von der Hand des Vaters platziert. Automatisch senkte Jules seinen Kopf Richtung Korpus. Es wurde zwar von ihm erwartet, doch entsprach es auch seinem natürlichen Bedürfnis. Sanft begann sich die nebulöse Versenkung auf Jules zu legen, doch die Stimme seines Vaters löste diesen Zustand gleichwohl auf.

    „Leichter! Dein Kopf ist zu schwer."

    Die plötzliche Schroffheit, als könne er mit heftigem Auftreten eventuelles Unvermögen im Keim ersticken, erschreckte den Jungen, so dass er den Kopf ruckartig anhob. Das Entgleiten des Instruments war die Folge und er griff nach der Violine. Sein Vater, auf den Fall vorbereitet, war schneller, fasste das Instrument mit der Rechten und schlug Jules mit unerwarteter Wucht seine entstellte Hand ins Gesicht. Mit blitzenden Augen griff er ihn bei der Schulter und presste hervor,

    „Hast du eine Ahnung was dieses Instrument wert ist? Was ich bereit bin, für dich zu opfern? Konzentriere dich auf deine Haltung oder ich will dich lehren schneller zu begreifen."

    Völlig erstarrt verstand Jules die Heftigkeit des Geschehenen nicht. Doch was er begriff war, dass, solange sein Vater den Unterricht erteilte, die Violine ihm keine Freude schenken würde.

    Er bekam Angst. Angst vor den unzähligen Übungsstunden, eingekeilt zwischen Vater und Geige. Er konnte sich nur auf eine Art schützen, er musste sich noch tiefer in sein Inneres zurückziehen, die Zeit für sich arbeiten lassen. Er musste geschehen lassen, dass das Instrument wieder den Platz auf seiner Schulter fand, er den Kopf diesmal auf Geheiß absinken lassen musste, um in dieser Pose zu verharren. Es fühlte sich anders an, fremder als die vorangegangenen Male.

    Jules ging nun, der Aufforderung folgend, im Zimmer auf und ab, während er darauf zu achten hatte, dass die Violine nicht verrutschte. Eineinhalb lange Stunden musste Jules den Esstisch umrunden und den Raum durchschreiten. Hendrik setzte sich in den Ohrensessel, der am Fenster platziert den Blick in den Raum lenkte, und fing an, die Zeitung zu lesen. Ab und an, schaute er auf.

    Nach Beendigung seiner Lektüre rief er den Jungen zu sich und nahm die Geige aus dessen Umklammerung. Die Angst sie fallen zu lassen und die lange Zeit, hatten Jules veranlasst den Hals zu verkrampfen und die Schulter anzuheben.

    „Heute Abend üben wir dasselbe und das machen wir solange, bis du gelernt hast, sie zu halten, ohne, dass ich Angst haben muss, das Holz splittern zu hören. Nun geh auf dein Zimmer."

    Schulter und Nacken zusammengezogen und unter Schmerzen den Kopf langsam bewegend, verließ Jules den Raum. Sein Kiefer tat weh und er versuchte verschiedene Punkte mit den Fingern zu ertasten und dem ungewohnten Druckschmerz nachzuspüren. Auch am Schlüsselbein hatte die Violine Furchen gezogen, die er mit fragiler Bewunderung befühlte, einer Bewunderung deren Ursprung Hass war.

    In seinem Zimmer angekommen, schloss er leise die Tür und legte sich rücklings auf das Bett. Die Polsterung gab nach und umrahmt vom Blumenmuster der Häkeldecke, die als Überwurf diente und florale Fröhlichkeit in den Raum zu bringen suchte, schloss er eingesunken die Augen und spürte dem dumpfen Schmerz nach. Er dachte an nichts. Solange es Tag war, entsprach es nicht seiner Natur, sich mit Belastendem zu peinigen. Doch nachts stiegen die Ereignisse empor und quälten ihn. Morgens mussten die Blässe und die dunklen Schatten unter den Augen zwangsläufig auffallen und Hendrik machte dafür stets Isabels mangelnde Fürsorge verantwortlich, was dazu führte, dass der Kleine noch ein bisschen mehr der Kälte empfing.

    Da Jules keine elterliche Liebe kannte, konnte er sie auch nicht missen. Da war ein Hohlraum, der Platz für etwas barg, was er nie gekostet hatte. In seinen Augen war diese Leere zu lesen, die fälschlicherweise als etwas Unbestimmbares, Dunkles interpretiert wurde.

    Die Tür öffnete sich und seine Mutter trat ins Zimmer. Sie setzte sich neben ihn auf das Bett und glättete die Falten ihres Kleides. Geräusche ließen ihren Blick Richtung Tür auffahren. Aus dem unteren Stockwerk waren Schritte zu vernehmen, die sich leiser werdend entfernten. Nur dem Drängen ihres Inneren gehorchend, sprach sie durch eine bleierne Erschöpfung hindurch, fast flüsternd,

    „Es tut mir leid, Jules."

    Den Türknauf schon in der Hand, huschte ihr Blick mit einem unsäglich traurigen Ausdruck über das Kind.

    Jules setzte sich auf und starrte die Tür an. Am liebsten wäre er seiner Mutter hinterhergelaufen, um sie festzuhalten und sie zu fragen, was ihr leidtue. Doch er blieb sitzen und sein verzweifeltes Unwissen, spürte wieder einmal diesen Hohlraum, der die Beziehung zu seiner Mutter war. Er wollte eine Stimme, eine Stimme, die zu ihm sprach, ihn beruhigte, sein Herz leichter machte und ihn mitnahm.

    Am Mittagstisch wurde nicht gesprochen. Isabel entschuldigte sich alsbald, denn zwischen den Eheleuten war ein Abgrund entstanden, der das Essen aller Beteiligten erkalten ließ, bevor es gegessen war.

    Jules ging, nachdem er die Erlaubnis erteilt bekommen hatte den Tisch verlassen zu dürfen, hinaus auf die Terrasse. Seine Mutter saß auf einem gusseisernen Stuhl, bei der Lektüre eines Buches.

    Bei seinem Erscheinen, schaute sie auf und fragte,

    „Hast du vor in den Garten zu gehen?"

    Er war überrascht und bestätigte zögerlich die Frage. Seine Mutter zeigte normalerweise kein Interesse daran, an welchem Ort er sich aufhielt.

    Jules verließ selten das Grundstück. Wenn das Wetter es zuließ, fand man ihn in eine Betrachtung vertieft im Garten, welcher sich hinter dem

    Haus weitläufig erstreckte und abgesehen von wenigen Beeten und Blumenrabatten aus Wiese bestand, auf der alte Bäumen schattig und schützend ihre Äste über den hielten der sie besuchte.

    Das Grundstück fiel ab, je mehr man sich vom Haus entfernte. Ein schmaler Bach kreuzte es auf seinem Weg zum Fluss und diente als natürliche Hürde zum Nachbargrundstück. Jules verlor sich in der Betrachtung der Vielzahl an Insekten die hier auf Schritt und Tritt zu finden waren und sich vor dem suchenden offenen Auge nicht lange versteckten.

    Diese sammelte er gelegentlich in einer eigens dafür vorgesehenen Schachtel, um sie genau zu studieren und auf Arm und Hand krabbeln zu lassen. Manchmal krönte er die schönste der Blumen mit einem gefangenen Insekt, oder suchte vierblättrige Kleeblätter.

    „Pass auf, dass dich keine Biene sticht."

    Auf Grund seines fragenden Blicks fügte Isabel an,

    „Wegen des Übens."

    Sie senkte den Kopf und schien wieder in ihre Lektüre vertieft.

    Ab und an, nachdem er in eine Biene getreten war, die zumeist im Klee nach Nektar gesucht hatte, schwoll sein Fuß gefährlich an und das Auftreten bereitete Schwierigkeiten. Tatsächlich wäre solch eine Situation des Vaters Stimmung nicht zuträglich. Doch da der Unterricht sich in Zukunft nicht leichter gestalten würde, hatte Jules den Gedanken, jeden Tag ein solches Insekt zu reizen, damit dieses sein Leben gab, um sein eigenes zu erleichtern. Diese Vorstellung ließen Jules wohlig schaudern.

    Sich selbst zu verwunden barg für Jules wenig Schrecken. Vor einem Jahr, hatte er sich aus seinem, im ersten Stock befindlichem Zimmer, fallen lassen, nicht um sich ernstlich zu verletzen, sondern um der tagelang andauernden Ignoranz seiner Eltern etwas entgegenzusetzen.

    Seine Gouvernante Anne war für mehrere Wochen in ihre Heimatstadt gefahren, um ihre kranke Mutter zu pflegen. Dies hatten seine Eltern gebilligt, doch weder für Ersatz gesorgt, noch daran gedacht, selbst die Rolle zu übernehmen. In diesen Tagen vermisste er schmerzlich die Gewohnheit, dass jemand seine Zeit mit ihm teilte.

    Sie taten meist nichts Besonderes, sie waren einander wie Schatten. Saß Jules inmitten der Wiese und beschäftigte sich mit dem Getier und den Pflanzen, saß sie ebenfalls auf dem Rasen, freilich auf einer Decke und stopfte auszubessernde Kleidung, las ihm eine Geschichte vor oder tat einfach nichts. Hatte sie sich zusammen mit der Haushälterin, um das von den Herrschaften bestellte Essen zu kümmern, so nahm Jules auf einem Schemel neben dem Herd Platz und beobachtete das emsige Treiben der beiden Frauen, nicht ohne hier und da seine Finger in die Töpfe stecken zu dürfen. Es war keine direkte Zuneigung zwischen Pflegling und Kindermädchen, es war eine warme Symbiose, eine vertraute Zweckgemeinschaft, die in ihrer Art auf tiefe Weise eine schnörkellose Ehrlichkeit hatte, die beiden angenehm genügte.

    Sein Fenstersturz hatte zur Folge, dass er sich beim Aufprall ein kleiner Ast in seinen Oberschenkel bohrte. Weitere Verletzungen, außer einer Schürfwunde, zog er sich nicht zu. Der Sturz blieb unbeobachtet, so dass er, durch den im Bein steckenden Stock, genötigt war, über den Vorfall selbst Meldung zu machen. Der Hausarzt entfernte daraufhin das Holzstück und seine Rebellion blieb folgenlos, außer, dass sein Fenster geschlossen zu halten war. Niemand registrierte den Grund des Geschehenen und bis zum Eintreffen seiner Gouvernante blieb alles beim Alten.

    Er zog seine Lehre daraus und nahm Abstand von den Versuchen, sein Recht zu erzwingen. Nur gelegentlich genoss er solche Gedanken und Vorstellungen, die sein kindliches Verlangen kurzfristig schmälerten.

    Ohne Insektenstich kam der Abend und die Familie fand sich am Tisch ein. Wie des Morgens und des Mittags, verabschiedete sich Isabel alsbald und abermals ohne den Tisch zu räumen, wurde der Unterricht aufgenommen.

    Jules nahm auf Geheiß Aufstellung am Sekretär, dem Geigenkasten wurde die Violine entnommen und Jules trat mit dem am Hals platzierten Instrument seine Runden im Raum an, diesmal unter permanenter Beobachtung seines Vaters, welcher es sich bei einem Glas Sherry im Sessel bequem gemacht hatte. Hin und wieder musste er vor ihn treten und während sein Vater das Instrument hielt, hatte er seinen zu schwer gewordenen Kopf zu heben und zu senken. Die Druckstellen des morgendlichen Übens, ließen keine Minute verstreichen, ohne sich allzu deutlich ins Gedächtnis zu rufen.

    Es war ein Teufelskreis. Tat er wie ihm geheißen und nutze nur das Eigengewicht des Kopfes um die Geige zu fixieren, waren die Schmerzen erträglich, doch die Dauer, in der er diese Pose halten musste, weckten seine Unsicherheit im Umgang mit der Violine, er verstärkte den Druck und der Schmerz schwoll an.

    Diesmal musste er länger als am Vormittag die Übungen erdulden und wurde sogleich zu Anne geschickt, um sich von ihr ins Bett bringen zu lassen.

    Am nächsten Morgen weckte sie ihn eine Stunde vor der gewohnten Zeit. Anne schien nicht erfreut über das baldige Erwachen und sprach nur das Nötigste. Hendrik hatte veranlasst, dass der Tag ab sofort eine Stunde früher zu beginnen habe, da er tagsüber seinen Geschäften nachgehen müsse, weswegen vor dem Frühstück, der erste Unterricht von Jules stattfinden sollte. Tagsüber musste Jules das Erlernte vertiefen, abends folgten die Überprüfung und die Fortsetzung. Isabel entzog sich der neuen Anordnung und ging sogar soweit, dem Frühstück fern zu bleiben.

    Hendrik war von dieser Form des Protests gänzlich unbeeindruckt und so gestalteten sich die Tage von nun an anders. Sein Kindermädchen war angewiesen, die Übungsstunden in der Abwesenheit des Vaters zu überwachen und auf die Unversehrtheit der Violine zu achten. Vier volle Stunden waren vorerst anberaumt, ausschließlich für das Geigenspiel, eine Stunde jeweils morgens und abends, vom Vater unterrichtet und zwei Übungsstunden im Laufe des Tages.

    Der Spätsommer wechselte allmählich sein Kleid und verfärbte das Laub der Bäume.

    Jules war nun in der Lage, sämtliche Tonleitern im Pizzicato, mit den Fingern gezupft, vorzutragen, so dass Hendrik dazu übergehen wollte, die Lektionen zu erweitern und den Bogen mit ins Spiel zu bringen. Nach der Abendmahlzeit begann er wie gewöhnlich damit, das Instrument selbst zu stimmen, um Jules ein paar Tonleitern vortragen zu lassen. Anschließend sollte die Unterweisung auf die Bogenführung ausgeweitet werden, sowie auf das Stimmen der Geige, um sein Gehör auf den hellen leeren Klang der Quinten, in dessen Abstand die Saiten zu erklingen hatten, zu trainieren.

    Hendrik wusste nicht, dass Jules in seinen Übungsstunden nicht ausschließlich seinen Anweisungen folgte. Obendrein interessierte sich keine der im Haus befindlichen Personen für die strengen Bemühungen des ehrgeizigen Vaters, ja, es herrschte sogar ein stillschweigendes Einverständnis darüber, sich nicht mehr als nötig mit Hendriks Obsession auseinanderzusetzen. Niemand billigte seine scharfe Vorgehensweise und dieses geteilte Unverständnis, wusste Jules zu nutzen, indem er eine komplette Stunde der angesetzten zwei Übungseinheiten mit dem Erproben des Instruments verbrachte, um so zu spielen, wie er es einst bei der Freundin seiner Mutter beobachtet hatte, nämlich mit Bogen und Melodie. Es dauerte kaum vierzehn Tage und Jules war in der Lage, erkennbare Melodien einfacher Kinderlieder zu spielen. Mitunter wurden die Versuche von der kräftigen Singstimme Annes begleitet, nur unterbrochen von beider Gelächter. Auf diese spielerische Weise, nahmen seine Fähigkeiten in der Bogenführung zu.

    Zu Beginn zog er den Bogen im falschen Winkel über die Seiten, spielte zu nah oder zu weit vom Steg entfernt, rutschte ab oder hielt den Bogen ungeschickt am Frosch, jener Teil, welcher mit Perlmuttauge verziert und Ziegenleder ummantelt, zum Greifen vorgesehen ist. Bald lernte er den Bogen als Verlängerung zu begreifen. Sein Kindermädchen witzelte, „Es ist ein zu langer Finger." und so forderte sie ihn auf, seine vom Vater vorgegebenen Tonleitern beiseite zu legen und den langen Finger zu schwingen.

    Im Zuge dieser Freuden kam es vor, dass er durch kindliches Ungestüm die Violine falsch griff und einen Wirbel lockerte, so dass die Töne plötzlich verzerrt wurden. Als dies das erste Mal geschah, erschrak Jules heftig und Tränen schossen in seine Augen. In Erwartung der Strafe seines Vaters, welcher mitnichten Abstand davon genommen hatte, Vergehen in Bezug auf seinen Unterricht mit Schlägen zu kommentieren, wurde ihm Angst.

    Anne schaute ebenfalls entsetzt, ihrerseits im Glauben, das Instrument sei zu Schaden gekommen. Nachdem Jules ihr schluchzend erklärte, dass lediglich die Saite gelockert sei und somit verstimmt, entspannte sich ihr Gesicht und sie kommentierte das Aufheben der Tragödie mit den Worten,

    „Wenn das so ist, dann stimm die Geige."

    Auf diese logische Schlussfolgerung war Jules nicht gekommen. Stimmte doch sein Vater obligatorisch mehrfach täglich das Instrument. Er fing an, zaghaft, den Wirbel der irre gelaufenen Saite, zu drehen. Es kostete etwas Anstrengung, denn das gleichzeitige Halten des Korpus und Drehen der Wirbel machte Schwierigkeiten. Er hatte aufmerksam zugesehen, wenn sein Vater die Geige auf seinen Schoß stellte und die Saiten abwechselnd anzupfte und spannte. Desgleichen tat er nun auch und nach wenigen Minuten war das Instrument spielbereit und der Schrecken vergessen.

    Mutig geworden, verstimmte Jules bisweilen mit eigener Hand seine Gespielin. Er wurde immer sicherer und bestimmte die Quinten alsbald rein. Nur seine Finger umklammerten noch zu fest die Wirbel, so dass diese mit Unwillen die gewünschte Position einnahm.

    Jules genoss die Stunden, in denen er frei mit seiner Geige die Welt der Töne erkundete.

    Sein Vater stand, nachdem Jules seine Tonleitern gezupft und die Noten aufgesagt hatte, auf, um dem Kasten den Bogen zu entnehmen. Hendrik suchte zuerst nach dem Kolofonium, welches in Tuch eingeschlagen, in einem kleinen Extrafach lag. Er wollte die Haare des Bogens mit diesem Harz bestreichen, damit sie auf den Saiten haften konnten. Als er den Stoff zurückschlug, stellte er deutliche Gebrauchsspuren fest. Das Kolofonium musste rege Verwendung gefunden haben, war er sich doch sicher, ein unangetastetes Stück ausgehändigt bekommen zu haben. Jules beobachtete entsetzt, wie im Gesicht seines Vaters, die Erkenntnis sich den Weg bahnte, während sein Blick weiterhin fest auf dem Harz weilte. Sein linker Mundwinkel zuckte beunruhigend und seine zu Schlitzen verengten Augen hoben sich, um Jules ins Visier zu nehmen. Nach endlosen Sekunden kam die Frage.

    „Hast du den Bogen benutzt?"

    Jules wusste nichts zu antworten. Wie hätte er vorbringen können, dass er schon recht gut damit umzugehen verstand, dass es keinen Grund gab wütend zu sein, sondern Stolz, weil er, Jules, sich dies ganz allein angeeignet hatte. Er wünschte sich, den Bogen an sich reißen zu können, um eine Melodie vorzuspielen. Dann würde sein Vater erkennen, wie fleißig Jules jeden Tag war. Allein, er wusste, dass es darum nicht ging, sondern um das viel zitierte Prinzip, dessen Beschaffenheit er nicht verstand.

    Aufbrausend schoss Hendrik auf den vor Verzweiflung Tränen überströmten Knaben zu und versetzte ihm einen solchen Schlag, dass er seitlich taumelnd gegen die Tischkante schlug und augenblicklich eine klaffende Platzwunde an der Stirn das Gesicht des Kleinen mit Blut überströmte. Seiner Sinne beraubt sank Jules zu Boden.

    Hendrik riss die Tür zum Salon auf, in welchem sich das Kindermädchen, in Gesellschaft der lesenden Isabel, sogleich von der Stopfarbeit erhob. Sie lief an Hendrik vorbei aus dem Zimmer. Halb stolpernd, mit der Gewissheit, das Kind diesmal nicht nur weinend vorzufinden, fand sie Jules unter dem Esstisch liegend vor, den Kopf von einer Lache Blut umgeben. Sie prüfte seinen Puls und rief nach Frau Blum der Haushälterin, welche gerade im Begriff gewesen war, den Heimweg anzutreten. Diese lief herbei, erfasste die Situation und eilte in Richtung des Hausarztes davon.

    Während Anne mit herbeigebrachten Binden Jules einen Druckverband um den Kopf wickelte und ihn danach in sitzender Position auf ihrem Schoß hielt, vernahm sie einen heftigen Streit zwischen den Herrschaften. Hendrik tobte immer mehr und die Gouvernante sorgte sich auch um Isabel. Sie vernahm laute harte Worte,

    „Ich dulde es nicht, dass ihr Frauenzimmer euch gegen mich stellt. Meine Anweisungen werden nicht mit Füßen getreten. Denkt ihr, ich bin blind, ich würde nicht merken was hier vor sich geht? Ich lasse mich nicht hinters Licht führen. Meine Autorität wird nicht untergraben, weder von einem vierjährigen Knaben, noch von drei Weibern."

    Die Salontür krachte und Anne vernahm diesmal Isabels Stimme die in wilder Leidenschaft hinter ihren Mann herrief,

    „Ja, ich war dumm, dass ich das neue Kolofonium, welches ich extra kaufte nicht schon austauschte! Aber höre! Ohne deine Anwesenheit ist der Junge schon in der Lage ganze Lieder frei aus dem Kopf vorzutragen und glaub mir, deine Quälerei wird aus ihm nicht das machen, was du erhoffst Dir zu schaffen!"

    Als der Arzt keuchend eintraf, nahm Hendrik die letzten Stufen zum ersten Stock, in dem das Herrenzimmer lag. Er hatte auf der Treppe jedes Wort seiner Frau vernommen und schwindelnd flüchtete er in seine Räume.

    Der Arzt nahm Jules den Druckverband ab, nickte Anne anerkennend zu und stellte fest, dass ein paar Stiche zur guten Heilung unumgänglich wären. Vor Mitgefühl zitternd, assistierten Anne und Frau Blum.

    Als der Arzt den vierten und letzten Stich vollziehen wollte, schlug Jules die Augen auf. Er schaute dem Doktor in die Augen und nickte kaum merklich. Es wirkte so befremdlich bei einem Vierjährigen, wo doch selbst Erwachsene oft hysterisch wurden, angesichts von Nadel und Faden in dieser Profession.

    Isabel war unbemerkt dazu getreten, lehnte im Türrahmen und umklammerte ihren Oberkörper, während sie versuchte ihre verzweifelte Wut zu bändigen. Aus Hoffnungslosigkeit angesichts dessen, was noch kommen mochte, wäre sie an liebsten dem Arzt ausgewichen. Als dieser seine Arbeit beendet hatte, wurde er auf Isabels Gegenwart aufmerksam. Auf seinen fragenden Blick schüttelte sie nur den Kopf und wich zur Seite, um ihm Platz beim Verlassen des Zimmers zu machen. Doktor Zärger ahnte sehr wohl, dass das kein normaler Kinderunfall war, doch konnte er nicht mehr tun, als seinem Beruf zustand. Mit gesenktem Kopf ging er zur Eingangstür. Er machte einen ungemein müden Eindruck, allerdings nicht wegen der fortgeschrittene Stunde. Bevor er das Haus verließ, kündigte er an, am nächsten Tag nochmals vorbei zu kommen.

    Jules wurde von Anne in sein Zimmer getragen und um das Blut nicht im Kopfbereich zu stauen, auf ein Extrakissen gebettet. Derart gestützt, in der halb sitzenden Position, entkleidete Anne ihn, um ein frisches Nachthemd überzustreifen. Jules half so gut es ging durch Anheben von Armen und Beinen. Der Blutverlust ließ ihn schwindeln und erschöpft sank er zurück.

    Um Wache zu halten setzte sich Anne in einen bereitgestellten Sessel, die Beine platzierte sie auf einem Hocker und hüllte sich in eine Decke. Als ihr der Kopf schwer wurde, lagerte sie ihn nach hinten auf die kurze Lehne und bald war nur der leise flache Atem beider zu vernehmen.

    Wie es selten in der anbrechenden nassen Jahreszeit zu sehen ist, offenbarte das geöffnete Fenster ein diamantenes Firmament, und die reinigende Frische der Nacht schlich sich ins Zimmer.

    Jules erwachte und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Die Sonne verfing sich im Ahorn, der unweit seines Fensters im Garten wuchs und dessen Laub die Farben des Oktobers angenommen hatte. Glitzernde Lichtpunkte huschten durchs Zimmer, alles gehüllt in die warme Honigfarbe des Herbstes, der endgültig das Zepter in die Hand genommen hatte.

    Er atmete tief die kühle Morgenluft ein.

    Anne öffnete einen Spalt die Tür. Im selben Augenblick standen die Bilder des vorangegangenen Tages vor seinem Auge. Ein dumpfes Pochen an seiner Stirn drang durch sein vom Schlaf noch träges Bewusstsein. Als Anne sah, dass er wach war, ging ein breites Lächeln über ihr vor Sorge gefurchtes Gesicht und sie zauberte eine große Tasse dampfenden Kakaos hervor.

    Tatsächlich schien das Getränk Jules zu beleben und die blutarme wächserne Blässe wich seinem natürlichen Teint.

    „Heute bleibst du im Bett. Ich lese dir Geschichten vor und stopfe dich voll mit Leckereien. Der Doktor kommt nachher und schaut sich an, ob du über Nacht brav die Wunde hast heilen lassen."

    Sie gab ihm einen Nasenstüber und verschwand in Richtung Küche. Jules fühlte der Berührung nach. Die überraschende Leichtigkeit der freundschaftlichen Geste ließen ihn tief atmen. Er hatte schon eine Weile den Eindruck, dass die Frauen des Hauses, einen imaginären Kreis um ihn gezogen hatten, welcher in solchen Berührungen Bestätigung fand. Sie konnten ihn zwar vor dem Starrsinn seines Vaters nicht bewahren, doch ließen sie ihn auf diese Weise weniger einsam zurück.

    Anne kam nicht wieder. Diese Berührung und dieses Lächeln sollten das Letzte sein, was er von ihr empfing.

    Hendrik stand am Treppenansatz und mit einer kurzen Geste seiner Rechten, wies er der Gouvernante den Weg in den Salon. Er eröffnete seinen Monolog mit den Worten,

    „Ich will, dass sie dieses Haus unverzüglich verlassen."

    Dies brachte er merkwürdig resigniert, fast teilnahmslos vor, als wäre er zu dieser Entlassung genötigt worden, als hätte er sich nach erbitterter Diskussion einer höheren Macht gefügt.

    „Sie wissen, warum diese Maßnahme zwingend geworden ist. Ich denke nicht, dass große Erklärungen von meiner Seite von Nöten sind, höchstens von der ihren. Doch möchte ich darauf verzichten. Das ist der noch offene Betrag dieser Woche. Den zahle ich ihnen hiermit aus, so können sie ohne Probleme die Heimreise antreten. Ich darf mich verabschieden und wünsche ihnen alles Gute."

    Beim Verlassen des Raumes fügte er an,

    „Und suchen sie den Jungen nicht nochmals auf."

    Er verließ das Haus, um dem Schwiegervater im Comptoir behilflich zu sein und ließ eine Frau mittleren Alters stehen, die nun ohne Arbeit und auch ohne rechtes Heim war, da ihre Eltern verstorben waren und nichts hinterlassen hatten.

    Anne fand rückwärtig tastend einen Stuhl, ließ sich fallen und starrte die Salontür an. Sie hatte mit einer Reaktion gerechnet, aber keinen Augenblick mit einer Entlassung. Irritiert stellte sie fest, dass sie nicht wütend war. Nein, sie empfand hingegen tiefes ehrliches Mitleid mit diesem Mann, welcher sich und sein Umfeld im Strudel des Selbstmitleides tyrannisierte.

    „Oh lieber Gott, hilf den armen Leuten."

    Sie, Anne, hatte nicht viel. Kaum ein paar Dinge, die nicht Platz in zwei Koffern finden würden, doch um wie viel freier und glücklicher fühlte sie sich im Gegensatz zu den Eignern dieses Hauses, ihren nunmehr einstigen Arbeitgebern.

    Anne war für das Leben und so war das Leben auch für sie.

    Nun, im fünfundvierzigsten Jahr, stand sie auf, um ihre Habseligkeiten zu packen und zu sehen, welche Tür sich diesmal auftun würde. Dies tat sie mit einem Ruck und schritt mit erhobenem Haupt in Richtung

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