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Die Geschwister: Roman
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eBook279 Seiten4 Stunden

Die Geschwister: Roman

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Über dieses E-Book

Der Roman versetzt den Leser in das äußere und seelische Schicksal der Brüder Michael und Klaus, die nach der Flucht ihrer Familie aus der DDR sehr unterschiedliche Wege des Verkraftens gehen.
Sie reagieren auf ihre neuen Lebensbedingungen als Flüchtlinge "im Westen", auf den Verlust von Nimbus und ihres Beziehungsnetzes, auf das Verhalten ihrer neuen Lehrer und Mitschüler und auf die sich gleichzeitig bei ihnen abspielende Pubertät, indem sie untereinander einen Konflikt darüber austragen, wie sie sich behaupten und profilieren können.
Orte des Geschehens sind Bayern, wo Michael von Bekannten der Familie aufgenommen wird, das Ruhrgebiet, wo es Klaus mit seiner Mutter hin verschlägt, und West-Berlin der frühen 1960er Jahre, wo die drei schließlich zusammen wieder Fuß fassen und wo Liebesbeziehungen die Persönlichkeitsentfaltung der beiden Brüder vorantreiben.
SpracheDeutsch
HerausgeberOsiris Mic
Erscheinungsdatum21. Feb. 2017
ISBN9783981798258
Die Geschwister: Roman
Autor

Tom W.H.A. Sommerlatte

Die Kurzgeschichten in diesem Büchlein entstanden in den 1960er und 1970er Jahren in Berlin, als Tom Sommerlatte, damals Gymnasiast und dann Student an der Freien Universität Berlin, regelmäßig für das Spandauer Volksblatt und den Telegraf schrieb und für die Sonntags-Kolumne "Von Tom" an die 100 solcher Geschichten verfasste. Nach seinem (naturwissenschaftlichen und betriebswirtschaftlichen) Studium in Berlin, Rochester, New York, Paris und Fontainebleau und seiner internationalen beruflichen Karriere als Management Consultant widmet er sich heute wieder stärker seinen künstlerischen und philanthropischen Interessen. Er malt (siehe www.sommerlatte-art.com), schreibt Bücher (siehe bei Amazon unter Tom Sommerlatte) und engagiert sich für die katholische Kirchengemeinde in Engenhahn und die Stiftung Zwerg Nase, die sich um Familien mit behinderten Kindern kümmert. Er lebt mit seiner französischen Frau Christine als Vater einer großen Familie (11 inzwischen erwachsene Kinder) in Engenhahn.

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    Buchvorschau

    Die Geschwister - Tom W.H.A. Sommerlatte

    Über den Autor

    Der Roman „Die Geschwister", den der Autor 1956 mit 18 Jahren begann und mit 20 Jahren abschloss, lebt, ohne einfach autobiografisch zu sein, von Beobachtungen und Empfindungen der Menschen, die in den 1950er und 1960er Jahren Flüchtlinge waren wie der Autor selber. Die Zäsur, die materiell und seelisch bei den Flüchtlingen aus dem verlogenen und anmaßenden Herrschaftssystem der DDR entstand, wirkte sich oft bis in die Familienbeziehungen aus.

    Gerade bei Jugendlichen, die sich im Pubertätsalter in einer empfindlichen seelischen Entwicklung befinden, erlebte der Autor damals im Bekanntenkreis die Suche nach einem neuen Selbstbewusstsein trotz des Verlustes von Heimat, Nimbus und Beziehungsnetz.

    Diese Zäsur bewirkte jedoch in vielen Fällen, dass die betroffenen Menschen lernten, sich gegen ungewöhnlich große Schwierigkeiten zu behaupten und einen kühnen Weg zu gehen.

    Im Fall des Autors eröffnete sich die Möglichkeit, in den USA und in Frankreich zu studieren und zu leben, eine von Initiative und Innovation geprägte berufliche Entwicklung als internationaler Management Consultant einzuschlagen und eine bikulturelle Familie zu gründen.

    Der Roman hat heute vielleicht einen bei seiner Entstehung nicht geahnten Wert als Einblick in die Komplikationen von Flüchtlingsschicksalen.

    Inhaltsverzeichnis

    Thomas

    Klaus

    Thomas und Klaus

    Thomas

    Thomas und Klaus

    Thomas

    1.

    Es war windig. Thomas hatte es gern, wenn ihm der Wind ins Gesicht wehte und durch die Haare strich. Er träumte dann, er sei ein Held, der seinen Gegnern kühn in die Augen sieht. Diese Vorstellung tat ihm gut. Sie ließ ihn für einige Augenblicke so sein, wie es ihm vorschwebte.

    Der Wind kam über den See, von den Bergen. Thomas saß am Ufer im Sand. Er ließ den feinkörnigen Sand durch die Finger gleiten. Das gab ihm das Gefühl, etwas Zartes in den Händen zu halten. Für Minuten war er zufrieden. Die Zufriedenheit füllte warm und sättigend sein Inneres.

    Auf dem See spiegelten sich die letzten Strahlen der Sonne, die dicht über dem westlichen Ufer stand und unterging. Thomas verkroch sich in sein Gefühl der Behaglichkeit.

    Dann zog ein leichter Nebel über die flachen Ufer des Sees, und es wurde kühl. Die Behaglichkeit verließ Thomas. Er wurde niedergeschlagener als zuvor. Denn er wusste, dass es ihm nicht gelang, die Schwierigkeiten zu überwinden, die ihm in den Weg getreten waren. Ihn erfüllte Trotz, und er machte ehrgeizige Pläne, von denen er jedoch im Grunde wusste, dass er sie nicht befolgen konnte, die ihm nur für einige Zeit das Gefühl gaben, Widerstand zu leisten.

    Die Berge am Horizont, die violett und wuchtig dalagen, begannen, ihn zu beunruhigen. Sie hoben sich immer düsterer vom rosafarbenen Himmel ab. Es sah aus, als hörte hinter ihnen die Welt auf. Aber Thomas machte sich klar, dass seine Unruhe nicht von den Bergen kam sondern aus ihm selbst. Niedergeschlagenheit begann wieder, an ihm zu nagen.

    In den letzten Wochen war er meist traurig gewesen. Seit seine Mutter mit ihm und seinem Bruder aus der DDR geflüchtet war, war er ratlos.

    Sie hatten etwas verlassen, an dem er sehr hing. Seine Freunde, die Wälder, in denen er mit seinem Bruder und seinen Freunden tolle Dinger gedreht hatte. Bisher war er es gewöhnt gewesen, Mittelpunkt zu sein. Was er sagte, war von Bedeutung gewesen. Er war immer bewundert worden. Was er wollte, hatte er erreicht. Er hatte eine führende Rolle unter seinen Freunden gespielt, weil er die Widerstände im Leben für überwindbar hielt. Bisher war er noch nie auf unüberwindbare Widerstände gestoßen.

    Aber er hatte seine Erfolge nicht auf die günstigen Umstände sondern auf sich selbst zurückgeführt. Das hatte ihn selbstsicher und optimistisch gemacht. Er schien ein Glückspilz zu sein. Die ganze Welt, hatte er geglaubt, sei einfach für ihn. Das hatte er gemeint, weil er seine kleine Welt für die große hielt.

    Von dieser kleinen Welt hatte er jetzt Abschied nehmen müssen. Er ahnte, dass er deshalb auch Abschied von seinem sorglosen Leben nehmen musste.

    Er hatte Angst vor dem Schritt in das Neue, der sein erster selbständiger Schritt sein musste. Die Veränderung kam zu überraschend. Er klammerte sich innerlich an sein bisheriges Leben und war ratlos.

    Nur am See, im Wind war alles gut. Thomas kannte den See am Morgen, wenn die Wälder und der See aufwachten, wenn das Wasser frisch und lebendig tänzelte. Dann war es durchsichtig grün und eckig. Die Berge traten aus dem Dunstschleier hervor.

    Er kannte den See, wenn die Sonne am höchsten stand. Wenn das Wasser blau und die Wellen müde und rund waren. Und der Sand heiß. Wenn er sich in die Wälder sehnte und nicht hinüber ging, weil er zu träge war, sich zu bewegen. Er kannte den See am Abend, an Abenden wie diesem.

    Er war einverstanden mit der Art des Sees. Er freute sich, ihn vorgefunden zu haben. Wenn er unglücklich war, dachte er daran, dass er am See alles vergessen würde. Er war angetan von der Natur, die diesen See geschaffen hatte. Einem See, an dem er ruhig wurde, der so schön war, dass er alles andere vergaß.

    Doch seine Ratlosigkeit kam schließlich immer wieder hoch. Hätte er sich gehen lassen, so wäre er aufgesprungen und hätte geschrien. Er hätte geweint und geschrien. Davon wäre es auch nicht besser geworden. Das hatte er schon vor Tagen erkannt, als er die gleiche Ratlosigkeit verspürt hatte. Sie erfüllte ihn, wenn er an die Leute dachte, bei denen er in Zukunft leben sollte. Er hatte von der ersten Minute an eine Mauer zwischen sich und sie gestellt. Vielleicht hatte er es getan, weil sie ihm neu und ungewohnt waren, vielleicht hätte er es bei anderen Menschen auch getan. Aber sie hätten mit aufrichtigen Worten die Mauer umstoßen können. Doch was sie sagten, klang gekünstelt und süßsauer. Thomas hatte das sogleich gespürt. Was er antwortete, war daraufhin unbeholfen und abweisend gewesen.

    Das machte ihn ratlos und traurig. Er hasste diese Stimmung, aber er war nun vertraut mir ihr. Er erwachte morgens mit ihr. Und er lebte mit ihr zusammen. Nur am See konnte er sie vergessen, wenn er träumte und den Sand durch die Finger gleiten ließ. Doch sie kam wieder, wenn es kühl wurde. Seit Tagen war es so.

    Er wollte weiter so sein wie vor der Flucht der Familie Schultze. Er richtete seine ganze Willenskraft darauf aus. Und zuweilen konnte er den alten Optimismus, die vertraute Selbstsicherheit zurück gewinnen. Dann nahm er sich vor, dass er wieder Freunde haben wollte und dass ihm Hartlmanns gleichgültig sein sollten. Er beschloss, wie bisher Erfolg zu haben und seinen Willen durchzusetzen. Mit diesem Gedanken verdrängte er die Wut und seine Traurigkeit. Aber er fühlte zugleich, wie undurchführbar seine Entschlüsse waren.

    Es war schwer für ihn, allein zu sein. Er hätte eines Menschen bedurft, zu dem er Vertrauen haben konnte. Aber die Menschen, die ihn umgaben, hielt er für die Ursache seiner Sorgen.

    Hartlmanns verstanden ihn nicht und ließen ihn allein. Sie hatten Thomas in ihr Haus aufgenommen, weil eine alte Bekanntschaft mit der Familie Schultze sie dazu verpflichtete. Sie dachten anscheinend, ihn wie ein Möbelstück ins Haus zu nehmen. Er sollte so sein, wie sie es sich vorstellten. Sie wollten durch ihn keine Unannehmlichkeiten haben. Und weil sie sich nicht vorstellen konnten, wie Thomas sein sollte, waren sie sich unsicher. Diese Unsicherheit schwang in ihrer Begrüßung mit und ließ ihre Freundlichkeit unecht wirken. Thomas war gerade so, wie er nicht sein sollte. Sie wussten nur, wie er nicht sein sollte. Und so war Thomas. Da schwand die Freundlichkeit, und es wurde Ernst für sie. Sie sagten ihm, dass er sich ändern müsse. Sie tadelten ihn. Und Thomas lehnte sie immer stärker ab. Er verschloss sich gegen sie. Eine Verständigung war nun sehr schwer. Die Entschlossenheit von Thomas, so zu bleiben, wie er war, festigte sich von Tag zu Tag. Er begegnete damit seiner Niedergeschlagenheit.

    Am See, im Wind, wenn er träumte, ein Held zu sein, verband er sich immer von Neuem mit der Vergangenheit.

    2.

    Es war dunkel und sehr kühl geworden. Sterne funkelten am graublauen Himmel und tanzten auf dem Wasser. Das Wasser rauschte im Schilf. Die Wälder verschwanden im Dunst.

    Thomas stand auf. Er stand absichtlich umständlich auf, denn es sollte lange dauern. Er klopfte den Sand von der Hose. Er hatte sich zu festen Gedanken durchgerungen, deshalb begann er, entschlossen zu schreiten.

    Er hatte viel von der kühlen Nachtluft geatmet, als er Hartlmanns Haus erreichte. Die Dunkelheit hatte ihn beruhigt. Hartlmanns Haus gefiel ihm. Deswegen und weil er Hunger hatte, ging er gern hinein.

    An der Tür kam ihm Frau Hartlmann entgegen. Er fühlte, wie der beruhigte Ausdruck auf seinem Gesicht verschwand, als hätte er eine Wachsmaske auf, mit der er einen heißen Raum betrat.

    „Guten Abend", sagte er. Es klang hohl.

    „Guten Abend", sagte sie. Er sah ihren großen, fleischigen Körper. Das Gesicht, von dem er wusste, dass es fett und glänzend war, lag noch im Schatten. Doch ihre Haare, die einmal schwarz gewesen waren und jetzt ergrauten und aus unendlich vielen krausen Locken bestanden, sah er. Sie sahen schmutzig und ungekämmt aus. Er hütete sich, ihnen zu nahe zu kommen. Sie hatte einen grauen Rock an, der eng ihre dicken Schenkel umspannte und an den Rundungen ihres Hinterns glänzte. Er trat ein und machte die Tür zu. Ohne etwas zu sagen, ging er in die Küche. Das Licht blendete ihn. Er setzte sich an den Tisch, auf dem ein Wachstuch lag, das ihm entgegenglänzte. Dann kam sie nach, mit ihren Trippelschritten. Er sah sie an und wusste nicht, was für ein Gesicht er machen sollte. Sie ging zum Herd und klapperte mit den Töpfen herum. Es war Thomas unangenehm, dass sie nichts sagte. Ihre Augen zwischen den fetten Rundungen ihres Gesichts sahen ihn nur musternd und vorwurfsvoll an. Thomas merkte, dass sie etwas zu sagen hatte. Er hatte keine Angst davor, aber er war verunsichert. Er sah ihren großen runden Busen schaukeln, als sie zum Tisch kam und sein Abendbrot hinstellte.

    Sie blieb am Tisch stehen.

    „Thomas, so geht das nicht weiter. Verstehst Du. Du hast abends eher nach Hause zu kommen. Von mir aus könntest Du machen, was Du willst. Aber ich habe die Verantwortung. Wir sollen Dich nicht nur ernähren sondern auch erziehen!"

    Thomas sagte nichts. Aber es gefiel ihm nicht, dass sie sagte, sie müsse ihn ernähren. Denn dafür schickte ihr seine Mutter jeden Monat Geld. Im Grunde war er nicht auf Hartlmanns angewiesen. An diesen Gedanken klammerte er sich. Er hatte ihr schon gesagt, dass sie ihn ja nicht zu ernähren brauchte. Aber sie benützte diese Wendung immer wieder. Er widersprach ihr nicht mehr. Er sah nur weg. Er sah auf den Teller vor sich und zählte die Brote. Während der Tee dampfte, redete sie weiter.

    „Wenn Du nun schon bei uns wohnst, musst Du auch so leben, wie wir es für richtig halten. Hast Du gehört? Vielleicht konntest Du Dich zu Hause abends herumtreiben. Hier gibt’s das nicht. Hier herrscht Ordnung. Wir wollen Dich zu einem ordentlichen Menschen erziehen".

    Der Gedanke, von Hartlmanns zu einem ordentlichen Menschen erzogen zu werden, flößte ihm Unbehagen und Trotz ein. Er wollte nicht der ordentliche Mensch werden, zu dem ihn Hartlmanns machen wollten. „Gott sei Dank!", dachte er und sah, dass auf dem einen Brot der Käse war, der zerlief und den er nicht leiden konnte.

    „Wir haben unsere bestimmte Vorstellung davon, was Du tun kannst und was nicht. Mach uns bitte keine Schwierigkeiten. Deine Mutter kann nicht verlangen, dass wir uns von Dir unsere Ruhe nehmen lassen. Hörst Du? Wir verlangen von Dir, dass Du befolgst, was wir für richtig halten. Dazu gehört, dass Du abends rechtzeitig zu Hause bist. Und wenn Du das nicht tust, kannst Du zu Deiner Mutter fahren und Dich von ihr erziehen lassen. Bei uns musst Du jedenfalls ein ordentlicher Mensch werden. Den ganzen Tag draußen herumstrolchen, das geht nicht".

    Sie redete ohne Pause. Die Wörter strömten rau aus ihr heraus. Es tat ihr offensichtlich gut, das zu sagen, denn es schien einen großen Teil ihres Denkens zu beschäftigen. Sie legte eine Hand auf den Tisch. Groß und fleischig war diese Hand und dick der Arm. Sie stand an der einen Ecke des Tisches und drückte die Kante der Tischplatte in ihren Schoß. Der graue Rock spannte sich über ihren Bauch, der durch ihr unruhiges Atmen bebte. Es drängte ihn, sie anzuschreien und ihr zu antworten, was er die ganze Zeit als Antwort bereit hatte.

    „Du hast zu gehorchen, sagte sie, „es ist schon ein Opfer von uns, dass wir Dich aufgenommen haben. Man kann nicht verlangen, dass wir uns mit Dir herumplagen. Deine trotzige Art gefällt mir nicht. Und Deine sonderbaren Ansichten hast Du abzulegen. Hörst Du? Den ganzen Tag draußen herumstrolchen – das geht nicht. Das geht nicht.

    Sie sagte nun nichts mehr. Sie war immer lauter geworden, weil sie Thomas’ Gesicht nicht sah und weil sie den Eindruck hatte, er höre gar nicht zu. Aber nun sagte sie nichts mehr. Thomas, der bei ihrem Gezeter immer wütender geworden war, starrte noch ein Weilchen auf die Brote und auf den Käse. Dass er diesen Käse nicht gerne aß, rechnete sie mit zu seinen komischen Ansichten.

    Dann sah er sie an, und ihm war zum Weinen zu Mute. Er hätte ihr am liebsten den Tee auf ihren fetten Busen geschüttet. Von seiner Entschlossenheit, die er am See gesammelt hatte, war noch etwas erhalten. Es kratzte ihm im Hals, und er war heiser, als er sagte: „Ich möchte einfach weiter so leben, wie ich zu Hause gelebt habe. Da hat niemand etwas dagegen gehabt. Da war es in Ordnung. Und hier ist es auf einmal nicht mehr in Ordnung. Was habt Ihr nur?"

    Er war nahe daran zu weinen. Darum wartete er ein Weilchen, ehe er weiter sprach. Dann sagte er hastig, denn er merkte, dass Frau Hartlmann sonst wieder los geschrien hätte: „Es stört doch niemanden, wenn ich etwas später nach Hause komme. Warum auch? Ich kann ja ausschlafen. Und wenn mir etwas nicht schmeckt, dann esse ich es eben nicht. Wenn ich etwas nicht will, dann eben nicht. Bei meiner Mutter hat das immer geklappt. Was ist hier nur anders? Ich mache ja gar keine Schwierigkeiten. Ich habe keine Lust, anders zu werden, nur weil Ihr es wollt. Ich wollte ja gar nicht zu Euch. Ich will Euch ja keine Schwierigkeiten machen. Aber lasst mich in Ruhe. Ein ordentlicher Mensch werde ich von allein. Aber anders, als Du denkst. Man ist nicht ordentlich, wenn man alles isst und abends um sieben nach Hause kommt. Ich will anders ordentlich werden".

    Thomas wusste, dass er das nicht sagen durfte, weil man nicht alles sagen darf, was man denkt. Sonst hätte er ihr ja auch sagen können, dass er ihr gern mit dem Wischlappen auf ihren fetten Bauch geschlagen hätte.

    „Es ging ja nicht anders. Wo sollte ich denn hin? Es ist gemein, mir vorzuhalten, dass Ihr mich wieder wegschicken könntet. Erst seid Ihr Freunde. Aber wenn Ihr etwas für andere tun sollt, dann ist es aus. Ich kann ja nichts dafür, dass ich hier bin. Und erst recht nichts, dass ich so bin, wie ich bin. Ihr hättest Euch das eher überlegen sollen!"

    Thomas hatte nun gesagt, was er schon seit Tagen sagen wollte. Warum sahen Hartlmanns nicht selbst ein, wie es war! Sie versuchten gar nicht erst, ihn zu verstehen. Sie wollten unberührt bleiben von der Tatsache, dass ihre Freunde flüchten mussten. Es war schon genug, dass sie Thomas aufnehmen mussten. Aber Schwierigkeiten wollten sie nicht haben. Thomas sollte die Ordnung, die sie sich geschaffen hatten, nicht stören. Das alles sah Thomas, aber er merkte nicht, dass auch er sich nicht bemühte, sie zu verstehen. Auch er wollte keine Schwierigkeiten haben. Er wollte sein bisheriges Leben nicht aufgeben. Er wollte nicht zugeben, dass sich in seinem Leben etwas Wesentliches geändert hatte. Bisher hatte es für ihn keine Probleme gegeben, und er sah nicht ein, dass er sich jetzt umstellen musste. Weil er unerfahren war, war er unsicher. Er hatte Angst. Er glaubte, dass Hartlmanns die Ursache seiner Sorgen waren. Und er hatte Frau Hartlmann, der dicken Frau, die am Tisch stand und sich die Kante der Tischplatte in den Schoß drückte, gesagt, was er ihr sagen wollte. Er sah ihr ratloses Gesicht. Er stand auf und ging hinaus. Er ging die Treppe zu seinem Zimmer hinauf und hörte, dass sich in der Küche nichts bewegte. Er dachte an nichts mehr. In seinem Zimmer, in dem nur ein Bett, ein Schrank, ein Tisch und ein Stuhl standen, blieb er im Dunkeln. Er hatte die Hände in den Hosentaschen. Er sah zum offenen Fenster hinaus. In die Nacht. Die Nachtluft kam herein. Er hämmerte sich mit den Fäusten auf die Schenkel. Die Sterne, die in den Rahmen seines Fensters passten, flimmerten. Lange stand er so und dachte an nichts. Er fühlte es leer in sich. Dann zog er sich aus und betrachtete sich im Sternenlicht. Er war zufrieden mit seinem Körper, den Gliedern, die groß waren und sehnig. Er fühlte die kühle Nachtluft um seine Nacktheit wehen. Und er spürte wieder etwas von der Entschlossenheit in sich strömen, die er sonst nur am See gewann.

    Als er Frau Hartlmann die Treppe herauf kommen hörte, legte er sich in sein Bett und deckte sich zu. Nur mit einer Wolldecke deckte er sich zu und legte sich auf den Bauch, weil sonst eine große Unebenheit an der Wolldecke zu sehen gewesen wäre. Als ob er mit der dicken Frau schlafen wollte. Aber wenn sie ihren fetten Busen so herum trug, warum sollte er dann seinen Penis verstecken! Frau Hartlmann kam herein und machte das Licht an. Er sah sie nicht an. Er hörte, wie sie in seinem Zimmer herumging. Sie ordnete seine Sachen und legte sie auf den Stuhl. Er hatte die Sachen am Boden liegen lassen. Sie sagte nichts. Doch Thomas fühlte, dass sie etwas sagen wollte,

    „Thomas", sagte sie schließlich. Ihre Stimme war rau, aber sie klang jetzt ein wenig wärmer als vorher. Thomas sagte nichts.

    „Du musst doch einsehen, dass wir es gut meinen, wenn wir einen ordentlichen Menschen aus Dir machen wollen. Sieh das doch ein! Du darfst nicht so trotzig sein. Es ist doch nicht leicht, einen Menschen aufzunehmen. Du musst versuchen, es uns nicht so schwer zu machen".

    Thomas merkte, dass sie dem Gespräch von vorher einen besseren Schluss geben wollte. Er genoss es, dass sie zu ihm heraufgekommen war und ihn bat. Er hörte nicht nur auf die Worte, die sie sagte, sondern auch auf den Ton, in dem sie sprach. Es war beinahe ein flehender Ton. Thomas kam sich wie ein Sieger vor, der um Gnade angefleht wird. Und er blieb hart. Er sagte nichts.

    „Überleg’ Dir bitte, dass es besser ist, wenn Du machst, was wir für richtig halten. Du machst es uns und Dir leichter".

    Als er nicht antwortete, sagte sie „Gute Nacht".

    „Gute Nacht", sagte er und sah wieder weg. Sie machte das Licht aus und blieb noch einen Augenblick im Zimmer. Dann ging sie hinaus. Er hörte sie die Treppe hinuntersteigen. Er fühlte sich als Sieger. Er triumphierte. Er war ein Mann gewesen. Ein Held wie der, von dem er am See träumte, wenn ihm der Wind entgegenwehte. Er war entschlossen, auch weiterhin Sieger zu bleiben. Er wollte das Leben fortführen, das er vor der Flucht geführt hatte. Er wollte wieder erreichen, was er sich vornahm. Er wollte alle Widerstände überwinden. Er versteifte sich immer mehr in der Entschlossenheit, seine Selbständigkeit zu wahren und sich nicht die Ordnung von Hartlmanns aufzwingen zu lassen. Woher nahmen sie das Recht, seine Ansichten zu kritisieren? Gerade, weil Thomas ahnte, dass sein bisheriges Leben vorbei war, und weil er nicht wusste, wie er es anstellen sollte, weiter so erfolgreich zu sein wie vor der Flucht, klammerte er sich an das Alte. Gleich morgen wollte er in das Dorf gehen und Freunde finden. Zum Teufel noch mal, er wollte schon zeigen, dass er sich nicht unterkriegen ließ. Frau Hartlmann ging unten hin und her. Sie hatte es sich leichter mit Thomas vorgestellt. Sie war sich nicht sicher, wie sie mit ihm umgehen sollte.

    Doch ihre Gedanken beschäftigten sich nicht nur damit. Je später es wurde, umso unruhiger dachte sie an ihren Mann. Es waren geschäftliche Dinge, die ihn abends so lange aufhielten. Aber sie ahnte, und diese Ahnung machte sie ängstlich, was für geschäftliche Dinge es waren.

    Draußen fuhr ein Auto vor. Frau Hartlmann ging zur Tür. Sie hörte an der Art der Schritte im Kies, dass es ihr Mann war. Es waren müde, unregelmäßige Schritte, sie schlürften im Kies. Als ihr Mann die Tür öffnete, fiel ihm das Licht ins Gesicht, und er blinzelte sie an.

    „Guten Abend, Liebling", sagte er. Es klang matt und ein wenig brüchig. Er war blass. Er war ebenso klein wie seine Frau. Aber er war sehr schlank, und der Mantel hing schlapp an ihm herunter. Er ging gebückt. Mit seiner weißen, knochigen Hand, auf der die blutblauen Adern hervortraten, nahm er den Hut vom Kopf. Die braunen Haare fielen ihm strähnig in die Stirn, er kämmte sie mit der Hand zurück. Er legte den Hut auf die Garderobe und zog den Mantel aus. Seine Jacke war offen, ein unordentlich gebundener Schlips hing hervor. Er bewegte sich unruhig hin und her, während er sich auszog. Seine Frau stand noch immer an der Tür, ihre fleischige Hand auf der Türklinke. Er drehte sich zu ihr um und tätschelte ihr auf die breiten Hüften. Er lächelte sie an, während er mit den Augen blinzelte, weil ihn immer noch das Licht blendete.

    „So, Liebling, sagte er, „Du sagst gar nichts.

    Sie lächelte ebenfalls. Dann ging sie ihm voran in die Küche.

    „Wo warst Du so lange?" fragte sie mit einem argwöhnischen Unterton.

    „Aber Liebling", sagte er und lächelte sie an. Er hatte fast keine Augenbrauen, und sein Gesicht wirkte sehr klein. Seine Stimme klang vorwurfsvoll.

    „Du weißt doch! Noch immer wegen des Vertrages". Er setzte sich. Das Wachstuch auf dem Tisch glänzte ihm entgegen. Sie klapperte am Herd. Sie dachte niemals viel. Aber sie fühlte, dass etwas zwischen ihrem Mann und ihr nicht in Ordnung war. Er verbarg ihr etwas, und sie ahnte, was es war. Er war immer auf ihren Schutz angewiesen gewesen. Er, der unentschlossen und gebrechlich war. Er hatte nachts in ihren dicken Armen gelegen, und sie musste ihn aufmuntern für den nächsten Tag. Sie kannte seine Schwächen, die er anderen gegenüber mühsam verbarg. Er hatte in ihren Armen geweint wie ein Kind. Er hatte oft nicht weiter gewusst. Aber sie, die mit ihren beiden stämmigen Beinen fest auf der Erde stand und das Leben nahm, wie es war, die alles, was in ihre großen Hände fiel, festhalten konnte, hatte ihm Mut gegeben, weiter zu arbeiten. Wenn er etwas im Leben erreicht hatte, so

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