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Der Treibsand: ein literarisches Psychogramm
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eBook350 Seiten4 Stunden

Der Treibsand: ein literarisches Psychogramm

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Über dieses E-Book

In einer bildhaften, atmosphärischen Sprache erzählt "Der Treibsand" gleichermaßen die Geschichte eines road trip durch die ausgedörrten Landschaften des südlichen Griechenland wie von den emotionalen Irrfahrten des blutjungen Robert Tönsing und seiner Suche nach der Mitte der eigenen Existenz. Desillusioniert, orientierungslos und zutiefst bestürzt angesichts einer diffus empfundenen Daseinsangst, faßt dieser eines Tages kurzerhand den Entschluß, zu einer Reise aufzubrechen, die ihn nachfolgend, sozusagen in einem Akt des Sichloslösens aus seinen schieren Alltagsbindungen, aus der kupferfarbenen Enge seiner nördlichen Heimatstadt hinausführt in die lichtgefluteten Räume einer mediterranen Welt. Hier bewegt er sich alsdann in derselben Weise als Suchender wie auch als Versehrter von Ort zu Ort, stets sich selbst auf der Spur, seinen seelischen Abgründen und Unzulänglichkeiten. Währenddem vollzieht sich die Erzählhandlung des Romans immerfort in einem Spannungsfeld aus existentieller Entsagung und Lebensbejahung, Fatalismus und Zuversicht – mit kraftvollen Pinselstrichen hineingeworfen in ein Koordinatensystem aus Sonne, Meer, Salz, Innerlichkeit, Liebe zum Leben und existentieller Verzweiflung.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum9. Juni 2016
ISBN9783738072792
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    Buchvorschau

    Der Treibsand - Jos Terberg

    I.

    Den Leib aufgeworfen, erwachte Robert Tönsing unendlich zerschlagen aus einem flachen, traumzerrissenen Schlaf. Etwas kauerte schwer und knöchern auf seiner schmalen Brust. Mit einer Hand still seinen betäubtwarmen Schädel betastend, blinzelte er knapp in den fahlen, von einer Anzahl alter Möbel verstellten Raum hinein, in dem er sich befand und der sich vor ihm verschließen zu wollen schien wie ein fremdes Leben. Sich verlierenden Blickes betrachtete er die starren Spalte, die, sich untereinander vielfach verädernd, den Verputz der hohen Zimmerdecke durchzogen. Bleiche Lichtfäden glitten durch die von einer Sprühnässe beworfenen Fensterscheiben herein. Draußen ergoß sich eine verhangene, graugezeichnete Tagesdämmerung behäbig an gestauchten Gemäuern entlang. Es war ihm mühsam, sich zu regen, denn noch hing die kaum vergangene Nacht wie mit morschen, lastenden Gliedern an ihm; darüber hinaus verspürte er, wie sich gleichermaßen eine erstickte Wirrnis in ihm hielt und ihm dunkel und fahrig das Blut rührte.

    Einige Zeit lang taumelte er mit seinem ganzen – inneren wie äußeren – Empfindungsvermögen gleichwie im Ungewissen umher. Ein beharrlicher Strom stummer, gespinsthafter Bilder stieg in ihm empor, und gelegentlich schien es ihm, als träten aus dem grauen, zerstreuten Halblicht dieser frühmorgendlichen Stunde schwebende, flüchtige, ungreifbare Schatten hervor, um ihre lauen, zerbrochenen Finger an seine Stirn zu legen. Für eine Weile befand er sich zwischen den Welten, gestürzt, vergessen, an den Rand seiner eigenen Wahrnehmung gestellt, und nur der säuerliche Geschmack seines Speichels wollte ihm faßlich und vertraut vorkommen. Er zog eine seiner Hände bis ans Kinn hinauf und berührte vorsichtig die festen Linien seiner vortretenden Wangenknochen; und auch diese erschienen ihm fremd und abweisend, wie marmorartiges, blankgeschliffenes und unnachgiebiges Gestein.

    Dann wieder war wie eine versengende Glut fast gewaltsam ein unterschwelliges und schweratmiges Aufwallen in ihm, in dessen Fortgang er etwas hätte ergreifen, niederwerfen oder zerreißen mögen. Doch entzogen sich ihm die Dinge beharrlich.

    Schließlich verließ er das Bett. Er kleidete sich an und wusch sich in dem winzigen, nur spärlich beleuchteten Badezimmer seiner Wohnung vor einem Spiegel voll schwarzer Schatten ausgiebig sein Gesicht. Er brühte Kaffee auf und saß alsdann, ohne imstande zu sein, auch nur einen wirklich klaren Gedanken zu fassen, dicht über den von zahlreichem Schmutzgeschirr verstellten Küchentisch gebeugt. Er fühlte sich unendlich zerschlagen. Und während er sich der vorherrschenden Stille hingab und dem schieren Gewicht seines schweigenden Rumpfes, nahm er fröstelnd, mit zerfließenden Sinnen den schalen Mörtelgeruch erkalteten Mauerwerks entgegen, der sich träge um ihn her erhob.

    Später trat er, vergraben in einen festen Mantel, hinaus auf enge, menschenleere sonntägliche Straßen.

    Kalte Nebel strichen aufquellend umher, mürbe, kupferne Gerüche erfüllten durchfeuchtete Altstadtwinkel, welkes Laub haftete auf schimmerglänzendem Gassenstein. Es troff von kahlen, verfrorenen Astspitzen, erloschenen Laternen, Dachtraufen. Er ging zügig voran, ziellos, die Hände fest gegen seine kantenen Hüftknochen pressend und mit nur beiläufigen Blicken die niederen Fassaden der schrägen, ineinandergeworfenen Häuserzeilen streifend, die an ihm vorüberglitten. Vor seinen Schritten stoben, unwillig zeternd, Drosseln von nahen Mauervorsprüngen. Er schob die Schultern vor. Er war ganz für sich, gleichsam verwaist. Ein tiefes Schweigen bedeckte ihn. Inmitten des verlassenen, von den schwerfälligen, weißlichen Schatten eines dunstverschobenen Vorfrühlingsmorgens durchspülten Rathausviertels kostete er es.

    Einmal hielt er mit müden Fingern vage das flechtenbewachsene Eisen eines Kirchhofgitters ergriffen. Er stand schwer atmend, regungslos, eine stumme, seltsam versteifte, in sich zusammengesunkene Erscheinung in der lichttrüben Flut des anbrechenden Tages, und ließ lange, angestrengte Momente über sich hingehen. Es war ihm, als wäre der Keim einer Krankheit in ihm. Dann schlug er das Revers seines Mantels um und unternahm es, mit einer raschen Wendung von neuem seinen Weg aufzunehmen.

    Über rauhreifgenetzte Uferböschungen gelangte er bald an die schmalen Hafenpromenaden hinab. Das schemenhaft herabhängende Gezweig mächtiger Bruchweiden berührte hier still rostende Schiffsrümpfe. Das Gewässer lag vollkommen unbewegt, bräunlich und dampfverhangen. Lehmrüche sanken gemächlich auf ihn herab, während er vor den hölzernen Geländern der Uferwege verharrte. Er schloß seine Augen. Ausgekühlt, einen Blutgeschmack im trockenen Mund, verspürte er, daß er sich verlor. In ihm rührte es sich lose auf. Entkräftet, zweifelnd, gestürzt, begegnete er einem aschenen Teil seines Selbst.

    In den folgenden Tagen fühlte sich Robert Tönsing von einer inneren Bedrängnis dumpf eingenommen. Eine Ruhelosigkeit war in ihm. Er ging den Verrichtungen seines ihm gewohnten Alltages nach, arbeitete halbtags im Geschäft und nutzte den verbleibenden Rest seiner Zeit, um sich in seiner Wohnung über einem Buch zurückzuziehen, Spaziergänge zu unternehmen oder Besorgungen zu machen. Er hatte nichts an seiner Lebensweise geändert, und es schien ihm vermeintlich nichts widerfahren zu sein, das den Einklang seines Gemütes hätte anfassen können. Dem äußeren Anschein nach vollzog sich alles wie üblich; und dennoch war er aus dem Tritt geraten und verspürte, daß ein Unbekanntes ihn angerührt hatte und ihn nunmehr mit fahrigen Nerven umhertrieb. Er fühlte sich außerstande, für sich ein Gleichmaß zu finden. Die Zeit verstrich. Der Zustand hielt an, und es mochte gar sein, daß er sich allmählich vertiefte. Es war, als grübe sich nach und nach etwas in ihn hinein. Auch begannen die nun wiederkehrend in ihm aufsteigenden Beklemmungen, die Art und Weise, in der er seine Umgebung wahrnahm, zu verändern. Es gab Momente, in denen ihm die Vertrautheit mit einem Raum, in dem er sich aufhielt, oder einer Straßenflucht, die er durchschritt, zerbrach. Es war dann, als hätte sich die Zuordnung der Dinge um ihn herum ein weniges verschoben, ein weniges, das er nicht zu benennen vermochte und das dennoch ausreichte, ihm das Zutrauen zu zerrütten. So unerklärlich ihm derartige Bewandtnisse waren, so beunruhigend wollten sie ihm auch anmuten. Es hatte den Anschein, als wollte alles Äußere ihm seine Begrifflichkeit versagen. Wenn er an einem dieser Märztage abends durch sein Viertel heimkehrte, mochte es geschehen, daß er an einem erhöhten Platze unvermittelt innehielt, seinen Blick entlang den sich einem blassen, bleifarbenen Hafenbecken zuneigenden, wie rußbeworfenen Speicherhäusern hinausgehen ließ und beengten Herzens jenseits der schemenverschütteten Uferflächen, der schwarzen Spundwände und des möwenbesetzten Pfahlwerks der Landungsstege die brüchigen Bilder der aufkommenden Nacht in sich aufnahm; und dann ging er hinauf in seine Wohnung, setzte sich still in die dunkle Küche, und die Ahnung war in ihm, wie verletzlich der Stoff sein mochte, aus dem sich ein Leben wob.

    Er entschloß sich indessen, sich darum zu bemühen, seinem Zustand mit Gefaßtheit zu begegnen. Er ging von einer Überspanntheit seines Gemütes aus und davon, daß diese ihren Ursprung in einer verschleppten körperlichen Unpäßlichkeit haben mochte. Es schien ihm der Gedanke durchaus naheliegend, daß die langen, dämmrigen Wintermonate an ihm gezehrt, ihn aus seinem Rhythmus geworfen hatten, und zugleich war er sich sicher, daß er über kurz oder lang wieder ganz zu sich zurückfinden würde. Es würde allein einer Geduld bedürfen.

    Gegen ein schmales Fensterbrett gelehnt, horchte Tönsing auf das gläserne Lärmen einer Kreissäge, das, sich an dem von Efeu bewachsenen Mauerwerk eines engen Hinterhofes brechend, zu ihm aufstieg. Er stand, den Oberkörper leicht vorgeneigt und sich auf seine Handflächen stützend, blickte unbestimmt in das regungslose, sich in einem seichten Dämmerlicht vor ihm hinbreitende Zimmer hinein und strengte sich an, eine Müdigkeit von sich abzuschütteln, die sich im Laufe des Tages nach und nach bei ihm eingestellt hatte und ihm nun schwerfällig in den Gliedern stak. Karin kauerte bei einem mit langen Buchreihen angefüllten Regal auf dem Dielenfußboden und hielt eine Tasse dampfenden schwarzen Tees in ihrem Schoß. Einige Strähnen ihres rötlichen Haares, das sie mit einer Klammer zu einem losen Zopf zusammengesteckt hatte, lagen in ihrem blassen Gesicht. Sie blickte mit ruhiger, ernsthafter Miene vor sich nieder, und wie abwesend, ließ sie zuweilen einen ihrer Finger am oberen Rand der Tasse entlanggleiten. Sie schwiegen.

    Etwas war zwischen sie geraten. Sie wußten es und wichen in ihren Blicken einander aus. Es geschah in diesen Wochen, daß sie gewahr wurden, daß sie ihre gemeinsame Sprache verloren. Es gab Gesten der Ergebung zwischen ihnen, und jeder von ihnen beobachtete sie stumm und gebannt und in sich aufgerührt.

    Im Fortgange dieses Nachmittages begann Karin zu sprechen. Tönsing hatte seinen Fensterplatz verlassen, das Zimmer der Länge nach durchquert und sich in dem tiefen, roten Sessel niedergelassen, der neben dem Bett in einer Ecke stand und über den sich schrägen Wuchses ein mehr als mannshoher Gummibaum neigte. Er betrachtete die zahlreichen Photographien, die die Wandflächen um ihn her zum Teil bedeckten und in denen sich ausschnittsweise das ganze Leben seiner Freundin widerspiegelte, während sie selbst unbewegt an ihrem Platz verharrte und in sich nach Worten suchte. Mit leiser, tastender Stimme und ihren Blick unverwandt vor sich auf den Boden heftend, deutete sie auf das Verhältnis, das sie beide miteinander verband, und sprach davon, daß sich in ihr in der letzten Zeit mehr und mehr der Eindruck verfestigt habe, daß sich zwischen ihnen etwas verschoben habe. Ihr Miteinander habe sich auf eine Weise verändert, die nachzuzeichnen oder gar zu verstehen sie nicht recht in der Lage sei, und sie sagte, daß es ihr schwerfalle, sich dareinzufinden. Es sei schwierig zwischen ihnen geworden und koste Kraft. Es komme ihr so vor, fügte sie hinzu, indem ihre Schultern ein halbresigniertes Zucken andeuteten, als führte jeder von ihnen mittlerweile ein gänzlich anderes Leben, als seien sie sich fremd geworden und fänden keinen Zugang mehr zueinander. Sie unterbrach sich, und einige Momente lang hörten sie die verlorenen und gedehnten Geräusche der Straße herbeidringen.

    Wenn ich mir jetzt vor Augen halte, wie wir geworden sind... Immerhin ist da doch einiges, was wir gemeinsam haben. Es gibt Erlebnisse, Erinnerungen... Das verbindet uns doch. Und es wird mir ganz elend bei dem Gedanken, daß das alles nichts wert sein sollte. Man wirft das doch nicht einfach so von sich!

    Karin hob das Haupt, so daß ihr weiter Stirnbogen als heller Fleck vortrat, und sandte einen stummen Blick in den Raum hinein. Sie war ganz eingenommen von ihrer leisen, gedrückten Nachdenklichkeit. Sie machte mit einer Hand eine wie suchende, hilflose Bewegung über ihre an ihren Leib herangezogenen Knie hin. Eine Niedergeschlagenheit zeichnete die weichen Züge ihres Gesichtes.

    Kann das gerecht sein... Ich bemühe mich ja nur darum, ein wenig glücklich zu sein... nicht um mehr als allein das. Und eigentlich ist da auch nichts anderes, was ich darüber hinaus vom Leben erwarte!

    Erneut unterbrach sie sich.

    Und schließlich, nachdem sie nochmals eine Zeitlang ganz in sich versunken dagesessen hatte, sprach sie wieder, zögerlich wie zuvor, und reihte Satz an Satz, stets von neuem dieselben Gedanken mit anderen Worten hervorwälzend, inständig, scheu und sich gewissermaßen im Kreise drehend.

    Tönsing derweil verblieb wortkarg. Er hatte sich dazu entschlossen, nicht aus sich hinauszuwollen, und erwiderte nur weniges. Er räumte Karin gegenüber ein, daß das von ihr Vorgebrachte sicherlich einen wahren Kern in sich trüge, daß sie durchaus damit recht haben mochte, wenn sie davon spräche, daß sich zwischen ihnen etwas verändert habe, daß es sich, was ihn beträfe, allerdings so verhalte, daß er lediglich sehr müde sei und ausgelaugt, auch überspannt vielleicht, und das bereits seit Wochen. Es gäbe solche Zustände. Und es sei nur natürlich, wenn sie sich auch im Zwischenmenschlichen niederschlügen. Man müsse das aushalten können. In seinem Innern indessen war er sich bewußt, daß er hier eines sagte und ein anderes dachte. Er verspürte eine Ungeduld in sich und einen verborgenen Mutwillen, Wunden zu schlagen; nicht zuletzt deshalb, weil Karins Verhalten in diesen Momenten, das so ganz und gar nicht jene Gefaßtheit und Nüchternheit des Betrachtens offenbarte, die ihr für gewöhnlich eigneten, ihn schleichend im Verborgenen gegen sie aufbrachte.

    Schon begann der Abend durch die hohen Fenster zu ihnen hereinzudringen. Ein seichtes Gewebe aus Schatten und fahlem Licht legte sich in die Zimmerwinkel, unter Heizungsrohre und Möbelstücke. Es war, als wollte jeder Gegenstand der Einrichtung seine klare Umrissenheit verlieren. Ein milchiger Schimmer trat in die rechteckige Fläche des nahe der Tür aufgehängten Wandspiegels und in die daneben auf einem Bord aneinandergereihten Wein- und Sektgläser. Und dann hatte es den Anschein, als zerbräche etwas draußen in den dämmrigen Bezirken der Stadt und als senkten sich mit der Dunkelheit allmählich die geheimnisvollen Zeichen einer anderen Welt herab.

    Sie saßen sich lange schweigend gegenüber. Tönsing betrachtete Karins im Halbdunkel kauernde Gestalt. Er sah ihr schmales, kluges Gesicht und ihren von ernsthaften Lippen gezeichneten Mund. Er berührte seine Stirn und verspürte deutlich, daß in dieser Stunde zwischen ihnen nichts mehr würde gesagt werden können. Es war wie verglast zwischen ihnen. Jede Regung fiel unendlich schwer.

    Als er nachher Karins Wohnung verließ, trat er mit dem Gefühl einer sich in ihm erstickt ausbreitenden Leere auf die Straße hinaus. Er verhielt auf dem Gehweg und blickte an den dunklen, sich über den schmalen Öffnungen vergitterter Kellerschächte erhebenden Häuserfronten entlang. Das Blut ging ihm brennend durch die Schläfen. Er schmeckte die Luft, die kühl war und feucht und die ihm tief in die Lunge drang. Er machte einige Schritte und gewahrte zugleich die fahle Stille, in die dieses Viertel gehüllt war und die, sich dehnend zwischen den graurötlichen Gemäuern und den schemenversetzten Durchgängen, die sich zwischen ihnen hinzogen, jede Regung und jeden Gedanken ohne Widerhall vergehen ließ. Mit einem Mal erkannte er, daß er davorstand, alle Bekenntnisse von sich abzustreifen, und er begriff, daß ein Leben, dem sich jeder Rückhalt versagte, auch ohne Zuversicht sei.

    Karin machte eine buchhändlerische Lehre. Sie betonte jedoch stets, daß sie dies vornehmlich mit Rücksicht auf die in ihrer Familie vorherrschende Erwartungshaltung täte, denn dort, von wo sie herstamme, seien Sicherheit und Lebensperspektive so etwas wie ein unabdingbare Doktrinsozusagen die Konfession eines kleinbürgerlichen Herkommens, wie sie mit zwischen Gleichmut und stiller Resigniertheit wechselnder Miene hinzufügen mochte. Indes war es ihr in diesem Zusammenhang wichtig, darauf zu verweisen, daß es ihre unumstößliche Absicht sei, später Kunstgeschichte zu studieren. Sie lebte für sich allein in einer kleinen Wohnung unmittelbar am Bahndamm, in der sie ihrer Vorliebe für französische Romane nachging und Topfpflanzen zog. An den Wochenenden lud sie Freunde zu sich ein und kochte für sie oder ging mit ihnen aus, um eine Kinovorstellung zu besuchen und jene Lokale, in denen sich die jungen Leute der Stadt trafen. Einmal in der Woche spielte sie abends Volleyball, denn sie legte, wie sie sich selbst und anderen gegenüber vergnügt und in nur halbernstem Tonfall beschied, darauf Wert, körperlich nicht zu verkümmern. Ein gesunder Körper, ein gesunder Geist, ein erfülltes Dasein, entgegnete sie epigrammatisch knapp, wenn man auf ihren sportlichen Eifer zu sprechen kam, während sie sich, versonnen lächelnd, mit einem schalkhaft leuchtenden Blick ihrem Gegenüber zuwandte.

    Sie hatte eine klare Persönlichkeit, die nicht zu Unwägbarkeiten neigte. Alles Verschwommene, alles Fragwürdige oder Sprunghafte war ihr unbehaglich. Sie war verständig, aufgeschlossen und vorurteilsfrei. Sie hatte ihre Ansichten und scheute sich nicht, sie offenzulegen, ohne dabei allerdings einem Hang zu Unduldsamkeit oder gar Selbstgerechtigkeit zu erliegen. Sie verstand es, auch Meinungen, die sie nicht teilte, gelten zu lassen und zugleich dem eigenen Standpunkt treu zu bleiben. Es waren die offensten Gespräche, die man mit ihr hatte.

    Karin und Tönsing waren seit nahezu zwei Jahren ein Paar. Von einem unwillkürlichen Geschick zusammengeführt, war es vor allen Dingen das Gefühl einer Freundschaft, das das Band zwischen ihnen knüpfte; einer Freundschaft, die anfänglich klar, offen und unverhohlen war, die allerdings nicht zu Schwärmereien oder Überspanntheiten neigte. Daß sie es weitgehend vermieden, sich im alltäglichen Umgang gegenseitig der Empfindungen zu versichern, die sie füreinander hegten, hatten sie stets darauf zurückgeführt, daß sie beide nicht eben dazu neigten, ihr Inneres nach außen zu kehren. Vorderhand genügte es ihnen vollauf, zu wissen, daß sie sich beiderseits wichtig waren, daß sie einander vertrauten. Indes mochte gerade der äußere Gleichklang, der sich zwischen ihnen zeichnete, dazu geführt haben, daß sie über den Zeitpunkt hinwegsahen, da sich in ihrer Beziehung eine Zerrüttung anzukündigen begann. Sie waren blind gegen die ersten Anzeichen der sich einstellenden Frakturen, und möglicherweise waren sie es eben deshalb, weil sie nach wie vor willens waren, aneinander festzuhalten. Zweifelsohne trugen zumal Tönsings Verschlossenheit und innere Deformationen dazu bei, daß sie in einer Unbewegtheit verharrten.

    So kam es dazu, daß von dem Moment an, in dem Karin zu begreifen begann, daß es sie nach mehr verlangte, als ihr in ihrer Beziehung zu Tönsing zuteil wurde, zwischen ihnen bereits alles verloren war.

    Tönsing derweil, für den die von ihm nach außen hin getragene Zurückhaltung ein Mittel war, seine Unfähigkeit, sich anderen Menschen auch nur annähernd vorbehaltlos zu öffnen, zu verwischen, war einstweilen weder bereit noch imstande, klar zu sehen. Er hielt sich gleichsam fest an dem Bild, das er sich von jeher von seiner Beziehung zu Karin gemacht hatte. In der Tat störte er sich nicht im geringsten an dem Maß an Abstand und Verhaltenheit, das schließlich zwischen ihnen herrschte. Für ihn war es vielmehr so, daß sie beide gleichermaßen nicht dazu neigten, sich über die Beschaffenheit und die Perspektiven ihrer Beziehung zu täuschen, und er kam zu dem Schluß, daß sich gerade darin eine außerordentliche Aufrichtigkeit offenbare. Die Tatsache, daß sie nach außen völlig selbstverständlich, frei und ungezwungen miteinander umgingen, verleitete ihn zu der Annahme, daß das größte Einvernehmen zwischen ihnen bestehe. Und was Karin anbelangte, so beging sie ihrerseits, wohl aus einer gewissen Gehemmtheit und Unentschlossenheit heraus, den Fehler, ihrem Freund niemals zu verstehen zu geben, daß sie seine Ansichten hierin nicht zu teilen mochte. So erstickte sie denn fortan einen nicht unerheblichen Anteil ihrer Gefühle, während er in seinem diffusen Kosmos aus Apathie und Selbstverfangenheit verblieb.

    Robert Tönsing hatte eine Anstellung in einem alteingesessenen Fahrradgeschäft seiner Heimatstadt, das sich, an einer schmalen Kopfsteinpflasterstraße gelegen, im Untergeschoß eines von seinem Alter gebeugten, backsteinroten Hauses befand. Sein Inhaber, ein rühriger Mensch von Mitte vierzig, dem es zur Gewohnheit geworden war, sich einen Großteil des Tages mit einer Kanne Kaffee und einer Zeitung in einen Bereich hinter dem Verkaufstresen zurückzuziehen und von hier aus seinen geschäftlichen Obliegenheiten nachzugehen, führte den kleinen, beschaulichen Betrieb mit stillem Gleichmut. Tönsing arbeitete in der nach hinten hinausgehenden Werkstatt. Es war eine angenehme Tätigkeit, der er dort, in jenen verwinkelten, von dem Licht einiger weißer Leuchtstoffröhren und einer kleinen Anzahl verschmutzter Fenster erhellten Räumlichkeiten, nachging; sie war ihm kurzweilig, und kaum je geschah es, daß er ihrer einmal überdrüssig wurde. Er fand sich ohne weiteres in der überschaubaren Schar der wenigen anderen Beschäftigten zurecht; es waren durchweg junge, muntere, aufgeweckte Leute, die hier im Lohn standen. Man beugte sich über schmutzverschmierte Fahrradrahmen, richtete Felgen, baute Kugellager aus, flickte Reifen, verlor sich in kurze Gespräche und loses Palaver oder werkelte schweigend vor sich hin und horchte auf den einen oder anderen Wortfetzen eines Kundengespräches, der mitunter von vorne aus dem Laden dringen mochte. Man sah auf seine Hände hinab, die zerrissen waren und von Schmutz und Öl schwarz und glänzend, blickte zu den beiden mittelgroßen, dunklen Fenstern hin, die auf einen leblosen Hinterhof hinausgingen und durch die ein grauer, schwerfälliger Schimmer in den engen Werkstattraum hineinfloß, und gewahrte nebenher die unterschwelligen Zeichen des in den nahen Straßen auf- und abflutenden Alltagslebens der Stadt. Innerhalb dieser Mauern indes, zwischen den Regalen mit ihren lose aufgetürmten Kartonstapeln, Schachteln und Werkzeugkisten, den Stahlschränken, den an den Wänden aufgehangenen Reihen an Schraubenschlüsseln, den Farbdosen auf den Fensterbänken und zerschlissenen Hockern, den skelettierten Fahrrädern und den von Kerben durchzogenen Werkbänken, war es eine andere, eigene, bedächtige Welt. Seine Arbeitsstätte erschien Tönsing ein wenig wie ein Zufluchtsort, ein Unterschlupf, ein verborgener und sicherer Winkel, aus dessen Schutze heraus er hinaushorchen konnte in das Gewirr der aus rötlichen, tongebackenen Steinen errichteten raunenden Viertel mit ihren gedehnten, hingleitenden Verkehrsgeräuschen, ihren aufirrenden menschlichen Stimmen und all ihren schattenhaften, fliehenden, diffusen Regungen. In sich zurückgenommen und gleichsam abgeschirmt von jeder hinterrücks lauernden Unbestimmbarkeit des Seins, vermochte er von seinem Platz in der Werkstatt aus also einen stillen, behutsamen Anteil zu nehmen an der unermüdlich in den Straßen voranbrandenden Unrast der Menschen, ohne jedoch selbst von ihr mit sich fortgerissen zu werden. Er fühlte sich gänzlich aufgehoben in der nach Kettenöl und Sprühlacken riechenden Enge dieses sich bedächtig rührenden Ortes, dessen Abgeschiedenheit und Ruhe mit dem verhaltenen Teil seines Wesens korrespondierten. In diesem Umfeld fand er die Möglichkeit vor, gleichermaßen bei sich wie in der Gesellschaft mit anderen zu sein, ohne daß er dabei das Gefühl haben mochte, von dem einen oder dem anderen erdrückt werden zu können.

    Gelegentlich ging Tönsing mittags mit dem Lehrling, einem hageren, hohlwangigen, unter seinem krausen, rötlichblonden Schopf stets ein wenig übermütig dreinschauenden Spund zu dem kleinen türkischen Imbiß hinüber, der sich in der nächsten Querstraße in einem niedrigen, von abblätterndem cremefarbenem Putz bedeckten Gebäude befand. Meist kamen sie in ausgelassener Stimmung schwatzend in das Lokal hineingesegelt; und so, vergnügt und belebt durch den kurzen Gang durch das Viertel, gaben sie am Tresen ihre Bestellung auf und kauerten sich anschließend an einem Ecktisch nieder, von dem aus sie üblicherweise, während sie auf das Essen warteten, bedächtig ihre Blicke umherschweifen ließen. Es war ein behaglicher Ort mit hohen, auf die Straße hinausgehenden Fenstern, einem Spielautomaten, der, ein wenig abseits in einer Mauernische angebracht, unermüdlich Kaskaden blinkender, gelblicher Lichter in den hellen Raum warf, silbrigschimmernden Wasserpfeifen auf einem Bord jenseits des Glastresens und großen, weichgezeichneten Photopostern an den freien Wandflächen – das sich jenseits der Wasserflächen des Bosporus hinbreitende Häusermeer Istanbuls im rotkupfernen Widerschein einer Abendstimmung; eine violette, von stillen Dörfern besprenkelte anatolische Berglandschaft; die im Licht eines klaren, durchscheinenden Tages schimmernde Kulisse des römischen Theaters von Milet. Stets war es so, daß in diesem winzigen Restaurant ein Radio plärrend einen schier nie abreißenden Schwall orientalischer Folklore von sich aussandte, deren verdrehte Rhythmen geduldig von den Fenstern und den geweißten Mauern zurückgeworfen wurden. Dazwischen hörte man das Klappern von Geschirr und Blechschüsseln, die Wetzgeräusche der Fleischmesser, das Klirren der Geldmünzen auf dem gläsernen Tresen, die schleifende Bewegung der sich öffnenden Eingangstür, die zustande kam, wenn neue Kundschaft eintrat oder die bisherige fortging. Man sah hinaus auf die unablässig vorübertreibende Geschäftigkeit der Straßen, betrachtete die pockennarbigen, schmutzgeschwärzten Fassaden der gegenüberliegenden Häuserzeile, blickte in die meist starren, verschlossenen, grauen Gesichter der auf den Fußwegen hinschreitenden Passanten. Sich mit den Unterarmen auf die kalte, marmorweiß furnierte Tischplatte stützend, atmete man die schweren, würzigen und dabei leicht betäubenden Essensgerüche ein, die dunstartig durch den schmalen Raum quollen. Mochte es bisweilen auch vorkommen, daß Tönsing und sein Begleiter schweigend aßen, so war es in der Regel doch eher so, daß sie sich während ihrer Imbißbesuche langen, freimütigen, um Gott und die Welt kreisenden Gesprächen hingaben. Allerdings trennten sich ihre Wege zumeist ohne jedes weitere Vertun, wenn sie später wieder auf die Straße hinaustraten und, unversehens umfangen von den blechernen, gleitenden Geräuschen der Stadt, ihrem dumpfen Pulsschlag und den behutsamen Berührungen eines behäbig aus der Tiefe des dunstgeschwellten Küstenlandes hereinstreichenden Windes, träge ihre vom müßigen Dasitzen ermatteten Gliedmaßen streckten. Dann wandten sie sich alsbald mit einem stillen Gruß voneinander fort, und Tönsing, der üblicherweise nur halbe Tage in der Werkstatt arbeitete, machte sich daran, sich direkt nachhause zu begeben.

    Robert Tönsing hatte geerbt, und das durchaus ansehnliche Geldvermögen, das ihm auf diese Weise zuteil geworden war, sicherte ihm sein tägliches Auskommen so weit, daß er auf den Verdienst, den ihm seine Arbeit einbrachte, an sich vorderhand nicht angewiesen gewesen wäre; er würde ohne weiteres auf Jahre hinaus allein von dem ihm zugefallenen Nachlaß leben können, ohne daß er deshalb in existentielle Bedrängnis geraten mochte. Der Umstand, daß er gleichwohl arbeitete, führte sich demgemäß fraglos nicht auf eine finanzielle Notwendigkeit zurück, sondern lag vielmehr in einem augenscheinlichen Willen zu einen anspruchslosen, selbstgenügsamen Dasein und auch in einem Instinkt begründet, der Tönsing davor schützte, angesichts der Möglichkeiten, die ihm sein Leben bereithielt, das rechte Maß zu verlieren; darüber hinaus fürchtete er nicht zuletzt auch die Einförmigkeit eines länger anhaltenden Untätigseins, den Überdruß und eine innere Abstumpfung, die womöglich damit einhergehen würden. So waren Vernunft, Vorsicht und Gespür die Triebfedern dafür, daß er, und sei es auch nur vorübergehend, daran festhielt, in seiner gegenwärtigen Anstellung und in dem Rahmen der alltäglichen Abläufe, die sich an sie knüpften, zu verbleiben.

    Derweil war er sich nicht recht im klaren darüber, was er von seinem Leben erwarten sollte. Er war sich unsicher, wo seine existentiellen Aussichten lagen, welche Gelegenheiten ihm offenstehen mochten und worauf er setzen sollte. Einstweilen lebte er zwanglos und ungezielt in die Tage hinein und gab sich der Annahme hin, daß sich ihm über kurz oder lang ein Weg auftun würde, der ihm gangbar erscheinen würde. Er war zuversichtlich, daß sein Dasein seine Bestimmung gewissermaßen aus sich selbst heraus erfüllen werde. Er war in diesem Sinne schicksalsergeben – aber er war es nicht deshalb, weil er an eine Vorsehung der Dinge geglaubt hätte, sondern, weil sein Gemüt einer Apathie zuneigte und es ihm aus diesem Grunde schwerfiel, über den Augenblick hinauszudenken. Er wußte um das Maß an innerer Ohnmacht, das sich hier an ihm offenbarte. Es schränkte ihn ein in seinem Tun; doch schreckte es ihn nicht, da er mit ihm vertraut war. Es hatte seine Wurzeln in den Zuständen des Niedergeschlagenseins, denen er zuneigte, in seinem Hang zu Verzagtheit und Schwermut. Dennoch, so seltsam es ihm unter solchen Voraussetzungen auch anmuten mochte, verspürte er in sich ein festes Zutrauen, wenn er an die Perspektiven seines Lebens dachte. Er war der Auffassung, daß alles bereits in ihm

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