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Verhängnisvolle Tage: Eine Kommissar Wengler Geschichte
Verhängnisvolle Tage: Eine Kommissar Wengler Geschichte
Verhängnisvolle Tage: Eine Kommissar Wengler Geschichte
eBook339 Seiten4 Stunden

Verhängnisvolle Tage: Eine Kommissar Wengler Geschichte

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Über dieses E-Book

Es ist Ende August und immer noch drückend heiß. Johann Baptist Bernbichler hat eine sehr schlechte Woche hinter sich. Wirklich schlecht. Kommissar Wengler erholt sich gerade vom letzten Fall, den man gerade abgeschlossen hat, mit einer Maß Bier im Biergarten. Doch dann wird er nach Hasenbergl gerufen, einer Gegend in München, in der man die Polizei zwar oft, aber nicht gerne sieht. Man hat ein totes Paar gefunden, doch es gibt nicht viele Anhaltspunkte. Also versucht Kommissar Wengler, das Leben der beiden zu rekonstruieren. Es scheint kein aufregendes Leben gewesen zu sein, das die beiden geführt haben. Die einzigen Hinweise, auf die man sich stützen kann, sind eine Parzelle im Schrebergarten ‚Sonnenblumen e.V.' und eine Telefonnummer, unter der sich die Schwester des Toten meldet. Auch ein Sohn taucht auf. Doch immer mehr deutet darauf, dass der Schrebergarten etwas mit dem vorzeitigen Ableben zu tun hat. Es bleibt der Intuition und akribischen Kleinarbeit der Münchener Mordkommission in Form von Kommissar Herbert Wengler und seinem Assistenten Armin Staller überlassen, dies herauszufinden.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum15. März 2019
ISBN9783739625546
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    Buchvorschau

    Verhängnisvolle Tage - Olaf Maly

    1

    Für Johann Baptist Bernbichler war dieser Tag Ende August kein guter gewesen. Bei Weitem nicht. Man könnte fast sagen, es war einer der schlechtesten Tage in Monaten. Es war, wie schon seit Wochen, drückend heiß. Eigentlich mehr unausstehlich heiß und schwül. Nicht ganz normal für diese Jahreszeit und schon gar nicht normal für München. Gut, es konnte schon einmal heiß werden. Aber an diesen Tagen tropfte die Feuchtigkeit aus allen Poren, Fugen und Blätterwerken. Die sonst so blind-fahl aussehenden Pflanzen glänzten, als wäre es Weihnachten und Kerzen würden sie zum Schillern bringen. Aber es war August und man zündete im August keine Kerzen an. Außer in der Kirche, da brannten die immer. Und man konnte nicht in die Kälte fliehen, um sich Erleichterung zu verschaffen. Diese gab es um Weihnachten herum, wenn es sowieso kalt war, man also noch mehr Kälte nicht brauchte. Nur in der Kirche, da konnte man sich erholen, in der muffigen Kühle, die die Steine gefangen hielt. Da war's immer kühl. Und leer war die auch immer.

    Das Wetter setzte sich also auf das Gemüt eines jeden, wie ein Kaugummi auf das Pflaster der Fußgängerzone. Es war nicht wegzubekommen. Man wollte es zwar nicht, dieses unausstehliche Wetter, aber es umgab einen überall und war einfach da. Hundserbärmlich, erbarmungslos und unausweichlich. Ein Fluch für jeden, der damit zu kämpfen hatte. Es machte einen wünschen, dass es endlich Winter würde. Man mochte zwar den Winter nicht lieber als den Sommer, aber das war einfach zu viel. Wahrscheinlich konnte man sich das so einfach wünschen, da dieser Wunsch, wie so viele andere auch, nicht zu erfüllen war. Nur einige wenige, die es sich leisten konnten, flogen in den Norden, wo es das ganze Jahr über nicht warm wurde. Irgendwo auf eine der Tausenden Inseln in den schwedischen Gewässern. Oder gar in die Arktis. Nur, Johann Baptist Bernbichler gehörte nicht zu der Klasse Mensch, die sich das leisten konnte. Er gehörte zu denen, die fluchend die Tage und Nächte zu erleiden hatten.

    Es war Sonntag. Der letzte Sonntag im August. An sich kein Grund, das besonders festzustellen, wären da nicht einige Ereignisse gewesen, die diesen Sonntag zu einem speziellen Tag gemacht hätten. Drei Dinge waren in den vorangehenden Tagen im Leben des Johann Baptist Bernbichler passiert, die ihn - neben dem Wetter natürlich – irgendwie aus der Bahn geschmissen hatten.Das erste war ein Gespräch mit seinem Chef in der Firma gewesen, in der er arbeitete, seit er denken konnte. Am Donnerstagvormittag. Gleich nachdem er es sich in seinem Bürostuhl dort unten im Kellergewölbe bequem gemacht hatte. Alle in den oberen Stockwerken beneideten ihn auf einmal um diesen Platz, da er der einzige war, wo man nicht vor Hitze zerlief. Sonst, an gewöhnlichen oder gar kalten Tagen, hielt sich der Neid in Grenzen.

    Es war ein altes, klammfeuchtes Gewölbe, in einer alten Firma. Meist war es blankgelegtes Mauerwerk, das man, um es menschlicher zu gestalten, weiß überstrichen hatte. Man sah die Ziegelsteine, die man vor mehr als 100 Jahren dort übereinander geschichtet hatte, und die immer noch ihren Dienst taten. Sie mussten alles darüber halten, den oberen Stockwerken ein Fundament geben. Während des Krieges hatten die Räume als Luftschutzbunker gedient. Hätte man nicht die weiße Farbe darüber gemalt, würde man das Geschriebene noch sehen, das die Leute, die dort nächtelang hatten ausharren müssen, hinterlassen hatten. Nur interessierte man sich nicht mehr für diese Zeugnisse der Menschlichkeit, des Verzagens an derselben, und die Angst, die man damals gehabt hatte. Das war vorbei. Man musste in die Zukunft blicken. Es half niemandem, sich immer wieder daran erinnern zu müssen. Als der Wahnsinn endlich vorbei gewesen war, stellte man dort im Keller alles ab, was man 'oben' nicht mehr brauchen konnte. Einige Jahre später, als man in der Firma mehr Platz brauchte, unter anderem eben auch Johann Baptist Bernbichler. Und mehrere andere, die es nicht geschafft hatten, oben einen Platz zu bekommen.

    Bernbichler war an sich ein fleißiger, ordentlicher Mitarbeiter, der zwar ab und an immer wieder einmal zu spät kam oder vielleicht auch nicht immer ganz bei der Sache war. Aber als Sachbearbeiter in einem Büro mit etwa 10 anderen Kollegen war er einer der beständigsten. Was in diesen Zeiten schon etwas zu bedeuten hatte. Die Fluktuation war gewaltig, deshalb konnte man nie sagen, wie viele Personen dort im Keller eigentlich arbeiteten. Manche hielten es gerade einmal zwei Wochen aus, manche 2 Monate. Meistens kamen sie dann morgens ins Büro, schmissen ihre kleinen Koffer auf den Tisch, fingen an ihre Fäuste zu ballen, herumzuschreien und mit unflätigen Ausdrücken auf das 'von oben' zu schimpfen. Dann nahmen sie ihre kleinen Koffer wieder, sagten allen, die ihnen zugesehen hatten, was sie doch für elende Ratten seien, in diesem Loch zu arbeiten, und verließen die Stätte, ohne jemals wiederzukehren. Das waren die, die den Absprung schafften.

    Viele konnten es eben nicht länger als ein paar Wochen aushalten, irgendwelche Papiere zu sortieren und in die Ablage zu schicken. Sie sahen diese Arbeit als erniedrigend und komplett sinnlos an – was sie wahrscheinlich auch war. Nicht jedoch Johann Baptist Bernbichler. Er hatte mit seiner Arbeit kein Problem. Nun gut, dass heißt, meistens hatte er damit kein Problem. Er war vor vielen Jahren einmal als Hilfskraft in der Buchhaltung eingestellt worden, in der Hoffnung, dort weiter aufzusteigen. Die Hoffnung darauf hatte auf beiden Seiten bestanden: Bei ihm ebenso wie auf der Seite der Firma. Nur hatte sie sich nicht erfüllen lassen, diese Hoffnung. Seine Verständnis hinsichtlich Zahlen hielt sich sehr in Grenzen, was besonders in Bezug auf Kontoführung und Buchhaltung nicht sehr von Vorteil war. Da man jedoch jemanden brauchte, der die Erwartungen erfüllen konnte, blieb keine andere Wahl. Man musste ihn, wollte man ihn nicht entlassen, einfach in eine andere Abteilung versetzen. Erst versuchte man es mit der Registratur. Dort gab es nach wenigen Tagen mit der dort schon seit vielen Jahren tätigen Mitarbeiterin, der Maria Brandweser, jedoch permanent Streit, da er das System, dass sich Maria über die Jahre ausgedacht und mehr oder weniger erfolgreich praktiziert hatte, und das nur von ihr beherrscht wurde, von Johann Baptist nicht übernommen wurde. Er wollte sein eigenes System einführen, von dem er absolut und ohne Zweifel total überzeugt war. Bevor nun die Registratur einen totalen Kollaps erlitte, sah man sich gezwungen, die Entscheidung zu revidieren und Johann Baptist schlussendlich in die Ablageabteilung zu versetzen. Das war die Abteilung, in der nicht nur alle Akten und Papiere ihr Ende fanden, sondern auch alle Mitarbeiter, die man nirgendwo anders mehr einsetzten konnte. Die Räume dieser Abteilung waren, wie bereits gesagt, im Keller des Hauptgebäudes untergebracht. Wenn man mit dem Aufzug fuhr, hatten alle Knöpfe der Stockwerke, die von 'E' wie Erdgeschoss nach oben gingen eine deutliche Spur von Abnutzung. Die meisten Zahlen musste man sogar erraten, je nachdem, in welcher Position der Reihe sie standen. Wollte man zum Beispiel in den vierten Stock, musste man sich an der 3 und 5 orientieren, Ziffern, die noch einigermaßen erkennbar waren. Je höher die Zahlen wurden, desto weniger waren sie abgegriffen. Die letzte Ziffer, die 8, war sehr deutlich zu lesen. Dort residierte der Vorstand, und dieser war meist nicht sehr oft im Haus. Benutzte also auch den Aufzug nicht in dem Umfange, in dem ein Abgreifen der Zahl im Aufzug sichtbar geworden wäre. Auch der schwarze Aufkleber für das 'U' wie Untergeschoss war frisch wie am ersten Tag. Schwarz und gestochen scharf hob es sich vom silberfarbenen Grund ab, als hätte man es erst gestern dort aufgeklebt. Es gab nicht viele, die dort hin mussten. Außer eben denen, die dort ihren Tag verbrachten. Wie Johann Baptist Bernbichler. 

    Letzten Donnerstag also rief ihn sein Chef, der im sechsten Stock arbeitete und dort sein tägliches Domizil hatte, zu sich nach oben.

    „Herr Bernbichler, wir müssen reden", sagte er am Telefon bedeutungsschwer und in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. 'Was der Depp wohl von mir will?', dachte sich Johann Baptist und begab sich zum Aufzug. Darin angekommen, drückte er die Nummer 6 und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Oben öffnete sich die Tür und gab den Blick auf eine nicht gerade freundliche Vorzimmerdame frei, die an einem kleinen Tisch vor einer Tür saß, an der er den Namen 'Johannes Kerber' lesen konnte.

    „Er erwartet Sie schon, gehn's nur rein. Keine Scheu, der beißt nicht", meinte sie, überraschenderweise nicht ganz unfreundlich.

    Wahrscheinlich sah man Johann Baptist an, dass ihm nicht sehr wohl war in seiner Haut. Er hatte keine Erfahrung mit solchen Gesprächen und wollte auch keine erlangen. Er dachte sich immer, wenn man mit ihm reden wolle, dann sicher nicht, um ihm zu irgendwas zu gratulieren. Oder ihm einen Preis zu übergeben. Wie 'Angestellter des Monats' oder so. Mit einem Monat reserviertem Parkplatz vor dem Eingang. Nun, dafür hätte er ohnehin keine Verwendung gehabt, da er nicht einmal ein Auto besaß. Also störte es ihn nicht besonders, dass er eine solche Auszeichnung nicht bekam. Außerdem, dachte er sich, machen die das ohnehin nur immer unter sich aus und dann liest man davon in der Hauspost. Von ihm hatte man noch nie in der Hauspost gelesen.

    „Setzen Sie sich doch, Herr Bernbichler", meinte Herr Kerber jovial, der eigentlich nicht sein richtiger Chef war, sondern der stufengemäß Vierte und damit rangmäßig auch Letzte in der Personalabteilung.

    Da man keine Person gefunden hatte, die sich dafür aufopferte, die Leute im Keller zu beaufsichtigen, hatte man eben einen in der Personalabteilung mit dieser Verantwortung betraut. Es war immer der vierte Mann, die Neuen, die dann irgendwann abgelöst wurden. Sie kannten sich nicht, Johannes Kerber und Johann Baptist Bernbichler. Das war auch gut so, meinte man in der Personalabteilung. Zu viel Kennen war der Disziplin abträglich. Im schlimmsten Fall konnte man ja auch noch Freunde werden. Und das war auf keinen Fall gewollt. Als Bernbichler sich auf den dunkelblauen, gepolsterten Stuhl gesetzt hatte, harrte er der Dinge, die da kommen sollten. Er hatte so einen teuren Stuhl bisher nur in den Reklameheften gesehen, die bei ihm unten im Keller landeten. 'Einmal auf so was sitzen!', hatte er oft zu sich selbst gemeint. 'Nur einmal'. Und jetzt hatte sich sein Wunsch also erfüllt. Er befühlte mit den Händen den Stoff, den schwarzen Stahlrahmen, sah sich die Stuhlbeine an. 'Ein schöner Stuhl', dachte er für sich. Herr Kerber erkundigte sich nach der Ehefrau, wie es ihr denn wohl ginge und ob alles in Ordnung sei. Er hatte bemerkt, dass Herr Bernbichler gedanklich ein wenig abwesend war und nicht ganz bei der Sache zu sein schien. Die Frage nach seiner Frau jedoch brachte ihn zurück in die Realität.

    „Sie haben doch mei Frau noch nicht einmal g'sehen, Herr Kerber. Was fragen's denn so? Sie woll'n doch gar net wissen, wie's der geht, oder? Sie haben doch mir was zum sagen, haben's g'meint, und nicht meiner Frau. Also, was is? Ich hab eine Arbeit zum tun."

    Herr Kerber sah ein wenig bestürzt drein, hatte er es doch normalerweise mit zivilisierteren Personen zu tun als einem Herrn Bernbichler. Er hatte einfach eine Atmosphäre der kollegialen Zweisamkeit schaffen wollen, damit das, was er zu sagen hatte, nicht so harsch klänge. Jedenfalls hatte er das so in den endlosen Seminaren, an denen er immer pflichtbewusst teilgenommen hatte, gelernt.

    „Nun gut, da Sie es so wollen, kommen wir eben gleich zur Sache. Wir werden die Abteilung, in der Sie derzeit beschäftigt sind, auflösen und somit Ihre Position eliminieren."

    Es entstand ein Moment der Ruhe, in dem Kerber mit dem Ende eines Kugelschreibers langsam und rhythmisch auf seinen grauen Einheitsschreibtisch klopfte. Das Gestell war aus Stahlrohr, dunkelgrau, die Platte aus Resopal, etwas heller gehalten. Mehr gediegen als schön. Nützlich, eben. Und irgendwie passend zu den Stühlen. Blau und grau.

    „Eliminieren wollen's mich?", fragte Bernbichler nach ein oder zwei Minuten. Er musste das erst einmal in seinen Kopf bekommen, die ganze Tragweite dieses Satzes begreifen. Und das ging nicht von einer Sekunde auf die andere. Der Satz allein hatte ihm ein flaues Gefühl im Magen verursacht. Irgendwie tat es ihm nicht gut, was immer es war, das wusste er.

    Kerber hatte es sich in seinem Drehstuhl bequem gemacht, der auch ein Neigen nach hinten erlaubte. 'Wie im Reisebus', dachte sich Bernbichler, 'wenn's den Sitz nach hinten klappen, dass keiner mehr eine Luft bekommt, weil's so eng wird.' Er kannte das, da er öfter mit dem Bus in die Berge gefahren war, meistens zum Königssee, weil es immer diese Sonderfahrten gab, bei denen man dann Heizdecken oder mechanische Mixer kaufen konnte. Spottbillig, natürlich, und einmalig nur dort zu erwerben. Gelegenheiten, die man sich dann auch nicht entgehen lassen wollte. Deswegen hatte er mittlerweile 6 Handmixer, 12 Decken und mehrere andere unnütze Apparaturen, die hauptsächlich Gemüse in kleinste Teile zerhackten. Und das nur mit einem einzigen Druck auf den Deckel. In Sekundenschnelle. Und die im Keller, in Originalverpackung, darauf warteten, weggeschmissen zu werden.

    „Nein, Herr Bernbichler, nicht Sie werden wir eliminieren, keine Angst, nur die Position, die Sie bekleiden."

    „Ich bekleid nix. Ich hab eine Arbeit und des hab ich schon immer g'habt hier. War's des dann?"

    Damit gedachte Bernbichler, sich von seinem Stuhl, der sich letzten Endes doch nicht als sehr bequem herausgestellt hatte, aufzustehen und sich wieder seinen Akten im Untergeschoss zu widmen. Halb aufgerichtet verharrte er in dieser Position, da Kerber ihm andeutete, dass das noch nicht alles gewesen sei und er sich doch bitte wieder setzen sollte. Kerber hatte sich von seiner Rücklage wieder nach vorne gearbeitet und seine Ellbogen auf den Tisch vor sich aufgestützt.

    „Ja, was denn noch?"

    „Herr Bernbichler, weil wir eben diese Position eliminieren, müssen wir Sie damit auch freisetzen. Wir werden die Tätigkeiten, die Sie jetzt ausführen, auf einem Computer..."

    „Rausschmeißen wolln's mich also. Ja, des is ja sauber! Ja, jetz bin ich aber..., des muss ich schon sagen. So viele Jahr hab ich hier g'arbeitet und jetz kommt da ein Computer und ich bin weg."

    „Sehen Sie es doch mehr als eine Chance, Herr Bernbichler. Sie sollten das als einen neuen Anfang sehen, nicht als ein Ende. Ich bin mir..."

    Auch diesen Satz hatte er in diesen Seminaren bis zur geistigen Selbstaufgabe trainiert. In allen Variationen durchgespielt. Er kam ihm wie Olivenöl über die Lippen. Irgendwie war er sogar stolz darauf.

    „Sie reden ja einen Schmarren, des muss ich schon sagen, Sie Stumpen, Sie! Haben's des auf irgendeiner Schul' g'lernt, dass man des denen sagt, die man rausschmeißt?"

    Mehr wollte Bernbichler nicht wissen. Es hatte keinen Sinn, sich zu wehren. Warum auch? Er war zu alt, um jemals wieder etwas zu finden. Das wusste er, wenn er auch nicht gerade ein Musterbeispiel quirliger Intelligenz war. Ohne ein weiteres Wort stand er auf, ging an der jetzt doch grimmig dreinschauenden Assistentin vorbei zum Aufzug und fuhr in seinen Bereich. Seinem Freund, dem Kornmüller Schorsch, war das vor ein paar Wochen ebenso passiert. Es war ihm immer noch frisch in Gedanken und kam umso frischer wieder nach oben, als er sich nun in derselben Situation befand.

    Sie hatten, wie jeden Donnerstagabend, beim Schwaiger am Stammtisch gesessen und die Probleme der Welt diskutiert, für die jeder der Teilnehmer eine eigene Lösung hatte. Wie unter Freunden üblich, hatten sie am Ende keine gemeinsame Lösung gefunden, also das Thema auf den nächsten Donnerstag verschoben. Nur an jenem Abend gab es etwas für die Runde zu besprechen.

    „Mich haben's gestern g'feuert", hatte der Schorsch ruhig und gelassen gesagt. Dann hatte er einen großen Schluck Bier aus seinem Glas genommen, langsam den Krug abgesetzt, sich mit dem Hemdsärmel seinen Mund abgewischt und alle Beteiligten einzeln angesehen.

    „Ja, so ein Scheiß", hatte der Gruber Hans gemeint, der als erster das Wort ergriffen hatte.

    „Und, was machst dann jetz?", hatte der Krumminger Toni gefragt, der weitaus Jüngste in der Truppe. Er hatte den begehrten Stammplatz an diesem Tisch von seinem Vater geerbt, der vor ein paar Jahren ganz einfach umgefallen und nicht mehr aufgestanden war. Beim letzten Mal, an dem er noch am Stammtisch teilgenommen hatte, hatten ihm die anderen versprechen müssen, seinen Sohn in ihre Mitte aufzunehmen, damit die Krumminger Tradition fortgesetzt werden konnte – was später den Verdacht aufkommen ließ, dass das plötzliche 'Umfallen' doch nicht so plötzlich gekommen war, wie es aussah.

    Wie an bayerischen Stammtischen so üblich, hatte sich die ganze Diskussion rund um die Verkündung vom Kornmüller Schorsch entwickelt. Er war also ohne Arbeit. Schlimm, aber kein Grund, traurig zu sein. Die Stammtischbrüder zeigten Interesse, das war nicht zu leugnen. Interesse und Mitgefühl. Man hatte ihn bedauert, ihm Trost zugesprochen, obwohl jeder wusste, dass ihm das nicht helfen würde. Also hatten sie schließlich wieder zu anderen Themen übergewechselt, die auch brennend waren und mehr die Weltpolitik betrafen als den Verlust einer Arbeit, die einem Brot und Leben gab. Wie zum Beispiel den depperten Politikern, die keine Ahnung hatten, wie des hier in Bayern so ablief. Und von denen im Norden wollte man sowieso nicht regiert werden.

    Daran musste Johann Baptist Bernbichler denken, als er seinen Kalender, die Vereinsflagge des TSV 1860 München, deren absolut treuer und blind ergebener Mitstreiter er war, und seine Kaffeetasse einsammelte. Dann sah er sich noch einmal in Ruhe um, fegte mit einem Wisch sämtliche Papiere von seinem ehemaligen Schreibtisch, nickte sich selbst zustimmend zu und verließ den Raum seines bisherigen Lebens. Da er die weiteren Anwesenden nicht gerade gut kannte, sondern eigentlich nur neben ihnen gesessen hatte, gab es auch keinen Grund für eine großartige Verabschiedung.

    „Servus dann", war alles, was er herausbrachte, bevor er mit dem Aufzug ins Erdgeschoss fuhr und die Tür nach draußen benutzte, die sich automatisch vor ihm öffnete.

    „Als würd die sich noch auch freuen, dass ich geh, die blöde Tür", sagte er laut zu sich selbst. Die Leute, die ihm zufällig gerade ins Gebäude entgegenkamen, sahen sich zum Teil nach ihm um und schüttelten leicht den Kopf. Draußen angekommen blieb Bernbichler kurz stehen, sah sich noch einmal um, klemmte dann seine abgenutzte Aktentasche unter den Arm, murmelte noch etwas von 'Deppenhaufen' in seinen Bart und ging langsam und bedächtig zur Straßenbahn.

    2

    Das zweite Dilemma folgte dann am Samstagabend geradewegs auf den Fuß. Oder auf zwei Füßen. Den Füßen seiner Frau sozusagen. Der Kreszenz Bernbichler. Geborene Schneiderhauser.

    „Ja, sauber, jetz ham's dich rausg'schmissen. Ja, du Depp du, wie hat jetz des passieren können? Hab ich mir's doch denkt, weilst gestern nicht in der Arbeit warst. So eine dumme Ausred, dass dich des zusammen g'haut hat die Gripp'n, des hab ich dir ja sowieso nicht abg'nommen. In dem Wetter hat man keine Grippen. Schon gar nicht, wenn man so blöd is wie du."

    Die Kreszenz Schneiderhauser kam nicht gerade aus gutem Haus, aber dennoch hatte ihr die Mutter schon am ersten Tag, als sie ihr den Johann Baptist vorgestellt hatte, gemeint, dass der nicht der Richtige sei. Sie habe das im Gefühl, dass aus dem nie etwas werden würde, hatte sie gemeint, wann immer man darüber sprach. 'Nur Ärger wirst haben, mit dem Deppen. Der is doch nix und kann nix. An Installateur sollst dir suchen. Die sind immer weg, und des Geld kommt immer von selber heim. Da kannst dann machen damit, was'd willst. Sei net so blöd und heirat' so an Schnösel.'

    Sie hatte nicht auf ihre Mutter gehört. Wie viele Töchter eben nicht auf ihre Mütter hören, wenn es um Sachen geht wie Liebe und den Rest des Lebens, den man noch vor sich hat. Man weiß nicht, woher sie kommt, diese Liebe, die einem den Verstand raubt, aber wenn sie einen erst einmal in den Fängen hat, ist man nicht zugänglich für Argumente. Im Gegenteil. Kreszenz hatte immer daran gedacht, wenn sie sich in Rage geredet und ihrer Mutter die Vorzüge des Geliebten klarzumachen versucht hatte. Er war die große Liebe für sie gewesen. Deswegen kamen dann auch Schlüsse zustande, die einfach keinen Sinn ergaben. Wenn man gezielt darüber nachdachte. Eigentlich ergab alles keinen Sinn, aber wie gesagt, die Liebe blendet und man sieht nur noch die Sonne und den blauen Himmel. Auch wenn die dunklen Wolken bereits im Westen stehen und nur darauf warten, ihre Reise gen Osten anzutreten, um dann ihre gesamte Ladung über dieser Liebe abzulassen.

    Nun aber stand sie als Kreszenz Bernbichler an der Balkontür und sah sich an, was sie vor so vielen Jahren als so erstrebenswert empfunden hatte. Sie sah, wie ihr Mann so da saß, seine Zigaretten rauchte und das Bier in sich hineinschüttete. Das Unterhemd, das er anhatte, spannte sich straff über seinen Bauch, der jeden Tag größer zu werden schien. Tropfen von allem, was er zu sich nahm, das aber den Mund verfehlte, waren darauf zu sehen. Die gesamte Speisekarte der letzten Tage. Und nun musste sie es ihm einfach einmal sagen. Alles, was sich so aufgestaut hatte. Dies war der Moment, an dem alles herauskommen musste. Sie sah es als ihre Pflicht an, ihm das zu sagen, ihn auf den Boden der Tatsachen zu bringen, auf den er gehörte.

    Johann Baptist hörte zu und nickte ab und an zu dem, was sie ihm sagte. Nur was die Tatsache, dass er nicht sehr intelligent war, mit dem Tatbestand einer Grippe zu tun haben könnte, die man deswegen nicht bekam, war ihm nicht ganz begreiflich. Aber man musste ja auch nicht alles wissen, meinte er zu sich selbst. Vielleicht würde es ihm seine Frau ja auch noch erklären. Später. Im Laufe der andauernden, jedoch sehr einseitigen, Diskussion. Kreszenz' Worte, die er sich anhören musste, kamen nicht so ruhig und gefasst über ihre Lippen. Es war eher ein Ausbruch von verbaler Gewalt, oder man könnte auch sagen, sie hat einfach gekeift, was ihre Lunge und ihre Stimmbänder hergaben. Da sie selbst auch ein wenig auf der schwereren Seite ihres BMI war, hatte ihr Körper auch die dementsprechende Resonanz zu bieten. Sogar die Nachbarn hatten immer wieder ihre feierabendliche Unterhaltung. Es folgten weitere Beschimpfungen, die Johann Baptist sich weiterhin in Ruhe anhörte. Sie gingen an ihm vorbei wie die Sirene der Feuerwehr, wenn sie durch die dunklen Straßen der Nacht fuhr und das einzige war, was man wahrnahm. Man wusste, dass es irgendwo brannte, aber wusste auch, dass es nicht da war, wo man sich gerade aufhielt. Es ging einen sozusagen nichts an, da man nicht davon betroffen war. So sah er das.

    Er saß auf der dunkelbraunen, mit Samt bezogenen Couch, die auch schon bessere Tage gesehen hatte, ein Glas Bier in der Hand und die Zigarette im Mundwinkel. Ab und zu zog er an der Zigarette und schnippte die Asche auf den verbrauchten, grünen Teppichboden, der an Flecken von Bier und Essensresten alles hergab, was er die letzten Jahre hatte ertragen müssen. Angezogen war Bernbichler mit einem bequemen, dunkelblauen Trainingsanzug, der an den Knien schon seine Farbe verloren hatte. Die Hose hing schlapp auf seinen Hüften, der obere Teil, die Jacke, war offen, womit eben sein Unterhemd voll zur Geltung kam. Der ganze Frust, alle Unzulänglichkeiten, das ganze sinnlose Leben schienen in diesem Aufzug voll zur Geltung zu kommen. Dann sah er manchmal zu seiner Frau, die nicht nur verbal entsetzlich war, sondern auch noch so aussah. Ihre Erregung hatte ihr aufgedunsenes Gesicht feuerrot werden lassen. Sie schwitzte, Wasser lief ihr über das Gesicht und nahm dabei die schwarze Schminke um ihre Augen mit. Er hasste sie in diesen Momenten und konnte nicht verstehen, dass er sie einmal geliebt haben sollte. Er hatte schon immer den Verdacht, dass sie ihm das nur eingeredet hatte, damit sie ihn bekam. 'Vielleicht war des alles nur ein böser Traum', meinte er zu sich selbst, 'und jetz muss ich halt aufwachen'.

    So saß er auf seiner Couch, an diesem schwül heißen Abend, bei geöffneter Balkontür, die nichts anderes als die heiße Luft der Nacht sehr gemächlich ins Wohnzimmer strömen ließ. Eigentlich strömte es nicht. Es war eher mehr ein Säuseln, das ab und zu den Vorhang leicht schwingen ließ. Immer wenn ein Vogel schrie oder eine Motte gegen das Licht flatterte, sah er in die entsprechende Richtung. Nur um sich abzulenken und dem Ganzen einen Sinn zu geben. Was seine Frau ihm zu sagen hatte, ergab keinen Sinn. Wie vieles, was sie die letzten Jahre zu ihm gesagt hatte, nie einen Sinn ergeben hatte. Jedenfalls nicht für ihn. Irgendwann stand er gemächlich auf, stellte sein Glas auf den Tisch und ging auf seine Frau zu, die seit Beginn ihrer Ansprache in der Tür zum Balkon gestanden und sich nicht weiter bewegt hatte. Dann schnippte er den Rest seiner Zigarette über die Balkonbrüstung und sah sie an. Blickte streng in ihr Gesicht, was sie abrupt zum Schweigen brachte. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Dann holte er mit seinem rechten Arm aus und schlug ihr von links nach rechts mit voller Wucht ins Gesicht.

    Was er zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, und ihm auch nicht in den Sinn kam, war die Tatsache, dass verbale Folter sehr wohl vor Gericht akzeptiert werden würde, wenn er erzählte, wie seine Frau mit ihm umgegangen war. Nicht nur diesen Samstagabend, sondern all die vergangenen Jahre. Eigentlich schon seitdem sie sich kannten oder spätestens seit sie verheiratet waren. Nur sein Gelöbnis, das er abgelegt hatte, als er mit seiner großen Liebe vereint wurde, nämlich jenes: 'Bis dass der Tod euch scheide', hielt ihn davon ab, sie einfach zu verlassen. Er war christlich erzogen worden und ein Gelöbnis wie dieses, das man vor Gott abgegeben hatte, konnte man nicht zurücknehmen. Niemals. Das hatte ihm der Pfarrer bei der Trauung mit

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