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Baljenmord. Ostfrieslandkrimi
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eBook300 Seiten4 Stunden

Baljenmord. Ostfrieslandkrimi

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Über dieses E-Book

»Achtung, volle Deckung!« Mit teuflischer Präzision torkelt der Flügel eines im Sturm außer Kontrolle geratenen Windrads auf die viel befahrene Landstraße an der Ostfriesischen Küste zu. Mitten auf der Fahrbahn kracht der Flügel mit unglaublicher Gewalt nieder, zermalmt zwei Autos und erschlägt einen Mann. Auch Hauptkommissar Grote zählt zu den Opfern. Er wird von einem Trümmerteil am Kopf getroffen und verletzt. Ein fürchterlicher Unfall, Fahrlässigkeit oder ein Anschlag? Staatsanwalt Klinge beauftragt Stine Lessing und Stefan Grote, die beiden Sonderermittler der Kripo Aurich, mit der Untersuchung. Er hat auch schon eine Gruppe von Gegnern des Windparks als Verdächtige ausgemacht. Doch die Ermittlungen gestalten sich schwierig, denn es ist zunächst nicht herauszubekommen, wer sich hinter den »Todesvögeln« verbirgt. Und würden sie wirklich so weit gehen, Menschenleben zu riskieren? War es vielleicht doch ein technischer Defekt? Das allerdings bestreitet der Windkraftbetreiber. Als dann der Staatsanwalt ermordet wird und die Ereignisse beginnen, sich zu überschlagen, erreicht der Fall eine neue Dimension. Im Watt, vor der Baltrumer Balje, kommt es zu einem Drama. Während einer Wattwanderung im Nebel verschwinden zwei Männer. Was wie ein tragischer Unfall aussieht, entpuppt sich als Mord. Und das ist noch lange nicht das Ende …

SpracheDeutsch
HerausgeberKlarant
Erscheinungsdatum29. Jan. 2024
ISBN9783965869158
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    Buchvorschau

    Baljenmord. Ostfrieslandkrimi - Hans-Rainer Riekers

    Neumond

    Kurz nach Mitternacht bogen die drei mit ihrem altersschwachen VW Golf auf den von Treckern zerwühlten Feldweg ab, der sie in die Wiesen von Neßmersiel führte. Ein gutes Stück von der Landstraße entfernt, weitab vom nächsten Gehöft, fuhren sie das Auto in einen windschiefen Schuppen, der dem Bauern als Unterstellraum für sein Ackergerät diente. Vor zwei Tagen waren sie extra von Leer hierhergekommen, um nach einem geeigneten Versteck Ausschau zu halten, denn sie hatten großes Interesse daran, dass niemand ihr Auto in den kommenden zwei Stunden sehen konnte. Also hatten sie sich für den alten Schuppen entschieden, andere Schlupfwinkel gab es hier draußen weit und breit nicht.

    »Lasst uns die Masken aufsetzen!« Eine der Personen, augenscheinlich eine Frau, entpuppte sich als Anführerin. Wie ihre beiden Begleiter war sie komplett in Schwarz gekleidet. Sie stopfte ihre langen, braunen Haare unter eine Sturmhaube und wartete, bis auch die beiden anderen sich vermummt hatten. Nun warfen sich zwei der drei einen Rucksack über, und der dritte griff sich einen schweren Metallkoffer. So machten sie sich auf den Weg in die Nacht.

    Bis zum ersten Windrad des erst kürzlich fertiggestellten Windparks waren gut 500 Meter zurückzulegen, dazwischen, auf halber Strecke, musste die Landstraße überquert werden. Den beiden Rucksackträgern machte das nichts aus, dem Mann aber, der den Koffer zu tragen hatte, schon. Als langsam anschwellendes Motorengeräusch das Herannahen eines Autos ankündigte und alle drei in Deckung zwang, war er froh, Luft schöpfen zu können.

    »Das Ding ist sauschwer!«, stöhnte er mit rasselndem Atem, lehnte aber das Angebot, den Koffer an eine der anderen Personen zu übergeben, ab. »Das schafft ihr sowieso nicht!«, sagte er und hatte damit wohl recht, denn sein kräftiger Körperbau unterschied sich beträchtlich von dem der anderen.

    Sie blieben eine Minute eng an den Boden gepresst liegen, und atmeten den Geruch des frischen Grases ein. Vielleicht stellte sich einer von ihnen dabei die Frage, warum sie das, was sie geplant hatten, überhaupt machten, doch vermutlich kam er zu dem Ergebnis, irgendjemand müsse es ja tun.

    Sie hatten sich ganz bewusst diese Neumondnacht für ihre Tat ausgesucht und damit eine gute Wahl getroffen. Das Land war, wie zu erwarten, in tiefes Schwarz getaucht. Es wurde nur durch den immer wiederkehrenden Rhythmus der roten Lichter erhellt, die hoch oben am Maschinenhaus der mächtigen Windräder aufblitzten. Das half ihnen bei der Orientierung.

    Einige Minuten verharrten sie noch und lauschten dem Schilf, das an den Rändern der Entwässerungsgräben kaum vernehmlich im leichten Wind rauschte. Genau dieser Luftzug war ihr Verbündeter. Er trug die Motorengeräusche sich nähernder Autos schon zu ihnen herüber, bevor das Licht ihrer Scheinwerfer zu ihnen drang und sie aus der Schwärze der Nacht riss. Als sie sicher waren, dass alles um sie herum ruhig war, setzten sie ihren Weg fort.

    Nach zwanzig Minuten hatten sie sich dem ersten Windrad der langen Reihe bis auf 50 Meter genähert. Die Anführerin gab mit der Hand ein Stoppzeichen und erklärte: »Wir geraten gleich in den Bereich der Videoüberwachung. Damit schalten wir automatisch auch den LED-Strahler an, was wir nicht verhindern können.« Sie setzte den Rucksack ab und holte drei Regenumhänge heraus, in die sie hineinschlüpften. Zuvor hatte es lange Diskussionen über den Sinn dieser Maskerade gegeben, die sich bei ihrer Arbeit als hinderlich erweisen konnte, doch die Anführerin hatte sich durchgesetzt. »Unter diesen Ponchos sind unsere Staturen sowie irgendwelche Auffälligkeiten unseren Bewegungen oder sonstige Eigenarten schwer einzuschätzen. Wenn sie uns schon bei der Arbeit filmen, wollen wir ihnen wenigstens die Möglichkeit nehmen, uns zu identifizieren! «

    Das Tragen der Umhänge war tatsächlich ein kluger Schachzug, denn sowohl die Kamera der Videoüberwachung als auch der Strahler waren so hoch über dem Erdboden angebracht, dass ein Zerstören so gut wie unmöglich war. Die drei gingen weiter und zwanzig Meter vor dem Turm der Windkraftanlage reagierte wie erwartet der Bewegungsmelder und tauchte den gepflasterten Bereich um den Eingangsbereich herum in grelles, kalkweißes Licht. Das war ihnen egal, denn sie wussten genau, was sie taten. Im Bewusstsein der laufenden Videoaufzeichnung blieben sie dicht beieinander und erschienen deshalb für die Kamera wie ein undefinierbarer schwarzer Fleck, der sich auf die massive Metalltür zubewegte, die den Zugang in das Innere des Turms verhinderte.

    Die Idee, diese Tür aufzubrechen und in die Anlage selbst einzudringen, hatten sie nach langem Abwägen verworfen. Das hätte außer der nicht zu verhindernden Videoaufzeichnung zusätzlich einen Alarm ausgelöst und ihnen nur wenig Zeit gelassen, Schaden anzurichten. So war der Entschluss entstanden, nicht einzubrechen, sondern genau das Gegenteil zu tun.

    Der Träger des Alukoffers setzte diesen direkt vor der Tür ab und nahm ein mobiles Schweißgerät heraus. Es war nicht leistungsfähig genug, um die Tür komplett zu verschweißen, doch seine Arbeit würde den Betreibern dieser Windanlage ganz sicher Ärger bereiten. Zuerst zerstörte er das Sicherheitsschloss, indem er ein Blech auf den Schließzylinder schweißte, dann blockierte er auf die gleiche Art die Türscharniere und schweißte Bleche zwischen Tür und Türrahmen. Die Arbeit dauerte zehn Minuten und wurde kaum durch Fahrzeugverkehr auf der Landstraße gestört. Nur einmal verlangsamte ein LKW das Tempo und der Fahrer schaute zu ihnen herüber, doch dann besiegte der Termindruck, der auf seiner Ladung lag, die Neugierde und er gab wieder Gas.

    »So, fertig! Besser bekomme ich das nicht hin«, meinte der Dicke und packte völlig durchgeschwitzt das Gerät zurück in den Alukoffer. »Es ist halt nur ein Hobbywerkzeug und kein Profi-Schweißgerät«, sagte er und zuckte dabei entschuldigend mit den Schultern. Trotzdem war er mit seiner Arbeit sehr zufrieden. »Wer auch immer diese Tür wieder öffnen muss, wird eine Menge Arbeit damit haben!«

    Seine beiden Begleiter holten inzwischen aus einer Plastiktüte einige stinkende Vogelkadaver und klebten sie mit Textilband an der Tür fest. Nachdem sie noch ein Pappschild mit der Aufschrift „Windräder töten Zugvögel!" angebracht hatten, ging die Anführerin einige Schritte zurück und erstellte mit ihrem Handy ein kurzes Video. Danach verschwanden die drei wieder in der Nacht. Erst bei ihrem Auto trauten sie sich, die Masken abzunehmen, und klatschten sich übermütig ab. »In einer Woche nehmen wir uns das nächste Windrad vor!«, verkündete die Anführerin siegessicher. Müde und erschöpft, aber zufrieden, stiegen sie ein und fuhren davon.

    Südsüdwest Stärke 9

    Grote war an diesem Nachmittag nicht besonders gut gelaunt. »Der ganze Tag geht in die Grütze, weil wir uns von einem überflüssigen Termin zum anderen jagen lassen. Zuerst dieser langweilige Vortrag im Polizeikommissariat Norden. Da kommt so ein studierter Schnösel daher und will uns erklären, wie man eine anständige Vernehmung durchführt. Ich wette, der hat selbst noch niemals bei einer mitgewirkt!« Verächtlich schnaubend verschränkte er die Arme, ließ sich noch etwas tiefer in die Polster ihres Dienstwagens sinken und schaute zu, wie der Sturm die Bäume der Landstraße zwischen Norden und Carolinensiel in Aufregung versetzte. Es war beileibe kein extremer Sturm, aber immerhin.

    Statt etwas darauf zu erwidern, lächelte Stine still vor sich hin und konzentrierte sich lieber auf den Straßenverkehr. Sie hätte etwas dazu sagen können, zum Beispiel, dass sie einige Passagen des Vortrags durchaus als hilfreich empfunden hatte. Immerhin war der Referent ein studierter Psychologe und gab interessante Hinweise über die Körpersprache von Menschen, die unter Druck lügen. Aber sie kannte ihren Chef lange genug, um zu wissen, dass es besser war, ihn erst einmal in Ruhe granteln zu lassen.

    »Und jetzt auch noch diese nervige Fahrt auf der überfüllten Landstraße! Immer die Küste entlang, nur um in Esens ein Beweisstück abzuholen, das die Kollegen dort versehentlich haben liegen lassen. Dabei hat das Teil nicht mal mit einem unserer Fälle zu tun.« Grotes Stimmung sank von Kilometer zu Kilometer. »Wir sind doch kein Paketdienst!«, schimpfte er vor sich hin.

    In diesem Punkt allerdings konnte Stine ihn verstehen. Der Umweg, den sie fahren mussten, war in der Tat ärgerlich. Trotzdem wagte sie Widerspruch: »Du hast ja recht, Chef! Aber ich finde es okay, dass wir den Kollegen der Spurensicherung diesen kleinen Gefallen tun. Schließlich sind sie auch immer für uns da, wenn wir sie brauchen. So können wir uns wenigstens einmal revanchieren.«

    Grote kniff trotzig die Lippen zusammen, dachte sich allerdings: »Wo sie recht hat, hat sie recht«. Dann, nach einigen Minuten des Schweigens, hatte er sich beruhigt. »Eigentlich ist es ja auch egal. Denn im Moment haben wir ehrlich gesagt nichts Wichtiges auf dem Zettel.«

    »Stimmt!«, antwortete Stine und hätte jetzt sagen können, dass es in einem gut organisierten Büro immer etwas zu tun gab, aber sie wollte das zarte Pflänzchen seiner sich gerade bessernden Laune nicht mit einem unbedachten Wort zertrampeln. Stattdessen beschloss sie, den Gesprächsfaden mit einem neutralen, aber immer wieder beliebten Thema weiterzuspinnen. »Ist ein merkwürdiges Wetter, oder? Sturm sind wir hier an der Küste ja gewohnt, besonders wenn er aus Nordwest kommt. Aber jetzt, im Frühsommer? Und dann noch aus Süden?«

    »Ja, seltsam«, meinte Grote und blickte in den Himmel. Es war gar nicht so kalt wie sonst bei Sturm üblich, und zwischen den dahinjagenden Wolken ließ sich ab und an sogar die Sonne blicken.

    Sein Blick fiel auf eine Gruppe von 12 neuen Windrädern, die einen Kilometer rechts voraus, kurz vor Neßmersiel, auf dem Feld standen. »Schau dir bloß diese gigantischen Türme an! 140 Meter hoch, hab ich in der Zeitung gelesen. In dieser Höhe befindet sich die Gondel mit dem Maschinenhaus. Allein die Rotorblätter sind 55 Meter lang!« Fast ehrfurchtsvoll fügte er noch hinzu: »Jedes wiegt 26 Tonnen!«

    Stine nickte und heuchelte Interesse. Es gab viele Dinge, mit denen sie sich gerne beschäftigte, Windenergieanlagen zählten allerdings nicht dazu. »Na, dann hat der Sturm ja auch etwas Gutes. Da wird heute eine Menge Strom produziert«, meinte Stine, doch damit lag sie anscheinend falsch.

    »Jein!«, antwortete Grote kryptisch und überraschte sie damit. »Von einer bestimmten Windgeschwindigkeit an werden die Rotorblätter nämlich verstellt. Sie drehen sich aus dem Wind, um den Druck zu vermindern. Sonst könnten sie den Kräften nicht mehr standhalten. Wenn es zu extrem wird, schalten sie sogar komplett ab. Dann wird gar kein Strom mehr produziert. Aber ganz so stark scheint mir der Sturm heute nicht zu sein.«

    Stine war von dem Fachwissen ihres Chefs beeindruckt. »Donnerwetter, Chef, mit solchen technischen Finessen beschäftigst du dich in deiner kargen Freizeit?«

    Grote hörte neben der Bewunderung den zynischen Unterton heraus. »Nein!«, lachte er und seine Laune wurde wieder besser. »Aber meine Jungs haben es gerade in der Schule gelernt. Ich musste sie erst in der letzten Woche vor einer Klassenarbeit abfragen. Dabei ist bei mir einiges hängengeblieben.«

    Sie hatten mittlerweile das erste der himmelhohen Windräder erreicht, und Grote stellte interessiert fest, dass die Flügel der Anlagen sich tatsächlich aus dem Sturm gedreht hatten. Sie boten dadurch geringeren Widerstand und drehten sich langsamer, als zu erwarten gewesen war.

    »Es ist genauso, wie der Lehrer es den Jungs erklärt hat«, stellte er zufrieden fest, doch dann fiel sein Blick auf das zwölfte und letzte Windrad in der Reihe. Im Gegensatz zu allen anderen drehten sich die Flügel dieser Anlage mit einer wesentlich höheren Geschwindigkeit.

    »Seltsam!«, murmelte er leise, richtete sich in seinem Autositz auf und wischte mit dem Ärmel seiner Jacke über die leicht beschlagene Seitenscheibe, um besser sehen zu können. Je weiter sie sich dem Windrad näherten, umso mehr bekam er das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Wenn man genau hinschaute, konnte man den Eindruck gewinnen, dass sich im oberen Drittel des Turms Schwingungen aufbauten, die von Sekunde zu Sekunde heftiger wurden. Als wollte dieses eine Windrad den in seiner Nachbarschaft stehenden Anlagen beweisen, dass es stärker sei als sie, hatten sich die Rotoren nicht eingedreht, sondern stemmten sich gegen den Sturm.

    Sie waren fast auf gleicher Höhe mit dem Windrad, als Grotes Instinkt ihm sagte, dass die Rotorblätter kurz davor waren, den Kampf gegen die Elemente zu verlieren. Die Schwingungen im Turm hatten dermaßen zugenommen, dass sich plötzlich Teile der Verkleidung der Gondel zu lösen begannen und wie Blätter durch den Wind flatterten. Das Windrad stand zwar zweihundert Meter von der Landstraße entfernt, doch einige Teile schafften es fast bis zu ihnen herüber und zerschellten auf den Wiesen.

    Stine hatte keinen Blick für solche Dinge, denn der dichte Verkehr forderte ihre volle Aufmerksamkeit. Als Grote unerwartet »Bremsen!« rief, ihr dabei unvermittelt ins Lenkrad griff, und das Auto an den Straßenrand lenkte, war sie tief erschrocken, denn von dem, was sich gerade neben ihr auf der Wiese abspielte, hatte sie nichts mitbekommen. Erst als unmittelbar vor ihrem Auto ein Metallblech auf die Fahrbahn knallte und im selben Augenblick wieder Funken schlagend verschwand, realisierte sie die Gefahr, in der sie schwebten.

    Die Fahrer der Autos hinter ihnen wurden erst durch das abrupte, von Grote verursachte Fahrmanöver aufmerksam. Sie bremsten überhastet und blieben stehen. Einige von ihnen waren so leichtsinnig auszusteigen und begannen, das sich anbahnende Schauspiel des sich zerlegenden Windrads zu beobachten und mit ihren Handys aufzunehmen. Die Autofahrer im Gegenverkehr jedoch reagierten zu spät. Einige vollzogen erst eine Vollbremsung, als ihre Autos von kleineren Trümmerteilen getroffen wurden, andere scherten aus und versuchten, mit Vollgas aus der Gefahrenzone zu gelangen.

    Bisher schien noch niemand ernsthaft zu Schaden gekommen zu sein, lediglich einige Autos hatten Blechschäden davongetragen, doch dann veränderte sich die Situation schlagartig. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Stine auf zwei entgegenkommende Autos. Es war klar zu erkennen, dass sie es nicht mehr rechtzeitig schaffen konnten, den Trümmerteilen auszuweichen. Das erste wurde vorne am Radkasten von einem Metallstück so schwer getroffen, dass es sich um die eigene Achse drehte und quer zur Fahrbahn stehen blieb. Die Frau in dem folgenden Fahrzeug kam trotz Vollbremsung nicht mehr rechtzeitig zum Halten und krachte hinein.

    »Mein Gott!«, rief Stine entsetzt und befürchtete das Schlimmste, doch beide Insassen schienen mit dem Schrecken davongekommen zu sein. Trotz der umherfliegenden Gegenstände stiegen sie aus und betrachteten den Schaden an ihren Fahrzeugen, als handele es sich um einen banalen Auffahrunfall im Feierabendstau. Stine war erleichtert, doch Grote war klar, dass all dieses nur das Vorspiel zu dem war, was nun geschah. Die Vibrationen im Turm der Windkraftanlage hatten inzwischen derart zugenommen, dass sich die gesamte Gondel an der Spitze des Turms zu lösen begann und allmählich nach vorne neigte. Sie hielt sich nur noch Sekunden in dieser Position, dann stürzte sie krachend herab.

    Eines der drei riesigen Rotorblätter schlug dabei gegen den massiven Turm der Anlage, brach ab und wurde zum Spielball des Sturmes. Grote hoffte, dass dieses viele Tonnen schwere Teil wie ein Stein senkrecht zu Boden fallen würde, doch dem war nicht so. Die aerodynamische Form wurde dem Rotorblatt nun zum Verhängnis, denn eine schwere Böe nahm es auf seinem Weg nach unten ein Stück weit mit. Bösartig begann der Flügel im Sturm zu torkeln und flog direkt in Richtung der Landstraße.

    Grote sah das Geschehen wie in Zeitlupe vor sich ablaufen. Er stieg aus dem Auto und schrie in den Sturm: »Achtung, volle Deckung!« Dabei zeigte er in den Himmel auf den mächtigen Flügel, der sich mit teuflischer Präzision genau auf die beiden Personen der zusammengestoßenen Autos zubewegte. Die junge Frau war die Erste, die realisierte, was geschah. Mit wenigen Schritten hetzte sie über die Fahrbahn und warf sich mit einem mutigen Sprung in den Straßengraben. Der Mann hingegen, der um einiges älter war als die Frau, schaffte es nicht, so schnell zu reagieren. Mitten auf der Fahrbahn, genau dort, wo er stand, krachte der Flügel mit unglaublicher Gewalt nieder. Er erschlug zuerst den Mann, dann zermalmte er die beiden Autos und fegte ihre Trümmer auf die Wiese.

    Bei dem Aufprall zersplitterte der Flügel fast vollständig. Die schwere Nabe aus Stahl schlug im Straßengraben ein, nur wenige Meter neben der jungen Frau, und ließ sie wie durch ein Wunder am Leben. Die Kunststoffteile jedoch verletzten einige der Autofahrer, die immer noch mit ihren Handys standen und gebannt filmten, als wenn sie das alles persönlich nicht beträfe.

    Als wollte der Sturm nun sein Werk in Ruhe betrachten, legte sich der Wind plötzlich und gab der Sonne Gelegenheit, den Ort der Verwüstung durch eine Wolkenlücke zu bescheinen. Stine hetzte über die Landstraße zu der Stelle, an der der alte Mann gestanden hatte, doch es bedurfte keiner Fantasie, um zu begreifen, dass hier jede Hilfe zu spät kam. Wer unter diesem Trümmerberg lag, konnte nicht mehr leben. Sie war von dem Chaos, das so unvermittelt über die Menschen hereingebrochen war, völlig überfordert und schaute sich hilfesuchend nach Grote um, doch der war nirgendwo zu sehen.

    »Stefan?« Ihr sorgenvoller Ruf blieb unbeantwortet. Beunruhigt lief sie zum Auto zurück, dorthin, wo sie Grote zuletzt gesehen hatte, und wieder rief sie, diesmal lauter und voller Angst. Statt einer Antwort hörte sie nur ein leises Stöhnen, dann erst entdeckte sie ihren Chef. Grote saß neben dem Auto im feuchten Gras des Seitenstreifens auf den Knien. Er wirkte benommen und versuchte vergeblich, sich einen breiten Blutstreifen aus den Augen zu wischen, der sich vom Kopf herunter seinen Weg suchte und nicht zu versiegen schien.

    »Was ist mit dir passiert?« Stine beugte sich erschrocken zu ihm hinunter, nahm ein Papiertaschentuch und versuchte damit, die Blutung auf dem Kopf zu stoppen, doch es bedurfte mehr als das. »Bleib ganz ruhig sitzen!«, befahl sie ihm.

    Sie lief zum Kofferraum, holte den Verbandskasten heraus und riss hektisch einige Mullkompressen aus der Verpackung. Die drückte sie auf Grotes Kopf, und nach einigen Minuten versiegte der Blutfluss. Grote ließ das tapfer über sich ergehen, schien als Folge eines Schocks auch keine Schmerzen zu verspüren, und versuchte sich sogar an einem kümmerlichen Witz: »Ich habe keine Ahnung, was mich am Kopf erwischt hat, eine angriffslustige Möwe war es jedenfalls nicht!«

    Stine stand nicht der Sinn nach Scherzen. Sie legte frische Mullkompressen auf und fixierte diese mit einem Kopfverband. Dann zeigte sie mit dem Daumen auf den Dienstwagen. »Deine Möwe steckt im Dach unseres Autos.«

    Grote beugte sich leicht zur Seite, schaute auf das Auto und wurde noch etwas bleicher, als er ohnehin schon war. Mitten im Autodach steckte eine ungefähr zeitungsgroße, massive Kunststoffplatte, die das Blech glatt durchschlagen hatte. »Wärest Du im Auto sitzen geblieben, hätte Dir das Teil mit Leichtigkeit den Schädel gespalten. So hat es Dich wohl im Anflug nur gestreift«, sagte Stine mit zitternder Stimme. »Du hast unfassbares Glück gehabt! Wie ich es sehe, hast du lediglich eine tiefe Schnittwunde auf deinem Kopf davongetragen. Ich denke, sie wird eine Narbe hinterlassen, die dich dein Leben lang an diese Dienstreise und dein Glück erinnert.«

    Sie griff Grote unter die Arme, doch ihr Bemühen, ihn auf die Beine zu bringen, scheiterte kläglich. Grote fiel wieder zusammen wie ein nasser Sack und musste zugeben, dass der Schrecken, den der Anblick des im Autodach steckenden Teils ihm bereitet hatte, tiefer saß, als er es sich eingestehen wollte.

    Mit Hilfe eines jungen Mannes gelang es Stine dann, ihren angeschlagenen Chef auf den Rücksitz zu bugsieren. Erst jetzt hatte sie Zeit, sich umzuschauen. Überall sah sie Menschen, die sich um die Verletzten kümmerten, und sie hatte den Eindruck, als ob außer dem einen Autofahrer, der vom Flügel erschlagen worden war, niemand wirklich schwer zu Schaden gekommen war. Vermutlich hatten überwiegend kleinere Trümmerstücke und herumfliegende Glassplitter zerschlagener Autoscheiben Schaden angerichtet. Sie holte ihr Handy aus der Jackentasche, um die Leitstelle der Polizei anzurufen, doch das hatten andere bereits getan. In der Ferne leuchtete schon das Blaulicht eines Streifenwagens, dem wenig später mehrere Krankenwagen und die Feuerwehr folgten.

    Grote bestand darauf, vor dem Abtransport ins Krankenhaus einem Kollegen der Streife seine Beobachtungen zu schildern, denn die zuvor von ihm bemerkten Schwingungen des Windrades schienen ihm die Ursache des Unglücks zu sein. Erst danach stimmte er widerwillig zu, sich im Krankenhaus behandeln zu lassen.

    Willkommen im Dienst

    Stefan Grote war hart im Nehmen. Bereits fünf Tage nach dem Windrad-Desaster stand er plötzlich frühmorgens im Dienstzimmer und überraschte Stine mit einem großen Blumenstrauß. Als sichtbare Erinnerung an das Unglück hatten ihm die Ärzte ein überdimensionales Pflaster quer über den Kopf geklebt, und da er seine Haare eh nur in Millimeterlänge trug, musste nicht einmal Platz dafür geschaffen werden.

    Mit den Worten: »Na, steht mir das, oder nicht?«, begrüßte er seine Kollegin und erfreute sich an ihrer Sprachlosigkeit. »Nun guck nicht so erschrocken! Die kleine Schramme dort oben ist mit acht Stichen genäht worden und tut überhaupt nicht mehr weh.«

    Dass die Ärzte ihm angeraten hatten, noch einige Tage zur Beobachtung in der Klinik zu bleiben, um eine Gehirnerschütterung auszuschließen und sich danach zu schonen, hatte er seiner Frau nicht gesagt, und auch Stine unterschlug er es.

    Nach ihrer ersten Verblüffung musste Stine lachen, denn der Anblick, den ihr „verpflasterter" Chef bot, war in Verbindung mit dem Blumenstrauß, den er verlegen in der einen und einem Tortenbehälter, den er in der anderen Hand hielt, wirklich zu komisch.

    »Anna hat mich verdonnert, dir einen Blumenstrauß zu überreichen.« Grote druckste etwas herum. »Na, du weißt schon wofür!« Er drückte seiner Kollegin die Blumen etwas stillos

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