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Totenhausmord. Ostfrieslandkrimi
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eBook241 Seiten3 Stunden

Totenhausmord. Ostfrieslandkrimi

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Über dieses E-Book

Seit Stunden tobt bereits ein heftiger Schneesturm über Ostfriesland, als sich der junge Feuerwehrmann Marten Koopmann nach einer feuchtfröhlichen Feier mit seinem Fahrrad auf den Heimweg macht. Doch er kommt nie zu Hause an. Erst Tage später wird seine Leiche gefunden: Der junge Mann ist offensichtlich in einen Graben gestürzt und konnte sich, alkoholisiert wie er war, nicht selbst befreien und ist erfroren. Ein tragischer Unfall, der keine weiteren polizeilichen Ermittlungen nach sich zieht. Als jedoch über ein Jahr später nur wenige Meter neben der Unfallstelle in dem verlassenen „Hexenhaus“, wie es der Volksmund nennt, eine Leiche gefunden wird, sieht die Sache anders aus. Staatsanwältin Theda Siefken hegt Zweifel. Gibt es einen Zusammenhang? War es damals wirklich ein Unfall? Sie setzt Stefan Grote und Stine Lessing, Sonderermittler bei der Polizeiinspektion Aurich, darauf an. Die beiden verbeißen sich regelrecht in den Fall. Die Puzzleteile, die sie zusammensetzen müssen, führen sie auf eine düstere Zeitreise, die einen ungeheuerlichen Verdacht aufkommen lässt...

SpracheDeutsch
HerausgeberKlarant
Erscheinungsdatum19. Juli 2022
ISBN9783965866188
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    Buchvorschau

    Totenhausmord. Ostfrieslandkrimi - Hans-Rainer Riekers

    Ostwind

    »Nich lang snacken, Kopp in Nacken!« Es war nicht das erste Mal, dass an diesem Samstagabend im Januar ein Trinkspruch durch den Kameradschaftsraum der Freiwilligen Feuerwehr Westerbur schallte, und es würde auch nicht das letzte Mal sein. Denn es gab Grund zum Feiern. Nach langen Bemühungen war es endlich eingetroffen, das funkelnagelneue LF10, ein modernes Löschgruppenfahrzeug, das seinem fast dreißig Jahre alten Vorgänger den Weg in das Feuerwehrmuseum Jever bereitete.

    Alles, was Rang und Namen hatte, war zu diesem Festtag angereist. Nicht nur der Bürgermeister aus Dornum war herübergekommen, selbst der von Terminen geplagte Landrat aus Aurich gab sich die Ehre, um der Indienststellung mit einigen warmen Worten die gebührende Bedeutung zu verleihen. Nachdem die angebotenen Schnittchen verzehrt und genug Reden gehalten worden waren, machte sich die Prominenz wieder auf den Weg.

    Bei aller Freude über den würdigen Rahmen war man froh, als die offizielle Veranstaltung vor der Fahrzeughalle sich dem Ende zuneigte, denn seit Stunden fegte ein eiskalter Ostwind über das Land. Zuerst hatte er nur vereinzelt einige Schneeflocken vor sich hergetrieben, doch dann nahmen Wind und Schneefall zu und wurden lästig.

    Nun endlich begann für die Westerburer Feuerwehrleute der gemütliche Teil. Der Ortsbrandmeister gab ein Zeichen, und die gutgelaunte Schar begab sich in den über der Fahrzeughalle gelegenen Kameradschaftsraum.

    Der unter den Dachschrägen befindliche, holzgetäfelte Saal verbreitete tiefe Behaglichkeit, und die in den Pokalschränken aufgestellten Trophäen zeugten von Erfolgen bei den regelmäßig stattfindenden Feuerwehrwettkämpfen. Sie standen dort als sorgfältig geputzte Beweise für den tadellosen Ausbildungsstand der Truppe.

    In Verbindung mit den angebotenen Getränken stieg die ausgelassene Stimmung von Stunde zu Stunde und erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt, als der Ortsbrandmeister sich um 22 Uhr feierlich erhob und Marten Koopmann aufforderte, nach vorne zu treten. Marten wusste natürlich, worum es ging, denn in der vergangenen Woche hatte er den ersten Teil der Truppmann-Ausbildung mit Erfolg absolviert. Also wurde er an diesem Abend unter dem Beifall der Kameraden als vollwertiges Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr Westerbur aufgenommen. Marten war schon als Kind in die Jugendfeuerwehr eingetreten und entsprechend stolz, dass er es nun geschafft hatte. Vorsorglich, um sich nicht später den Vorwurf gefallen lassen zu müssen, geizig zu sein, hatte er vor der Veranstaltung ein 30-Liter-Fass Bier und einige Flaschen Korn in der Fahrzeughalle bereitgestellt. Damit wurde der ohnehin schon erhebliche Getränkevorrat noch einmal beträchtlich aufgestockt.

    Nach erfolgter Ehrung ging Marten Koopmann also nach unten, um die Getränke hochzuholen. Dabei warf er einen kurzen Blick nach draußen und sah staunend, dass sich schon einige Zentimeter Schnee angesammelt hatten. So etwas war hoch im Norden keinesfalls üblich, aber als Sensation empfand er es auch nicht. »Sieht hübsch aus, aber in einigen Stunden ist die Pracht ja eh wieder abgetaut«, dachte er. Damit war der Fall für ihn erst einmal erledigt.

    Um drei Uhr morgens stellten die wackeren Feuerwehrleute den Notstand fest. Alle alkoholischen Vorräte waren vernichtet, und in Anbetracht der fortgeschrittenen Stunde war an Nachschubbeschaffung nicht mehr zu denken. Und wenn jeder ehrlich war mit sich, gab es niemanden im Raum, der nicht zu dem Ergebnis kam, nun sei es auch genug des Guten. Also verabschiedeten sie sich voneinander, bewarfen sich auf dem Platz vor der Fahrzeughalle übermütig mit Schneebällen und machten sich auf den Weg nach Hause. Dem jüngsten Mitglied im Kreise überließen sie es, die Spuren des Gelages zu beseitigen.

    Trotz gewisser motorischer Einschränkungen, die der Alkohol bei ihm verursachte, mühte Marten Koopmann sich redlich, die ihm übertragene Aufgabe mit Anstand zu erfüllen. Als er endlich mit seiner Arbeit fertig war, schloss er zufrieden den Kameradschaftsraum hinter sich ab. Ein fröhliches Lied vor sich hin pfeifend ging er nach unten, holte sein Fahrrad aus der Fahrzeughalle und schob es auf den Vorplatz. Die Schneedecke hatte deutlich zugelegt, war aber nicht einheitlich dick. An einigen Stellen hatte der Wind die Straßen blankgefegt, an anderen hingegen lag der Schnee kniehoch. Doch das sorgte Marten nicht. Bis nach Middelsbur, zum Haus seiner Eltern, war kaum ein Kilometer zurückzulegen, und er hegte nicht den geringsten Zweifel, es mit seinem Drahtesel bis dorthin zu schaffen.

    Er schwang sich in den Sattel, bog in die Pumpensieler Straße ein und wunderte sich selbst, dass er trotz des Schneesturms gut vorankam. Erst als er auf den Aalweg gelangte und nach kurzer Fahrt auf den schmalen Feldweg abbog, der direkt nach Middelsbur führte, wurde ihm bewusst, dass er die Situation falsch eingeschätzt hatte. Solange er noch im Ort unterwegs gewesen war, hatten die Häuser sich dem Sturm entgegengestellt und den Schnee abgehalten, doch hier, auf freiem Feld, packte ihn der Schneesturm mit voller Kraft. Er schaffte es noch etwa einhundert Meter weiter, dann blieb er in einer Schneewehe stecken und kippte samt Fahrrad in die weiße Pracht. Prustend rappelte er sich auf und spuckte lachend den kalten Schnee aus, den er in den Mund bekommen hatte. So leicht ließ ein Marten Koopmann sich nicht unterkriegen, wenn er auch einsah, dass es so keinen Zweck hatte. Also versuchte er gar nicht erst weiterzufahren, sondern schob das Fahrrad neben sich her. Doch auch damit geriet er schnell an seine Grenzen, denn der Schnee erwies sich als hartnäckiger Gegner. Mit dem Fahrrad an seiner Seite würde er es nie bis nach Hause schaffen, denn er kam kaum voran, und der Wind begann, ihn immer weiter auszukühlen. Seine Handschuhe hatte er am Morgen vergessen, und allmählich froren ihm die Finger steif, doch das war nun nicht mehr zu ändern. Kurzentschlossen lehnte er das Fahrrad an einen vom Sturm gebeugten Straßenbaum, um es dort einschneien zu lassen. Niemand würde es ihm in diesem Wetter stehlen, und nach dem Tauwetter konnte er es abholen.

    Er steckte die Hände in die Jackentaschen und kam ohne das hinderliche Fahrrad etwas besser voran, doch er spürte, dass die immer häufiger vor ihm aufgetürmten Schneeverwehungen ihm allmählich die Kraft raubten. Trotzdem weigerte er sich umzukehren, denn je kälter ihm wurde, umso mehr lockte ihn der Gedanke an zu Hause und sein warmes Bett. Er zog sich die Kapuze seiner viel zu dünnen Jacke noch ein Stück tiefer in das Gesicht, doch die Schneeflocken wehten ihm trotzdem in die Augen. Die feinen Eiskristalle schmerzten ihn derart, dass er nur noch blinzeln konnte. Dann endlich tauchte ein Stück voraus die schmale Brücke auf, die über das Pumptief hinüber nach Middelsbur führte.

    Dieser Wasserzug, der sich von Dornumersiel weit durch das flache Land nach Süden schlängelte, zeigte ihm an, dass er es fast nach Hause geschafft hatte. Noch 150 Meter bis zur Brücke, dann geradeaus durch den Ort. Bald würde er sein Elternhaus sehen können, doch Martens Schritte wurden von Minute zu Minute schwerer und unsicherer. Der Alkohol verlor seine anfangs belebende Komponente und entfaltete nun seine betäubende Kraft. In Verbindung mit aufkommender Müdigkeit und der Kälte, die unaufhaltsam in ihn hereinkroch, ergab das eine unheilvolle Wirkung, der er nicht mehr viel entgegenzusetzen hatte. Es wurde Zeit, sich endlich aufwärmen zu können.

    Da passte es ihm gar nicht, dass er seinen Marsch unterbrechen musste, denn sein Anteil an der Leerung des eigenen 30-Liter-Fasses war nicht unerheblich gewesen und löste bei ihm ein Bedürfnis aus, das keinen Aufschub duldete. Auf freiem Feld ließ sich diese Angelegenheit in dem starken Wind nicht störungsfrei erledigen, darum entschloss er sich schwankend, von der Straße abzubiegen und einige Meter weit auf das Grundstück der Familie Eilers zu gehen. Dort würde sich im Windschatten eines mächtigen Rhododendronbusches die Möglichkeit ergeben, sich zu erleichtern.

    Trotz seines vernebelten Kopfes zögerte er, das Gittertor zu öffnen, denn jedes Kind, das in Middelbur aufwuchs, wusste, dass Ditje Eilers eine Hexe gewesen war. Die Erwachsenen schüttelten angesichts solcher Behauptungen zwar den Kopf, mussten aber zugeben, dass Ditjes Haus eine dunkle Aura umgab. Das einsam stehende Siedlungshaus mit dem windschiefen Stall daneben war viel kleiner als die der umliegenden reichen Marschbauern. Es hatte dort einmal einige Milchkühe und einen großen Gemüsegarten gegeben, doch das war schon lange her. Niemand wusste, wovon die Familie eigentlich lebte. Zudem waren die Eilers vom Pech verfolgt. Die Männer waren meist früh gestorben und Töchter, die Ditje Eilers im Haushalt helfen konnten, gab es nicht. Lange Zeit lebte sie mit ihrem einzigen Sohn Tjark allein auf dem Hof und wurde von Jahr zu Jahr verbitterter, während das ohnehin schon unansehnliche Haus verfiel und von wildem Wein überwachsen wurde. Dann, so erzählten es sich die Menschen, sei ihr Sohn für einige Jahre nach Südafrika gegangen, um sein Glück als Farmer zu suchen, war aber vor zwei Jahren wieder zurückgekehrt.

    Der Sohn ließ sich nach seiner Rückkehr niemals blicken und ging nicht zur Arbeit. Wenn sich Kinder auf das Grundstück verirrten, kam die alte Eilers keifend heraus und bewarf die Eindringlinge mit Kartoffeln oder, wenn diese nicht greifbar waren, sogar mit Steinen. Ihr Erscheinungsbild unterstrich die Hexenfantasien der Kinder, denn sie trug sommers wie winters ein langes schwarzes Kleid, das wild im Wind flatterte. Und dann waren da noch die weißen Haare, die ihr wirr ins Gesicht hingen.

    Seit ihrem plötzlichen Tod im letzten Jahr, dem eine von den Nachbarn ignorierte Bestattung folgte, lebte der Sohn weiterhin quasi unsichtbar allein in dem Haus. Schon unzählige Male war Marten Koopmann mit seinem Fahrrad an dem Hexenhaus vorbeigefahren, doch mehr als einen vagen Schatten hinter blinden Fensterscheiben hatte er nie gesehen. Selbst am Abend drang kein Lichtschein aus dem Haus.

    Marten Koopmann war drauf und dran wieder umzudrehen, denn es widerstrebte ihm, sich dem Haus zu nähern, doch seine Blase ließ ihm keine Wahl. Er öffnete das Tor, wankte einige Schritte voran und verrichtete sein Geschäft dicht an dem Busch. Währenddessen schaute er unruhig zum Haus hinüber, das 30 Meter weiter vor ihm stand und dessen dem Wind zugewandte Seite von einem weißen Eisfilm überzogen war. Doch wer sollte ihn stören? Auch heute war es hinter den Fenstern dunkel. Nachdem er sich erleichtert hatte, wollte er so schnell wie möglich wieder auf die Straße zurückkehren, doch nun hörte er auf einmal lautes Türenschlagen, das ihm zuvor entgangen war. Der Ostwind schleuderte eine offen stehende Haustür in stetem Rhythmus hin und her und würde keine Ruhe geben, bis er sie zerschlagen hatte.

    Marten Koopmann, der frisch ernannte Truppmann der Freiwilligen Feuerwehr Westerbur, fühlte sich verpflichtet, abzusehenden Schaden zu begrenzen, selbst wenn es sich um ein Hexenhaus handelte. So wankte er zögerlich, aber gleichzeitig entschlossen auf den Eingang des Hauses zu, um die Tür zu schließen. »Herr Eilers? Sind Sie zu Hause?«, rief er laut. Tjark Eilers antwortete nicht, und Marten Koopmann war unschlüssig, ob er einfach die Tür schließen und es dabei bewenden lassen sollte, doch dann traute er sich und ging einen Schritt in das Haus hinein. Den Eindruck eines Eindringlings wollte er nicht vermitteln.

    Als überraschend aus der Dunkelheit des Flurs ein Mann vor ihm auftauchte, zuckte er zusammen, doch sogleich hatte er sich wieder gefangen. „Es tut mir leid, Herr Eilers, dass ich einfach bei Ihnen eindringe, aber Ihre Tür schlug hin und her, da dachte ich, es muss mal jemand nach dem Rechten sehen!«

    Marten erwartete keine Dankbarkeit für seine Hilfsbereitschaft, aber als sein Gegenüber es nicht einmal für nötig befand zu antworten, fand er das sehr unhöflich. So ärgerte er sich schon, dass er nicht einfach wieder zurück auf den Feldweg gegangen war, doch mit einem Angriff rechnete er nicht. Der Mann trat aus der Dunkelheit heraus, ging mit schnellen Schritten auf ihn zu und schubste ihn wortlos aus dem Flur vor die Tür. Marten taumelte einige Schritte zurück und hielt nur mit Mühe das Gleichgewicht.

    »Ich wollte doch nur helfen!«, rief er verärgert. »Die Tür stand offen.« Marten wollte keinen Streit. Vermutlich hielt Tjark Eilers ihn für einen Einbrecher und reagierte deshalb so ruppig. Um weiteren Ärger zu vermeiden, hob er beschwichtigend die Hände und wandte sich von dem Mann ab, um in Richtung Feldweg zu gehen. »Ist ja schon gut, ich wollte nur helfen.«

    Der Mann jedoch gab keine Ruhe. Er folgte ihm und schubste ihn mehrmals vor sich her, und plötzlich verspürte Marten schmerzhafte Schläge im Rücken. Sie waren mit so großer Wucht ausgeführt worden, dass er nach vorne stolperte und kopfüber in eine Schneewehe stürzte, die sich über dem Entwässerungsgraben gebildet hatte, der das Eilers-Grundstück vom Regenwasser befreien sollte. Seine Stirn durchschlug die dünne Eisdecke des Grabens, und mit dem nächsten Atemzug sog er das modrige Wasser in seine Lunge. Sofort wurde er von Hustenanfällen gequält, die nicht enden wollten und ihm die Luft nahmen.

    Wäre Marten Koopmann nüchtern und bei Kräften gewesen, hätte er sich womöglich wieder aufrappeln können, doch die Umstände waren gegen ihn. Er versuchte noch, in dem schlammigen Grund des Grabens Halt zu finden, doch seine froststeifen Hände rutschten immer wieder an der Grabenböschung ab. Außerdem gelangte nun Schnee in seinen Mund und erschwerte ihm das Atmen immer mehr. Als ihm die Luft vollends knapp wurde, stieg Panik in ihm auf. Sie ließ keinen klaren Gedanken mehr zu, und schon bald wusste er nicht mehr, wo oben und wo unten war. Irgendwann verließen ihn die Kräfte völlig, und er fügte sich erschöpft in sein Schicksal. Marten Koopmann befiel eine lähmende Handlungsunfähigkeit, der er sich nicht mehr erwehren konnte. Die Kälte, die ihn zuerst in Starre versetzt hatte, ließ ihn nun sanft einschlafen. Man sagt, dass Ertrinkende in den letzten Augenblicken ihr gesamtes Leben an sich vorbeiziehen sehen. Marten Koopmann wurde dies nicht zuteil. Er starb, ohne sein Bewusstsein wiedererlangt zu haben.

    *

    Gretchen Koopmann hatte eine unruhige Nacht hinter sich. Der an den Fensterläden herumzerrende Sturm hatte sie immer wieder aus dem Schlaf gerissen, und als sie gegen Morgen in die Küche ging, um ein warmes Glas Milch zu trinken, bemerkte sie, dass Martens Jacke nicht wie üblich an der Garderobe hing. Sie öffnete leise die Tür zu seinem Zimmer und schaute hinein. Das Bett war unbenutzt, doch das kam häufiger vor, denn manchmal verbrachte er die Nacht bei seiner Freundin in Damsum. Was sie sorgte, war der Umstand, dass sie auf ihrem Handy keine Mitteilung von ihrem Sohn fand. Marten war ein verlässlicher Junge und hatte die Angewohnheit, seine Mutter stets zu benachrichtigen, wenn er nicht nach Hause kam. Unruhig ging sie hin und her, wartete noch eine Stunde, dann entschloss sie sich, ihren Mann zu wecken. Der lag immer noch schnarchend in seinem Bett, hatte sich die Decke über den Kopf gezogen und war ungehalten, als seine Frau das Licht der Nachttischlampe einschaltete und an seiner Schulter rüttelte. Schlaftrunken richtete er sich auf und schaute auf den Wecker. »Wir haben es noch nicht einmal sieben Uhr, Gretchen! Warum lässt du mich nicht ausschlafen? Es ist Sonntag!«

    »Marten ist nicht nach Hause gekommen! Und am Handy meldet er sich nicht.« Sie hoffte, damit eine Reaktion bei ihrem Mann hervorzurufen, doch der ließ sich wieder in das Kissen fallen.

    »Um mir das zu sagen, weckst du mich? Er wird nach Damsum zu Lena rübergefahren sein.« Er tastete nach der Nachttischlampe und wollte damit andeuten, dass die Angelegenheit damit für ihn erledigt sei, doch seine Frau gab keine Ruhe.

    »Schau doch mal nach draußen! Wie soll er denn mit dem Fahrrad nach Damsum gekommen sein? Draußen liegt Schnee, und zwar nicht wenig.«

    Peer Koopmann erhob sich unwillig, schlüpfte in seine dicken Puschen und schlurfte zum Fenster. So weit das Auge reichte, breitete sich eine Winterlandschaft vor ihm aus, wie er sie selten in seinem Leben gesehen hatte. »Na dann ist ja alles klar. Bei diesen Verhältnissen konnte er nicht mehr Fahrrad fahren. Also ist er lieber in der Feuerwache geblieben. Vermutlich hatte er mächtig einen im Tee, Anlass dazu gab es gestern ja reichlich. Da hat er bestimmt eines der Feldbetten aufgebaut und schläft jetzt dort seinen Rausch aus. Wenn die Kopfschmerzen ihn wecken, wird er sich schon melden.«

    Peer Koopmann schaffte es tatsächlich, seine Frau zu beruhigen, doch um zehn Uhr hielt sie es nicht mehr aus. Sie nahm kurzentschlossen den Telefonhörer und rief beim Ortsbrandmeister an. Harm Böskens saß am Frühstückstisch und betrachtete versonnen eine Aspirintablette, die sich gerade schäumend in einem Glas Wasser auflöste. Zwar gelang es Gretchen Koopmann nicht, Harm in sofortige Aktivität zu versetzen, sie gab sich aber mit seiner Antwort zufrieden.

    »Nu bleib mal ruhig, Gretchen. Peer hat recht, Marten wird an der Wache geblieben sein. Schließlich musste er noch aufräumen. Lass mich noch in Ruhe frühstücken, dann fahre ich rüber und wecke ihn!«

    Harm Böskens stellte allerdings schnell fest, dass sein Magen den gestrigen Abend noch nicht völlig verarbeitet hatte. Richtiger Appetit wollte sich nicht einstellen, also machte er sich nach einem starken Kaffee und einem halbherzigen Biss von seinem Schinkenbrötchen seufzend auf den Weg. Unter normalen Umständen hatte er zur Feuerwache nur fünf Minuten zu fahren, doch die Landstraßen waren noch nicht geräumt, und die wenigen Autos, die bei diesem Wetter am Sonntagmorgen unterwegs waren, schafften es nicht, eine Fahrspur anzulegen, der man sich anvertrauen konnte. Der Schneefall war zwar nicht mehr stark, aber der eisige Ostwind fand immer noch Gefallen daran, neue Hindernisse aufzutürmen. So dauerte es eine Weile, bis Harm Böskens an der Wache eintraf. Den Kameradschaftsraum fand er wie erwartet aufgeräumt vor, doch von Marten keine

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