Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Emsdeichmord. Ostfrieslandkrimi
Emsdeichmord. Ostfrieslandkrimi
Emsdeichmord. Ostfrieslandkrimi
eBook217 Seiten3 Stunden

Emsdeichmord. Ostfrieslandkrimi

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

In der neuen Dienststelle in Aurich haben sich Hauptkommissar Stefan Grote und seine junge Kollegin Stine Lessing gut eingelebt. Als sie bei einem spektakulären Geldautomatenraub, der mit dem Tod von zwei Männern endete, als Sonderermittler hinzugezogen werden, stellt sich bald heraus, dass hier ihr ganzes Können gefragt ist. Sie stoßen auf weitere Leichen, die sie zunächst nicht miteinander in Verbindung bringen können. Doch dank akribischer Ermittlungsarbeit lichtet sich der Nebel und es offenbart sich, dass Täter manchmal auch Opfer sind und wie ein missglückter Raub und eine aus dem Ruder gelaufene Strafaktion in einer Katastrophe enden konnten, die so keiner der Beteiligten wollte. Und es ist noch nicht vorbei: Um den Täter zu stellen, muss Stine ihr Trauma, das sie seit ihrem ersten Einsatz auf Juist mit sich trägt, überwinden und über sich hinauswachsen...

SpracheDeutsch
HerausgeberKlarant
Erscheinungsdatum8. Feb. 2021
ISBN9783965863101
Emsdeichmord. Ostfrieslandkrimi

Ähnlich wie Emsdeichmord. Ostfrieslandkrimi

Titel in dieser Serie (9)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Mord für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Emsdeichmord. Ostfrieslandkrimi

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Emsdeichmord. Ostfrieslandkrimi - Hans-Rainer Riekers

    Das Urteil

    Als Ove Tammen gegen Mittag sah, dass der gelb gekleidete Radfahrer von der Landstraße abbog und sich über die endlos lange Hofzufahrt seinem Haus näherte, wusste er, was die Stunde geschlagen hatte. Der Briefträger musste sich mächtig ins Zeug legen, um gegen den kräftigen Wind anzukämpfen, der unermüdlich kalten Nieselregen vor sich hertrieb. Als er endlich das Haus erreichte, schüttelte er das Regenwasser von seinem Regencape ab und wühlte in der Posttasche, die auf dem Gepäckträger montiert war. Dann hielt er einen grauen Umschlag in der Hand.

    Natürlich hätte Paul Otten den Umschlag einfach in den Briefkasten werfen können, doch er zog es vor, wie immer an der Tür zu läuten. Er und Ove kannten sich schon seit ihrer Jugend. Sie besuchten als Kinder dieselbe Schule, spielten im selben Fußballverein und rauchten gemeinsam heimlich ihre erste Zigarette, wobei sie ganz nebenbei einen Heuballen abfackelten. Auch die Strafe des Bauern, die auf dem Fuße folgte und in Form einer kräftigen Tracht Prügel sofort vollstreckt wurde, ertrugen sie gemeinsam. So etwas verband Männer ein Leben lang. Deshalb wusste Paul, dass er auf dem Tammen-Hof die Gelegenheit bekommen würde, sich aufzuwärmen und wie üblich bei einem Klönschnack den einen oder anderen Korn zu trinken. Er läutete mehrfach, und als nicht geöffnet wurde, ging er um das Haus herum zur Scheune.

    »Ove, bist du zu Hause? Ich habe Post für dich!«

    Wieder erfolgte keine Reaktion. Der Briefträger rief noch einmal, dieses Mal lauter. Dann ging er zur Rückfront des Wohnhauses und klopfte energisch an die Scheibe der Wohnstube. Irgendwo musste sein Freund schließlich stecken. Erst als er bemerkte, dass Oves roter Audi nirgendwo zu sehen war, akzeptierte er, dass er weiter frieren musste und sich vergeblich auf die Pause gefreut hatte. Mit einem enttäuschten Seufzer warf Paul Otten den grauen Brief ein, zurrte sein Regencape zurecht und machte sich missmutig wieder auf den Weg.

    Ove hatte all das vom Wohnzimmer aus heimlich beobachtet. Er war darauf bedacht, nicht gesehen zu werden, und hielt sich hinter dem Vorhang an der Seite des Fensters verborgen. Erleichtert atmete er auf, als Paul Otten sich endlich auf sein Fahrrad schwang, um sich vom Rückenwind zur Landstraße schieben zu lassen.

    Ove Tammen ging schon seit Tagen jedem Menschen, den er kannte, aus dem Weg. Er wollte mit niemandem sprechen, weil er Angst vor den Fragen hatte, die man ihm hätte stellen können. Gewiss hätte sich Paul wie üblich nach Anna, seiner Frau, erkundigt. Was hätte er ihm sagen sollen? Ganz sicher hätte er auch die Frage nach dem Verbleib seines Autos gestellt, denn er wusste, wie wichtig ihm sein roter Audi war. Ove hätte nicht den Mut und die Kraft besessen, auf diese Frage ehrlich zu antworten und die Karten auf den Tisch zu legen. Sollte er etwa frank und frei zugeben, dass sein Hof völlig überschuldet war, dass das Geld nicht einmal mehr zum Nötigsten reichte? Dass seine Kreditkarte schon lange gesperrt war und der Kühlschrank leer? Sollte er zugeben, dass es die Frau an seiner Seite nicht mehr gab und dass er seinen letzten und einzigen Stolz, den aufgemotzten Audi, weit unter Wert an einen zwielichtigen Autohändler in Aurich verkauft hatte? Er hatte es tun müssen, um mit dem Geld wenigstens die dringendsten Schulden begleichen zu können, sonst wären ihm Wasser und Strom längst abgestellt worden.

    Er hatte ja versucht, all das zu verhindern, doch sein Gespräch mit dem Filialleiter der »Sparbank Ostfriesland« in Jever war eine einzige Katastrophe gewesen. Der überhebliche Banker hatte Oves Versuch, eine Stundung seiner Kreditraten zu erreichen, eiskalt abgeblockt. Ove sah es noch vor sich, wie der Banker unnahbar in seinem teuren Ledersessel saß und von oben herab mit ihm sprach: »Mein lieber Herr Tammen!«

    Allein diese Anrede des neuen Filialleiters war eine in Freundlichkeit gegossene Beleidigung.

    »Sie sind bankrott, pleite, am Ende! Ich verstehe überhaupt nicht, wie mein Vorgänger Ihnen Kredite in einer solchen Höhe bewilligen konnte. Kleine Bauernhöfe, so wie Sie einen betreiben, sind heute nicht mehr überlebensfähig. Das ist nicht nur meine ganz persönliche Meinung, sondern die unseres Hauses. Auch Ihre Ferienhofpläne, völlig abstrus. Finden Sie sich damit ab! Von uns bekommen Sie keinen Cent mehr! Sie zahlen den Kredit zurück, oder der Hof gehört uns!«

    Der Mann sagte das ohne jeden Anflug von Mitgefühl. Dann wandte er sich seinen Akten zu, die auf seinem Schreibtisch lagen, und ließ sein Gegenüber wie einen dummen Jungen sitzen.

    Ove Tammen war nicht der Mann, der sich gegen eine solche Erniedrigung wehren konnte. Er war leise aufgestanden und hatte schweigend die Bank verlassen. Der Brief, der jetzt in seinem Postkasten lag, war gewissermaßen das Protokoll ihres Gesprächs und somit das Todesurteil für seinen Hof. Alle Kredite mussten innerhalb von vierzehn Tagen abgelöst werden, ansonsten drohte die Zwangsversteigerung.

    Ove holte den Brief aus dem Postkasten und legte ihn ungeöffnet auf den Küchentisch. Wozu auch öffnen? Ihm war ja klar, was darin stand. Das Urteil war gefällt, er hatte alles vermasselt.

    Dass er kein talentierter Landwirt war, wusste er selbst. Alle Versuche, ein zweites wirtschaftliches Standbein zu errichten, endeten desaströs. Zuletzt war sein Plan, einen Ferien-Ponyhof für Kinder aufzubauen, krachend gescheitert. Und dann war da noch seine Frau, die einen Lebensstil für sich beanspruchte, den er ihr nicht bieten konnte, und die sich deshalb anderen, erfolgreicheren Männern zugewandt hatte. Mit gepackten Koffern hatte sie vor ihm gestanden und ihn gedemütigt. Nun war Anna aus seinem Leben verschwunden. Ove war ein herzensguter, aber auch naiver Mensch, der zu lange die Augen vor dem Unwetter verschlossen hatte, das sich unaufhaltsam über seinem Kopf zusammenbraute. Jetzt raste der Gewittersturm über ihn hinweg und ließ sich durch nichts mehr aufhalten.

    Er stand schwerfällig auf, holte eine Flasche billigen Korns aus dem Kühlschrank, setzte sich wieder an den Tisch und leerte die Flasche in einem Zug bis zur Hälfte. Der Alkohol lief brennend durch seine Speiseröhre und löste Übelkeit aus, als er den Magen erreichte. Trotzdem nahm Ove noch einmal einen großen Schluck. Dann stand er auf und ging mit schleppendem Schritt in das Wohnzimmer. Auf dem Regal an der Wand stand ein Foto seiner Frau. Er starrte das Bild eine Ewigkeit lang an, und ihm wurde wieder einmal bewusst, wie schön Anna war. Eigentlich hatte er nie verstanden, warum sie ausgerechnet ihn ausgewählt hatte. Vielleicht hätte er wissen müssen, dass diese extravagante, egoistische Frau ihm all das nicht geben wollte, wonach er sich sehnte: Wärme, Nähe, Kinder, Vertrauen. Es gab viele andere, die ihn um diese Frau beneideten, und er ahnte, dass sie ihn nur aus einer Laune heraus geheiratet hatte, doch das war nun alles Vergangenheit.

    Er stellte das Bild nachdenklich auf seinen Platz zurück, doch dann verzerrte sich sein Gesichtsausdruck. Er zögerte einen Augenblick, nahm es wieder in die Hand und schleuderte es mit einem Wutschrei in die Ecke. Wie über sich selbst erschrocken schossen ihm Tränen in die Augen, und er fasste einen Entschluss.

    Schwankend schleppte er sich zur Scheune. Er hatte an diesem Tage wieder einmal nichts gegessen, und so zeigte der Alkohol nun ungebremst seine Wirkung. Dass der Wind ihm den Regen in das Gesicht peitschte, war ihm gleichgültig. Als er in das Dunkel der Scheune trat, in der sich zu besseren Zeiten Heu und Stroh bis dicht unter die Decke gestapelt hatten, verzichtete er darauf, das Licht einzuschalten. Er wusste auch so, wo der Strick lag, den er jetzt benötigte.

    Ove knüpfte ungeschickt eine Schlinge, legte sie sich um den Hals und nahm den wurmstichigen Holzhocker, der schon immer dort in der Ecke stand. Er hatte Mühe, den Hocker zu besteigen, denn der Alkohol machte es ihm schwer, das Gleichgewicht zu halten. Nun ergriff er das Ende des Seils, doch erst beim dritten Versuch gelang es ihm, den Strick über den Stützbalken zu werfen. Als er das Seil verknotete, konnte er kaum noch richtig sehen. Die Tränen in seinen Augen und die sich von Minute zu Minute weiter verstärkende Wirkung des Korns verschleierten seinen Blick immer mehr. Irgendwann war der Knoten mehr schlecht als recht geknüpft.

    Ove atmete tief durch und zögerte einen Moment. Noch konnte er den Weg, den er im Begriff war zu beschreiten, wieder verlassen, doch dann stieß er den Schemel mit dem Fuß zur Seite und ließ sich fallen.

    Neue Zeit, neuer Ort

    Der Lüfter des Computers brauste noch einmal hörbar auf, dann wurde er immer leiser, und das Bild auf dem Monitor erlosch. Es war ein recht ereignisloser Tag gewesen, und der bevorstehende Feierabend erschien Stine Lessing wie eine Erlösung. Der Stuhl vor dem Schreibtisch ihr gegenüber war seit dem Mittag unbesetzt, denn Stefan Grote hatte schon früh die Dienststelle verlassen, um zu Hause den Geburtstag seiner Zwillinge zu feiern.

    Stine goss den letzten Kaffeerest in ihren übergroßen Becher und kippte noch einen kräftigen Schuss Milch dazu. Seit gut einem halben Jahr war die Polizeiinspektion Aurich ihre neue dienstliche Heimat. Obwohl sich ihre Dienststelle mitten in Ostfriesland befand, blieb sie ihrem Kaffee treu, denn an den herben Tee, der hier ihrem Gefühl nach eimerweise getrunken wurde, konnte sie sich einfach nicht gewöhnen. Sie hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen, sondern genoss die Stille des Raumes und setzte sich auf die Fensterbank, um den heißen Kaffee zu genießen. Entspannt ließ sie ihren Oberkörper zurücksinken, um sich am Fensterrahmen anzulehnen, stöhnte aber im selben Moment auf, denn ein kurzer, schneidender Schmerz durchzog sie. Die große Narbe auf ihrem Rücken wollte einfach keine Ruhe geben, besonders dann nicht, wenn das Wetter wechselte. Ihr Blick schweifte über den Schlackeplatz hinter dem Polizeigebäude, der den Polizisten als Parkplatz diente. Dann ging er über die angrenzenden Gärten bis hinauf zum Himmel. Es war noch gar nicht so lange her, dass eine wochenlang brütende Hitze den Norden ausgedörrt hatte. Schon im August begannen die erschöpften Bäume, ihr Laub abzuwerfen. Und nun stand plötzlich der Herbst vor der Tür.

    »Genau wie damals, genauso grau und ungemütlich!«, murmelte sie leise vor sich hin und pustete steil nach oben, um ihre roten Haare von der Stirn zu vertreiben. Sie hatte sich an die Widerspenstigkeit ihrer Haare gewöhnt, auch wenn es nervte, weil sie ihr, wie so oft, vorwitzig vor die Augen fielen. Die auffällige, rot leuchtende Bobfrisur war an der neuen Dienststelle schnell ihr Markenzeichen geworden. Lächelnd erinnerte sie sich daran, dass eines Morgens neben der Tür ihres Büros ein Zettel hing, den irgendein Spaßvogel zuvor angebracht hatte:

    »Meister Eder und sein Pumuckl« stand plötzlich neben ihrem und Stefan Grotes Namen. Grote hatte sich darüber geärgert und wollte die Notiz entfernen, doch Stine konnte das verhindern.

    »Bleib entspannt, Stefan, was glaubst du denn, wie man mich früher in der Schule genannt hat? Etwa Blondie?«

    Dann ging sie unter den Augen der grinsenden Kollegen lächelnd auf den Flur und überarbeitete den Zettel mit einem roten Filzstift.

    »Hauptkommissar Grote und sein Pumuckl« stand fortan dort, und Stine Lessing hatte die Lacher auf ihrer Seite. Das Schild war inzwischen fester Bestandteil ihres Türschilds und niemand wäre auf die Idee gekommen, es wieder abzunehmen.

    Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht, und sie wurde wieder ernster. Immer wenn der Himmel wolkenverhangen und drohend wirkte, stiegen in ihr wieder die Bilder des letzten Herbstes auf. Da waren die Ermittlungen in der Mordserie, die sie damals vor sich her getrieben hatten. Die Fahrten mit Stefan Grote quer durch Ostfriesland liefen vor ihrem inneren Auge ab, sogar an die letzten Minuten auf Juist konnte sie sich erinnern. Doch dann war da ein großes, schwarzes Loch. Die verhängnisvolle Sturmbö, die sie beinahe in den Tod stieß - alles restlos ausgelöscht. Wie war es möglich, dass ein Teil des eigenen Lebens einfach so verschwinden konnte, ohne Spuren im Kopf zu hinterlassen? Es schien ihr unbegreiflich.

    Die nächste Situation, an die sie wieder eine verschwommene Erinnerung hatte, war, wie die junge Ärztin im Nordwestkrankenhaus Sanderbusch, die kaum älter war als sie, lächelnd ihre Hand hielt, als sie aus dem künstlichen Koma erwachte.

    »Herzlich willkommen im Leben, Frau Lessing«, waren ihre ersten Worte gewesen. Dann brachte die Ärztin ihr schonend bei, dass man sie zwei Wochen lang in einem künstlichen Koma belassen hatte, um ihrem Körper zu helfen, die schwere Operation zu verkraften.

    Die Ärztin hatte ein makabres Talent, Stine unterhaltsam beizubringen, wie dicht der Tod an ihr vorbeigestrichen war. »Ich vermute mal, dass all Ihre Schutzengel gerade auf Juist Herbsturlaub gemacht haben, als man Ihnen versehentlich den Blattschuss verpasst hat.« Dabei musste sie über ihren eigenen Scherz kichern.

    »Zumindest waren sie alle pünktlich zur Stelle, als Sie jeden Einzelnen von ihnen dringend benötigten. Natürlich hat auch der Inselarzt mitgeholfen. Sie hatten Glück, denn Dr. Lange war als junger Assistenzarzt häufig als Notarzt unterwegs und weiß, wie man den letzten Funken Leben in einem halbtoten Menschen am Glimmen halten kann. Und dann war da noch der brillante Chirurg, der Ihre Lunge wieder zusammengeflickt hat und es schaffte, die Blutung der handtellergroßen Austrittswunde zu stoppen. Ganz abgesehen davon, dass die Kugel Ihr Herz nur um einen Zentimeter verfehlt hat. Alles in allem: Sie sind ein Glückspilz!«

    Nun ja, wie ein Glückspilz hatte Stine Lessing sich in den Wochen und Monaten nach der Operation wahrlich nicht gefühlt. Selbst während ihrer Kur in der muffig riechenden, altertümlichen Rehaklinik im Harz verspürte sie immer wieder Schmerzen. Jede Treppe empfand sie als Herausforderung, und das Atmen fiel ihr anfänglich so schwer, dass sie fast verzweifelt wäre.

    Und dann stand eines Tages Stefan Grote, ihr ehemaliger Chef, in der überfüllten Cafeteria der Kurklinik vor ihr. Er hatte sein Erscheinen nicht angekündigt, und Stine Lessing erinnerte sich noch genau daran, wie sie ihn überrascht mit »Herr Grote« angesprochen hatte. Grote hatte nur das Gesicht verzogen und den Kopf geschüttelt: »Die Ärzte sagten mir, dass du inzwischen wieder ziemlich fit bist. Deshalb solltest du dich eigentlich daran erinnern, Stine, dass wir beide schon lange beim »Du« waren.«

    Erst nach der zweiten Tasse Kaffee hatte Grote begonnen, von den Entwicklungen der vergangenen Monate zu berichten. Dass er als Leiter der Mordkommission des Landeskriminalamtes abgelöst worden war und man ihm eine Stelle als Sonderermittler bei der Polizeiinspektion Aurich angeboten hatte. Er sollte in seiner neuen Funktion immer dann eingeschaltet werden, wenn Kriminalfälle zugleich mehrere Dienststellen tangierten oder von besonderer Qualität waren, losgelöst von den üblichen Zuständigkeiten.

    »Eigentlich fast alles so wie früher bei der Mordkommission des Landeskriminalamtes in Hannover, nur eine Nummer kleiner.« Grote hatte sich ein gequältes Lächeln abgerungen: »Ich habe mich entschlossen, die Stelle anzunehmen und mit meiner Familie von Hannover wegzuziehen. Wir hatten dort zuletzt eine schwere Zeit, das kannst du mir glauben, in Hannover hält uns nichts mehr.«

    Er machte eine Pause, als suche er nach Worten.

    »Ich habe dich damals in Sanderbusch besuchen wollen, aber du lagst noch im Koma, das wusste ich nicht. Einige Zeit später war ich noch einmal dort, doch du hattest gerade Besuch von deinen Eltern und ich wusste nicht, wie sie«, er zögerte erneut, »oder wie du auf mein Erscheinen reagieren würdest.«

    Dann, völlig unerwartet, war die Frage gekommen, auf die Stine nicht vorbereitet gewesen war, und die ihr Leben in eine andere Bahn gelenkt hatte.

    »Genaugenommen handelt es sich in Aurich um zwei Stellen, darum möchte ich dich fragen, ob du dir vorstellen kannst, ebenfalls dorthin zu gehen?«

    Stine sagte damals, ohne richtig nachzudenken, »Ja« und in Stefan Grotes Augen konnte sie lesen, wie sehr er sich darüber freute. Rückblickend betrachtet hatte sie sich von den Ereignissen überrollen lassen und nicht bedacht, dass sie damit ihre kleine Wohnung in Hannover aufgeben musste und gewiss einen Teil ihres Freundeskreises

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1