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Johannismord. Ostfrieslandkrimi
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eBook265 Seiten3 Stunden

Johannismord. Ostfrieslandkrimi

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Über dieses E-Book

"Sehr geehrter Herr Grote. Wenn Sie dies lesen, weile ich nicht mehr unter den Lebenden!"
Eine äußerst makabre Botschaft trifft bei den Kommissaren Stefan Grote und Stine Lessing in Aurich ein. Der kürzlich verstorbene »Johannismörder« Hajo Alsen erklärt in einem Brief, unschuldig am Tod seiner Partnerin zu sein, und bittet Stefan Grote, der bei seiner Verhaftung dabei war, den Fall wieder aufzunehmen, um den wahren Täter zu ermitteln. Dann behauptet er auch noch, dass es nicht bei einem Mord in Harlesiel geblieben ist. Nach anfänglichem Zögern lässt Grote sich von Stine schließlich dazu überreden. Kaum dass sie die Arbeit aufgenommen haben, überschlagen sich bereits die Ereignisse. Ein tragischer Todesfall erweist sich als Mord und ein ostfriesisches Bauernhaus im geht in Flammen auf. Der einzige Hinweis auf den Täter ist die verschwommene Kameraaufnahme eines Mannes mit einem Gehfehler. Eigentlich ein guter Ermittlungsansatz – doch die Suche nach dem »Hinkebein«“ scheint eine unlösbare Aufgabe zu sein. Bald merken die Kommissare, dass hinter den ganzen Vorgängen eine Gruppe skrupelloser Menschen steckt, die entschlossen sind, ihre Ziele mit allen Mitteln zu verwirklichen …
SpracheDeutsch
HerausgeberKlarant
Erscheinungsdatum7. Feb. 2023
ISBN9783965867291
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    Buchvorschau

    Johannismord. Ostfrieslandkrimi - Hans-Rainer Riekers

    Der Brief

    Zum ersten Mal in diesem Jahr stand das Fenster des Büros sperrangelweit offen und ließ Vogelgezwitscher herein, als Grote am Montagmorgen das Dienstzimmer betrat. Obwohl er nach dem Jogginglauf zum Dienst frisch geduscht und von dem herb-männlichen Duft seines Deos umgeben war, konnte er gegen die Frühlingsgerüche nicht ankommen. Stine hatte frischen Kaffee gekocht und einen bunten Tulpenstrauß auf ihren Schreibtisch gestellt, der von der Sonne angestrahlt wurde. Zudem hatte sie sich herausgeputzt, als wolle sie dem Winter ein für alle Mal Ade sagen. Die Absätze ihrer Schuhe waren wie so häufig schwindelerregend, und ihr lindgrüner Hosenanzug schien mit dem Blumenstrauß im Wettstreit zu liegen.

    Einen unübersehbaren Sonnenbrand konnte sie auch mit Schminke nicht kaschieren, denn am gestrigen Sonntag war sie mit den Studenten der benachbarten WG nach Norddeich gefahren. Der erste warme Sonnentag dieses Jahres hatte förmlich nach Wasser, Strandkorb und abendlichem Grillen geschrien.

    »Ach, Chef, was für ein Wochenende! Von mir aus könnte es bis zum Herbst so bleiben.« Mit diesen Worten schenkte sie Kaffee ein, blickte Grote an und strahlte dabei, als wolle sie der Sonne Konkurrenz machen.

    Grote bemerkte mit gerunzelter Stirn: »Mir scheint allerdings, als ob du im Überschwang deiner Frühlingsgefühle die Sonnencreme vergessen hast.« Dann schob er mit einem kritischen Unterton nach: »Sonnencreme solltest du auch jetzt auftragen, denn mit den Absätzen, die du gerade trägst, bist du der Sonne verdammt nahe!«

    Stine ließ sich von den Worten ihres Vorgesetzten nicht die Laune verderben. »Wenn der Frühling ins Land zieht, wäre es eine Beleidigung der Natur, nicht einzustimmen in ihr Jauchzen.« Das sagte schon John Milton.«

    Grote lächelte und musste sich geschlagen geben. Gegen Stines unerschöpflichen Fundus an Zitaten kam er nicht an. »Lässt der Frühling es trotzdem zu, dass wir uns der Arbeit zuwenden?«

    »Ich hab den Computer bereits gecheckt, Chef. Für uns ist nichts dabei. Wir könnten uns also in aller Ruhe damit beschäftigen, endlich einmal wieder Ordnung in unsere Ablage zu bringen. In den letzten Wochen haben wir dort einiges schleifen lassen.« Während sie das sagte, blickte sie ihren Kollegen streng mit einer hochgezogenen Augenbraue an.

    Grote zuckte zusammen und rang nach einer glaubwürdigen Ausrede, um sich dieser unangenehmen Aufgabe zu entziehen, doch etwas Schlüssiges fiel ihm auf die Schnelle nicht ein. Im Moment hatten sie nichts, aber auch gar nichts auf dem Zettel, was als Vorwand dienen konnte. Also fügte er sich, grollte leise vor sich hin und verrichtete nach Stines Anweisung Büroarbeiten, die er hasste wie nichts anderes. Die Erlösung von dieser Pein kam unverhofft. Mitten am Vormittag klopfte ein verschwitzter, unter Zeitdruck stehender junger Kurierfahrer an die Tür, dessen Leidensmiene sich sofort aufhellte, als Stine öffnete. »Ich habe einen Brief für Herrn Hauptkommissar Grote!« Ihm blieben nur wenige Sekunden, um einen anerkennenden Blick auf die attraktive Polizistin zu werfen, dann musste er sich wieder auf den Weg machen. Zeit, um einen Flirt zu wagen, hatte er nicht.

    Stine legte Grote den Umschlag auf den Schreibtisch und sah dann, dass ihr Chef den Brief unschlüssig hin und her drehte. Fast war es so, als ahnte er, dass der Inhalt ihn und Stine auf eine Reise schicken würde, dessen Ende unabsehbar war. »Anwaltskanzlei Grunert aus Oldenburg«, murmelte Grote schulterzuckend. »Kenn ich nicht!« Dann griff er zum Brieföffner, schlitzte das große Kuvert elegant auf und holte ein kleineres heraus, an das ein Anschreiben des Anwalts geheftet war. Laut las er vor:

    »Pflichtgemäß leite ich das Schreiben meines Mandanten Hajo Alsen, wie von ihm vor seinem Tode verfügt, an Sie weiter.«

    Dann folgte das übliche »Mit freundlichen Grüßen« und eine unleserliche i. A. Unterschrift. Grote schüttelte den Kopf. »Alsen? Nie gehört, der Name sagt mir nichts.« Weiter unten war noch handschriftlich nachgetragen worden: Trauerfeier am kommenden Mittwoch, 10 Uhr, Deichkirche Carolinensiel.

    Grote öffnete den kleinen Umschlag, der weder Anschrift noch Absender trug, las einige Sätze und stutzte. Dann schüttelte er erneut den Kopf. »Hör dir mal diesen Unsinn an, Stine:

    Sehr geehrter Herr Grote!

    Wenn Sie diesen Brief lesen, weile ich nicht mehr unter den Lebenden, denn der Krebs wird mich aufgefressen haben. Das tat er immerhin so langsam, dass ich genug Zeit hatte, um nachzudenken.

    Mein Name ist Hajo Alsen aus Friedrichsgroden, einer Ansammlung weniger Häuser am Rande von Harlesiel. Sie werden lange auf der Landkarte suchen müssen, um diesen Ort und das Haus zu finden, in dem ich einmal wohnte.

    Ich könnte mir gut vorstellen, dass Sie sich gar nicht mehr an mich erinnern. Unsere Begegnung liegt einige Jahre zurück und war nur kurzer Natur. Sie endete damit, dass wir in Esens aufeinandertrafen und Sie mich mit einem Faustschlag niederstreckten. Das nehme ich Ihnen keineswegs krumm, schließlich war es Ihre Aufgabe als MEK-Beamter, mich, den vermeintlichen Mörder, dingfest zu machen.

    Sie sind mir nicht deshalb in Erinnerung geblieben, weil Sie mich niederschlugen, sondern deshalb, weil Sie mich im Gegensatz zu allen anderen Polizisten, Staatsanwälten und Richtern als Mensch behandelt haben. Sie gaben mir sogar Ihr Taschentuch, um mein Nasenbluten zu stillen, und waren auch weiterhin sehr anständig zu mir. Aber auch das werden Sie inzwischen wohl vergessen haben.«

    Grote machte eine Pause und starrte nachdenklich vor sich hin. »Doch, langsam entsinne ich mich.« Er zögerte noch einen Moment, dann las er weiter:

    »Ich wurde vor Gericht wegen Mordes an meiner Frau Enna zu einer Freiheitsstrafe von 12 Jahren verurteilt. Zwar habe ich bis zuletzt meine Unschuld beteuert, doch interessiert hat das niemanden, denn alles sprach gegen mich. Die Hoffnung, nach der Haftentlassung für den Beweis meiner Unschuld kämpfen zu können, hat die Krankheit zerstört. Andererseits bin ich dem Krebs dankbar, schließlich sorgte er dafür, dass ich statt 12 nicht einmal 3 Jahre in Gefangenschaft verbringen musste. Nun erlange ich meine Freiheit wieder, wenn auch anders als erhofft.

    Während meines Gefängnisaufenthalts hatte ich genug Muße, Ihren weiteren beruflichen Weg zu verfolgen. Das war einfach, denn Ihr Name tauchte von Zeit zu Zeit in der Presse auf und ließ mich an Ihrem Aufstieg teilhaben. Wie ich las, gab es kurz nach unserem Zusammentreffen eine kleine Delle in Ihrer Karriere, doch jetzt scheinen Sie erfolgreich in Ostfriesland, meiner Heimat, Fuß gefasst zu haben. Dieser Umstand hat mich darin bestärkt, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen.

    Kurzum, ich dachte mir, dass es vielleicht Sie überzeugt, wenn ich nach meinem Tod noch einmal meine Unschuld beteure. Es gibt nichts, was ich anderen Menschen noch zu beweisen hätte oder klarstellen müsste, denn ich würde davon nicht mehr profitieren. Es ist schlichtweg zu spät. Trotzdem ist es mir nicht gleichgültig, welches Bild die Menschen von mir behalten.

    Um Ihnen einen Anstoß zu geben, diesen Fall noch einmal aufzurollen, lade ich Sie recht herzlich zu meiner Beerdigungsfeier ein. Deren Termin kann ich Ihnen naturgemäß nicht nennen, doch der Anwalt wird Ort und Termin auf seinem Anschreiben vermerkt haben. Die Teilnahme an dieser Veranstaltung könnte für Sie von Interesse sein, denn es spricht vieles dafür, dass sich der wahre Mörder, für den ich unschuldig im Gefängnis saß, unter den Trauergästen befindet. Schließlich muss er mir sehr nahegestanden haben, um mir einen Mord so perfekt unterschieben zu können. Übrigens, Herr Grote, bevor ich es vergesse: Es ist vermutlich nicht bei diesem einen Mord geblieben.

    Mit freundlichen Grüßen, Hajo Alsen

    PS: Entschuldigen Sie bitte meine Schrift, doch ich schreibe unter Schmerzen und fühle, dass mir die Zeit knapp wird.«

    Grote legte den Brief auf den Tisch, starrte Stine ungläubig an und schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Der Bursche ist doch nicht ganz richtig im Kopf. Man nannte ihn damals den ›Johannismörder‹. Es war eine ebenso ungewöhnliche wie unspektakuläre Festnahme. Er lief mir nämlich unvermittelt über den Weg. Weil es hieß, er sei womöglich bewaffnet, habe ich nicht lange gefackelt.«

    »Und wie kam es zu dem Namen ›Johannismörder‹? Das klingt so geheimnisvoll.« Stine schaute Grote fragend an.

    »Alsens Frau wurde in der Nacht zum Johannistag ermordet, also in der Johannisnacht. Die Medien haben diesen Begriff erfunden, warum auch immer. Die Leute mögen ja plakative Begriffe.«

    Während Grote den Brief noch unschlüssig hin und her drehte, gingen Stine viele Gedanken durch den Kopf. Die freundliche, geradezu sanfte Art, in der dieser Brief verfasst worden war, irritierte und berührte sie zugleich. Schrieb so ein Mörder? Was, wenn der Mann tatsächlich unschuldig war? Nicht auszudenken.

    »Ich glaube nicht, dass ich zu dieser Beerdigung gehen will«, brummte Grote. »Manchmal muss man alte Dinge einfach ruhen lassen. Zudem habe ich mir nichts vorzuwerfen, und wer weiß, ob der Mann wirklich unschuldig ist oder nach seinem Ableben einfach nur Unruhe stiften und ins Gespräch kommen will. Es gibt solche Spinner!«

    Stine nickte: »Ja, die gibt es. Aber mich trifft dieser Brief ins Herz.« Sie nahm Grote das Schreiben aus der Hand und schaute auf die Schrift. Sie war klein und sehr regelmäßig, fiel jedoch zum Ende ab, als wenn dem Schreiber die Konzentration gefehlt hätte. »Wenn Alsen die Wahrheit schreibt, bist du, Stefan, seine letzte Chance, um ihn zu rehabilitieren. Auch wenn er selbst nichts mehr davon hat. Es mag schließlich irgendwo noch Menschen geben, für die das von Bedeutung wäre. Vielleicht liegt ihm deshalb daran, selbst nach seinem Tod.«

    Stine merkte, dass Grote wenig Lust verspürte, sich weiterhin mit Alsens Brief zu beschäftigen. Sie hegte sogar Verständnis dafür, schließlich hatte ihr Chef, abgesehen von der Festnahme, die er damals im Auftrage der ermittelnden Staatsanwaltschaft durchgeführt hatte, mit diesem Fall rein gar nichts zu tun gehabt. Er war weder verantwortlich für die Art, wie man mit diesem Mann umgegangen war, noch für den Gang des Verfahrens und die Umstände seiner Verurteilung.

    Mit den Worten »Ich komme zu diesem Brief wie die Jungfrau zum Kind. Aber ich habe schon zwei Kinder, also ist die Sache für mich erledigt« wandte sich Grote wieder der ungeliebten Ablage zu. Als Stine jedoch auf diese Bemerkung nicht antwortete und einfach so tat, als habe sie ihn nicht gehört, hätte Grote mit ein wenig Feingefühl ahnen müssen, dass sich etwas anbahnte. Mochte Hajo Alsens Brief seiner Meinung nach in den Papierkorb gehören, Stine sah diese Angelegenheit anders.

    Der Rest des Tages war, wie auch der nächste Tag, von Bürotätigkeiten dominiert, denen Grote sich gelegentlich zu entziehen suchte, was Stine jedoch mit unerbittlicher Härte und Geschick zu verhindern wusste. Dabei tauchte, wie von Zauberhand, immer wieder Alsens Brief vor Grote auf. Mal fand er ihn neben der Kaffeemaschine, mal auf seinem Schreibtisch. Einmal wurde er ungehalten und zerknüllte den Brief, doch Stine holte ihn heimlich aus dem Papiermüll heraus, und zum Feierabend fand Grote ihn sorgsam geglättet in dem Schrank wieder, in dem er seine Sportschuhe abgestellt hatte. Selbst auf seinem abendlichen Jogginglauf nach Hause würde ihn Hajo Alsen verfolgen.

    Er blickte Stine mit zusammengekniffenen Augen an, doch Stine tat so, als bemerkte sie es nicht, und als er schroff »Schönen Feierabend« murmelte und genervt das Büro verließ, grinste Stine frech. Sie wusste, dass sie im Begriff war, ihren Chef weichzuklopfen.

    »Steter Tropfen höhlt den Stein!«, sagte sie gut gelaunt, rief bei der Staatsanwaltschaft in Oldenburg an und ließ sich vorsorglich die Aktennummer des Mordfalls Hajo Alsen geben. Sie würden diese Akten schon bald benötigen, das wusste sie genau.

    Trauerfeier

    Als Grote am nächsten Morgen das Dienstzimmer betrat, erkannte Stine sofort, dass ihr »Psychoterror«, wie er es bezeichnet hätte, erfolgreich gewesen war. Grote trug, anders als sonst üblich, eine dunkle Hose und eine dunkle Jacke, kurzum: angemessene Kleidung, um an einer Trauerfeier teilzunehmen. Auch Stine hatte ihrem Frühlingslook eine Pause verordnet und ebenfalls gedeckte Farben gewählt. So standen sich die beiden wortlos gegenüber und fixierten einander wie zwei Revolverhelden vor dem Duell. »Du Nervensäge warst dir wohl ziemlich siegessicher, oder irre ich mich?« Dabei deutete Grote mit den Händen eine Bewegung an, als wollte er sie erwürgen.

    Stine lächelte verschmitzt und erwiderte sanft, um Grote nicht zu demütigen: »Sagen wir es mal so, Stefan: Ich habe es nicht gewusst, aber erhofft, dass du dich entschließen würdest, diesen außergewöhnlichen Termin wahrzunehmen.«

    Grote fluchte laut vor sich hin und spielte den Wütenden: »Du und meine Frau Anna, ihr habt erschreckend viel gemeinsam. Eure Beharrlichkeit kann einen Mann fertigmachen!«

    »Mag schon sein, Anna ist schließlich eine kluge Frau, sonst hättest du sie nicht geheiratet.« Dann schlenkerte Stine kess mit den Autoschlüsseln: »Wollen wir los? Der Wagen steht schon vor der Tür. Es wird allmählich Zeit.«

    Bei ihrer Ankunft in Carolinensiel hatten sie das seltene Glück, ganz in der Nähe der Kirche einen freien Parkplatz zu finden. Da sie gut durchgekommen waren, blieben noch einige Minuten Zeit, also schlenderten sie die Straße entlang und nahmen das alte Gemäuer in Augenschein. Das Hauptgebäude sowie der abseitsstehende Glockenturm waren rot geklinkert und unscheinbar. Rundherum war der Friedhof angelegt. Grote seufzte gequält und drehte sein Gesicht in die aus einem tiefblauen Himmel scheinende Sonne, um die Wärme auf der Haut zu spüren. »Es ist eine Schande, bei diesem herrlichen Wetter freiwillig an einer Trauerfeier teilzunehmen!«

    Mit den Worten »Nur nicht weich werden, Chef!« schob Stine ihn sachte zum Eingang der Kirche. Als sie den kühlen Innenraum betraten, wurden sie von einem Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens begrüßt und zu einem Tisch mit der darauf liegenden Kondolenzliste geführt. Das oberste Blatt war noch unbeschrieben, und es sah nicht so aus, als wenn noch weitere Blätter benötigt würden. Also waren sie die ersten und vielleicht auch einzigen Trauergäste. Grote schüttelte unwillig den Kopf und ging einfach weiter. Er war nicht als Trauernder hier, sondern gewissermaßen dienstlich, dazu noch unter, wenn auch sanftem, Druck. Wozu sich dann dort eintragen?

    Stine hingegen schrieb ihre beiden Namen hinein. Für sie war es eine Sache des Respekts, unbeschadet der Frage, ob und was der Mann getan hatte, dessen von der Morgensonne beschienenen Sarg sie schon sehen konnte. Dann folgte sie ihrem Chef mit schnellen Schritten.

    Grote hatte bereits im hinteren Drittel, gleich am Mittelgang Platz genommen, und Stine setzte sich zu ihm. Wie erwartet waren sie die ersten und, wie Grote meinte, wohl auch die einzigen Besucher. Das änderte sich jedoch nach einigen Minuten, denn nun traten vereinzelt Trauergäste ein und nahmen, von den beiden Polizisten kritisch beäugt, schweigend vor ihnen Platz. Dann wurde es wieder still um sie herum. Eine gefühlte Ewigkeit saßen sie in dieser schlichten, aber dennoch beeindruckenden, von kräftigen roten, blauen und weißen Farben dominierten Kirche. Außengeräusche drangen nur gedämpft zu ihnen vor, was ihnen das Gefühl gab, vom Leben um sie herum abgeschnitten zu sein. Der an der Stirnseite der Kirche aufgestellte Sarg war nur von wenigen Blumengestecken umrahmt, keines davon trug eine Schleife mit Aufdruck. Obwohl sich das Bestattungsunternehmen Mühe gegeben und mit Arrangements aus Plastikblumen die Tristesse zu kaschieren versuchte, blieb die Atmosphäre kalt und lieblos. Das Glockengeläut verstummte nun, und leises Orgelspiel erklang. Grote schaute ungeduldig auf seine Armbanduhr. »Noch fünf Minuten und außer uns sind nur drei alte Frauen hier. Ich habe es doch geahnt, das Ganze ist eine Farce. Lass uns wieder gehen!«

    Er wollte sich bereits erheben, doch Stine zog ihn wieder herunter, denn in diesem Moment erschienen doch noch einige Trauergäste. Sie hatten sich wohl draußen im Sonnenschein aufgehalten, und nun traten sie in schneller Folge ein. Stine zählte mit, am Ende waren es außer ihnen 20 Personen, die sich im Raum verteilten. Vorne in der ersten Reihe nahm niemand Platz, die meisten setzten sich möglichst weit nach hinten. Offensichtlich fühlte sich keiner der Anwesenden als enger Angehöriger, dem dieses Privileg zugestanden hätte.

    Bei der Mehrzahl der Trauergäste handelte es sich um ältere Menschen. Doch auch eine Handvoll Männer im mittleren Alter war dabei. Es waren mehr Männer als Frauen gekommen, und die meisten schienen sich untereinander zu kennen, denn sie nickten sich zur Begrüßung zu. Niemand legte Blumen nieder. Lediglich ein älteres Ehepaar ging zum Sarg vor, um sich zu verneigen. Um Familienangehörige schien es sich nicht zu handeln, vermutlich um Nachbarn.

    Die Trauerrede des Pastors war kurz und ungewöhnlich. Er ging nicht auf das Leben des Verstorbenen ein, sondern beließ es bei der Verlesung einiger Bibeltexte, die sich ausschließlich mit den Fragen von Schuld und Sühne beschäftigten.

    Grote blendete sich bereits nach kurzer Zeit aus. Er zahlte zwar immer noch brav seine Kirchensteuer, doch eine echte Bindung zur Religion hatte er nicht. So schaute er durch die bunten Kirchenfenster in den Himmel und hing seinen Gedanken nach. Plötzlich verspürte er einen kräftigen Knuff in die Rippen. Stine mahnte ihn damit zur Aufmerksamkeit, denn der Pastor beendete in diesem Moment seine Predigt mit Worten aus Jeremia, Kapitel 2, 35:

    »Doch du sagst: Ich bin unschuldig, ja, sein Zorn hat sich von mir abgewandt. Siehe, ich werde mit dir vor Gericht treten, weil du sagst: Ich habe nicht gesündigt.«

    Als die Totengräber erschienen und den Sarg aus der Kirche trugen, blieben Grote und Stine noch einige Zeit sitzen. Sie hatten kein Interesse, sich unter die Trauergemeinde zu mischen, sondern wollten sie stattdessen lieber aus gewisser Entfernung betrachten. Der kleine Trauerzug legte in gemessenen Schritten die kurze Entfernung zum Grab zurück, und als Grote und Stine in einigem Abstand folgten, hatte er sein Ziel schon erreicht. Hinter einem Forsythien-Busch, dessen von Blüten übersäte Zweige sich in alle Richtungen streckten, blieben die beiden Polizisten stehen. Stine nutzte die Gelegenheit und schoss trotz schlechten Gewissens unauffällig einige Fotos der Anwesenden, was ihr sehr unangenehm war. »Auf einer Beerdigung sollte man nicht fotografieren, das gehört sich nicht«, ging es ihr durch den Kopf, doch es gab schließlich einen dienstlichen Grund für ihre Anwesenheit.

    Nachdem der Pastor seine letzten Worte gesprochen hatte und der Sarg herabgelassen worden war, nutzte wieder nur das Ehepaar die Gelegenheit, noch einmal am Grab zu verweilen und aus der bereitgestellten Schale Sand in die Gruft zu werfen. Die anderen Gäste hielten sich zurück und vermittelten den Eindruck, mit der Teilnahme an der Beerdigungsfeier lediglich einer unangenehmen Verpflichtung nachgekommen zu sein. Schnell löste sich die Gesellschaft in alle Richtungen auf. Einige blieben noch beieinander stehen, um zu reden. Der übliche Gang zum Leichenschmaus entfiel offensichtlich. Es gab wohl niemanden, der sich verpflichtet gefühlt hätte, anschließend Kaffee und Butterkuchen zu reichen.

    »Das wars dann wohl. Ich wüsste beim besten Willen nicht, welche Erkenntnisse uns dieses Schauspiel geliefert haben sollte.« Grote drängte zur Rückfahrt. Er konnte nach wie vor der ganzen Angelegenheit nichts abgewinnen, doch Stine bestand darauf, wenigstens noch die Kondolenzliste zu fotografieren. Man konnte schließlich nie wissen, wozu das noch einmal gut sein würde.

    Auf dem Weg zum Auto trafen sie auf den Pastor. Er hatte sich inzwischen umgezogen, trug lässige Jeans, Basecap und Sneakers. So erweckte er eher den Eindruck eines Urlaubers als den eines Seelsorgers.

    »Ihre

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