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Urgroßherz: Die Übergescheite
Urgroßherz: Die Übergescheite
Urgroßherz: Die Übergescheite
eBook625 Seiten9 Stunden

Urgroßherz: Die Übergescheite

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Über dieses E-Book

Frühes 20. Jahrhundert: Nach turbulenten Ereignissen in früher Kindheit entwickelt sich Meline unter dem prägenden Einfluss ihres Großvaters Otto zu einer wissbegierigen jungen Frau, der sich vielfältige Möglichkeiten der Weiterentwicklung eröffnen könnten. Die Zeichen der Zeit scheinen für Meline zu sprechen, denn die Universität in Gießen, die sich in erreichbarer Nähe zu ihrem Heimatort befindet, hat kurz zuvor ihre Pforten erstmals für Frauen geöffnet.

Im Zielkonflikt zwischen geistiger Selbstverwirklichung seiner Enkelin und den dörflichen Konventionen fällt Otto eine gewichtige Entscheidung: Er macht sich auf die Suche nach einem passenden Mann für Meline und findet nach längerem Suchen Wilhelm, der ihm selbst in vielen Dingen sehr zu ähneln scheint.

Der Tatsache der arrangierten Heirat zum Trotz erkeimt zwischen Meline und Wilhelm eine zarte Pflanze der Liebe. Doch noch vor der Hochzeit trennt der Erste Weltkrieg die beiden.

Der zeitliche Aufschub bringt Meline zum Nachdenken. Ist die Ehe mit Wilhelm tatsächlich das Richtige für sie? Wird Wilhelm von der Front zurückkehren? Wird die noch junge Beziehung den Krieg unbeschadet überstehen?

Kurz vor der geplanten Heirat erscheint unerwartet ein Mann in Melines Leben, der ihr intellektuell ebenbürtig ist und sie mit spielerischer Leichtigkeit für sich zu gewinnen scheint. Gelingt es ihr, mit den traditionellen Konventionen zu brechen, um ein neues Leben zu beginnen?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum24. Feb. 2015
ISBN9783738016390
Urgroßherz: Die Übergescheite

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    Buchvorschau

    Urgroßherz - Thomas Bachmann

    Prolog

    Sie wusste nicht, ob sie erleichtert oder betrübt sein sollte, nachdem sie seinen Brief gelesen hatte. Vielleicht würde ihr Gefühl klarer werden, wenn sie ihn einfach noch ein zweites Mal las. Mit zitternden Händen überflog sie noch einmal die Zeilen, die er ihr geschrieben hatte. 

    Berlin, Sonntag, 21. März 1920

    Meine Liebe,

    ich hoffe, du verzeihst mir, dass ich dir, entgegen unserer Abmachung, trotzdem schreibe. Jedes Mal, wenn ich das Wort ‚trotzdem‘ schreibe, durchfährt mich ein merkwürdiger Schmerz. Ich denke, du erinnerst dich daran, wo er herrührt.

    Ich habe das Zigarrenrauchen übrigens nicht auf Dauer bleiben lassen können und mit meinem Laster wieder angefangen, seitdem wir zuletzt geschrieben haben. Eine schlechte Angewohnheit ist das.

    Sicher ahnst du, dass es einen wichtigen Grund geben muss, dass ich mir die Freiheit herausnehme, mich über das hinwegzusetzen, was du mir zuletzt mitgeteilt hattest. Und den gibt es auch: So wie es aussieht, werde ich im Herbst Vater werden.

    Ich bin stolz, Vater zu werden, doch ich stehe der Sache auch, wie du dir sicher denken kannst, mit gemischten Gefühlen gegenüber. Deine Cousine ist kein einfacher Mensch, wie du ja aus eigener Erfahrung weißt. Aber sie ist die Mutter meines Kindes, so Gott es will.

    Man wird sehen, welche Überraschungen das Leben noch bereithält. Zu all dem, was ich dir im letzten Jahr geschrieben und gesagt habe, stehe ich nach wie vor. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass ich Vater werde. Das wollte ich dich noch einmal wissen lassen.

    Nun wünsche ich dir, dass du immer an das denkst, was du selbst einmal geschrieben hast und was wir beide gerne zitiert haben: Dass du, wann immer sich eine Lücke für dein Glück auftut, mutig und entschlossen hindurchschlüpfst, ehe sie sich wieder schließt.

    Ich wünsche dir einstweilen, bis zu dem Tag, an dem wir uns wiedersehen, alles erdenklich Gute.

    Dein noch immer glühender Verehrer

    Fastsonntagskind

    Trais-Horloff, Sonntag, 30. August 1896

    „Maria? Ist alles in Ordnung mit dir?", legte Otto die Stirn in Falten und sah seine Tochter mit kritischem Blick an.

    „Es ist nichts", log sie. Es war einer jener seltenen Sonntage, an denen ihr Vater zum Nachmittagskaffee zu Besuch gekommen war. Sie hätte sich gewünscht, dass sie sich öfter sahen, doch seine zahlreichen Verpflichtungen als Bürgermeister des Dorfes dünnten seine freie Zeit erheblich aus. Nun, da er zu einem der wenigen Besuche vorbei gekommen war, wollte sie die Zeit auskosten und ihn zudem nicht unnötig beunruhigen. Der ziehende Schmerz, der sie erfasst hatte, war bereits in den vergangenen Tagen mehrfach zu spüren gewesen. Doch diesmal war er stärker als zuvor.

    „Kind, ich kenne dich zu gut, um zu glauben, dass das stimmt", insistierte er und richtete seinen Blick auf ihren Bauch.

    „Es war nur ein leichtes Ziehen. Das hatte ich in den letzten Tagen schon ein paar Mal."

    „Übernimm dich nicht. Du brauchst auf niemanden hier Rücksicht zu nehmen. Vielleicht solltest du dich besser einen Moment hinlegen", sagte er mit fürsorglicher Stimme und sah zu seiner Enkeltochter Christine, die auf dem Schoß ihres Vaters saß und von ihm gefüttert wurde. Otto tauschte kurz einen verstohlenen Blick mit seinem Schwiegersohn aus und nickte ihm fast unmerklich zu.

    „Dein Vater hat Recht, Maria, bestätigte Georg seinen Schwiegervater. „Es ist besser, wenn du auf dich aufpasst. Schließlich geht es auch um das Wohl unseres Kindes.

    „Ich muss es wohl selbst am besten wissen, stöhnte sie im genervten Unterton eines Kindes, das von allen Seiten bevormundet wird. Dennoch erhob sie sich mühsam und warf den beiden Männern einen müden Blick zu. „Ich weiß, dass ihr keine Ruhe geben werdet, ehe ich liege. Und diese Art von Gesprächsthema brauche ich nicht.

    „Ich sehe in einer Viertelstunde nach dir", sagte Georg.

    „Nicht nötig. Es geht mir gut. Ich nehme Christine mit nach oben. Es wäre schön, wenn ihr das Geschirr noch vom Tisch räumt und in die Küche bringt."

    Sie nahm Georg das Kind vom Schoß, verließ das Zimmer und schleppte sich mit schweren Schritten die Treppenstufen hinauf. Als sie auf dem Bett lag, spürte sie, dass es doch keine so schlechte Idee gewesen war, einen Moment zu ruhen. Das Ziehen ließ allmählich nach, und sie schlief mit Christine in ihrem Arm ein.

    Im Erdgeschoss hatten Otto und Georg folgsam den Tisch abgeräumt und saßen nun im Innenhof, um frische Luft zu schnappen und den freien Tag ein wenig zu genießen.

    „Wenn man meine Tochter so reden hört, könnte man meinen, sie will das Kind im Stehen bekommen, sagte Otto trocken und Georg musste lachen. „Jeden Tag kann es soweit sein, Georg. Sie sollte sich daher so weit wie möglich schonen.

    „Ich weiß. Aber je häufiger ich versuche, sie ein wenig zur Ruhe zu bringen, desto mehr besteht sie darauf, dass sie keine Ruhe braucht."

    „Frauen eben. Einige wenige Dinge werden wir Männer wohl nie verstehen, und die Launen der Frauen gehören dazu. Otto hörte die Glocke des Kirchturms schlagen. Vier Uhr. „Ich werde mich bald verabschieden müssen. Mein Schreibtisch wartet auf mich.

    „Lass‘ mich raten: Die Vorbereitungen für übermorgen?"

    „Genau. Der Sedanstag. Alle Jahre wieder." Nachdenklich strich sich Otto durch den gepflegten Vollbart.

    „Das klingt wenig begeistert für den dörflichen Vertreter des Kaisers."

    „Der Tag als solches ist für mich schon bedeutsam, aber ich tue mich mit der Rede trotzdem schwer. Vermutlich liegt es daran, dass ich mich, seit Wilhelm II. unser Kaiser ist, nicht mehr als Vertreter des Kaisers verstehe. Ich sehe mich viel mehr als Vertreter der Gemeinschaft aller, die hier im Dorf wohnen. Mit den heutigen kaiserlichen Werten habe ich nicht viel am Hut. Das war früher anders, aber es waren andere Zeiten, und ein anderer Kaiser."

    Für einen kurzen Augenblick kehrten Ottos Gedanken zurück zu den Anfängen des Kaiserreichs. Er war einer derjenigen gewesen, die den euphorisierenden Sieg gegen die Franzosen hautnah miterlebt hatten. Wenn er an das erhebende Gefühl des Triumphes dachte, überkam ihn noch heute eine Gänsehaut. Doch das, wofür er damals eingestanden war, existierte schon lange nicht mehr.

    „Du wirst dich vor dem Wandel nicht verschließen können, Otto."

    „Ich weiß. Aber ich finde es bedenklich, mit welcher Arglosigkeit und Überheblichkeit unser Kaiser anderen Völkern und Staaten gegenübertritt. Wie heißt es noch gleich? Hochmut kommt vor dem Fall."

    „Das sehe ich genauso wie du. Aber allem Hochmut zum Trotz scheint es dazu nicht zu kommen."

    „Wenn du wüsstest, was in dem Brief steht, der mir ‚im Auftrag Eurer Kaiserlichen Majestät‘ zugestellt wurde. Nur so viel: Ich halte es für unangemessen, das deutsche Volk als Übermenschen darzustellen. Man macht sich wenig Freunde, wenn man sich selbst als etwas Besseres bezeichnet. Das gilt im kleinen Rahmen ebenso wie in der großen Welt der Politik. Deshalb werde ich nicht das sagen, was mir zu sagen aufgetragen wurde."

    „Sondern?"

    „Genau das ist es, worüber ich mir heute Nachmittag noch den Kopf zerbrechen darf. Ich werde versuchen, die alten Werte und das neue Denken irgendwie unter einen Hut zu bringen. Ich möchte meine Mitbürger nicht durch vermeintlich gestriges Denken gegen mich aufbringen, aber auch niemanden zu irgendetwas im Namen des Kaisers anstacheln."

    Otto zog seine Taschenuhr hervor und atmete tief durch. Er hatte wenig Lust, sich mit der Rede zum Sedanstag auseinanderzusetzen, doch was half es? Heute war Sonntag, und nur der Sonntag bot ihm ausreichend Raum zum Nachdenken.

    „Ich muss jetzt gehen, Georg. Mir läuft die Zeit davon. Sieh nach Maria und der Kleinen. Falls sie schlafen, möchte ich sie nicht wecken, nur um mich zu verabschieden. Wir sehen uns dann spätestens übermorgen."

    Georg sah wie geheißen nach seiner Frau und seiner Tochter. Christine lag im Arm ihrer Mutter und schlief wie Maria tief und fest. Offenbar schien die Geburt noch auf sich warten zu lassen.

    Seine Vermutung sollte sich gut zwei Stunden später als falsch erweisen, als Maria die Treppe herunterkam und nach ihrem Mann suchte. Sie fand ihn vor dem Haus, in der Sonne sitzend.

    „Dein Vater lässt dich grüßen", sagte er.

    Sie sah ihn gequält lächelnd an und erwiderte nur: „Es geht los."

    ***

    Die späte Augustsonne warf bereits lange Schatten, als es von außen laut gegen das Tor schlug. Erna erwartete an diesem Sonntag keinen Besuch mehr. Wenn jemand unangekündigt kam, bedeutete der Überraschungsbesuch in der Regel, dass ihre Dienste als Hebamme benötigt wurden.

    Mit den festen Schritten einer Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand, ging sie zum Tor und öffnete es. Es war nicht irgendwer, der Einlass begehrte; vor ihr stand Georg, der Schwiegersohn des Bürgermeisters, und gestikulierte hektisch. Er hätte sich all die Worte sparen können. Sie hatte bereits in seinen Augen lesen können, was der Grund seines Besuchs war. Die Blicke der werdenden Väter, wenn die Geburt eines Kindes unmittelbar bevorstand, erkannte sie sofort.

    „Ich bin gleich da."

    Er hatte sie dabei unterbrochen, wie sie den Hausflur putzte; sie wohnte alleine und arbeitete werktags, sofern sie nicht als Hebamme im Einsatz war, bei der Familie ihres Bruders in der Landwirtschaft mit. So blieb nur der Sonntag, um sich den häuslichen Pflichten zu widmen. Doch damit war für den heutigen Tag Schluss, denn der Tag würde vorüber sein, ehe sie zurückkehren würde. Dessen war sie sich sicher.

    Sie lief ins Haus und packte mit routinierten und eiligen Handgriffen ihre Tasche. Seit über fünfunddreißig Jahren machte sie jene Handgriffe nun schon. Geburten trafen eine Hebamme immer unvorbereitet, denn man konnte nie wissen, wann es soweit sein würde.

    Georg hielt es nicht aus, vor dem Haus auf sie zu warten und folgte ihr, ohne dass sie es bemerkte. Sie fuhr zusammen, als sie ihn im Hausflur stehen sah.

    „Geh raus, Georg! Warte draußen. In ein paar Minuten bin ich da", herrschte sie ihn an.

    Georg sah sie kurz fragend an, als spreche sie eine fremde Sprache und verließ dann das Haus. Man konnte nie vorhersagen, wie sich die Männer dieser ungewohnten Situation verhielten, dachte sie. Oft waren es gerade die vermeintlich härtesten und entschlossensten Männer, die vollkommen konfus umherliefen, da auch sie nichts tun konnten als abzuwarten und zu vertrauen. Obwohl sie tatsächlich kaum mehr als fünf Minuten für das Treffen der Vorbereitungen benötigt hatte, konnte sie an seinem Blick erkennen, dass sich die Zeit des Wartens vor der Tür für ihn wie eine Ewigkeit angefühlt haben musste.

    Als sie gemeinsam mit ihm den Hof verließ und auf die Straße trat, durchfuhr sie ein Gefühl der Erleichterung. Georg schien seine Sinne noch halbwegs beisammen zu haben, denn vor der Tür stand ein Pferdefuhrwerk. Nicht selten kamen die werdenden Väter kopflos zu Fuß zu ihr gerannt. Sie selbst war nicht mehr die Jüngste, und ihre Hebammentasche war ihr in den letzten Jahren zu schwer geworden, um sie ein längeres Stück zu tragen.

    Sie war froh, dass sie mit dem Fuhrwerk wenigstens zwanzig Minuten schneller am Ort des Geschehens sein würden als zu Fuß. Diese zwanzig Minuten konnten unter Umständen, wenn die Geburt schon in einem fortgeschrittenen Stadium war, über Tod oder Leben entscheiden.

    Georg half ihr auf den Kutschbock, sprang dann selbst schwungvoll auf und sah sie an. „Worauf wartest du, Georg?, fragte sie ihn mit hochgezogenen Augenbrauen und wies ihn energisch an: „Was glaubst du, wo wir hinfahren? Fahr los! Mach‘ schon!

    Er ließ die Peitsche auf das Pferd niedersausen und brachte es in einen schnellen Trab. Während der Fahrt tauchten Bilder vergangener Geburten vor ihrem geistigen Auge auf. Sie fanden ein jähes Ende, als die Kutsche im Schlepp des rasenden, schnaubenden Pferdes durch das offene Tor auf Georgs Hof jagte und direkt vor der Haustür zum Stehen kam, so als hätten Kutscher und Pferd den heutigen Einsatz zuvor tausendmal geübt.

    Hastig betraten Georg und Erna das Haus und rannten die Treppe hinauf. Georg riss die Schlafzimmertür auf und sah seine Frau an.

    „Ich habe euch kommen hören. Du warst schnell zurück."

    „Ich weiß nicht. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor."

    Erna kannte das Phänomen. Während das scheinbar endlose Warten vielen Männern zu viel wurde, vergaßen die Frauen oft alles um sich herum, wenn die Wehen einsetzten. Sie warf Georg einen Blick zu.

    „Du hast jetzt getan, was du tun konntest. Geh‘ und sag‘ deinem Schwiegervater Bescheid, dass das Enkelkind auf dem Weg ist. Und nimm deine Tochter mit dorthin. Am besten bleibt ihr dann bei Otto, bis ich euch rufen lasse."

    Georg nickte.

    „Vorher fährst du aber noch zu Lia und sagst ihr, dass sie herkommen soll. Ich könnte eine helfende Hand gebrauchen."

    ***

    Otto war in das Schreiben der Rede vertieft, als es an die Tür seines Arbeitszimmers klopfte. Noch ehe er etwas sagen konnte, wurde sie bereits hektisch aufgerissen.

    „Es ist so weit."

    Otto sah Georg erstaunt an.

    „Maria? Jetzt schon? Aber vorhin…"

    „Das dachte ich auch. Doch dann stand sie auf einmal vor mir und sagte, dass es losgehe. Erna ist bei ihr. Und Lia auch. Erna hat nach ihr verlangt."

    „Nach Lia?"

    „Immerhin ist sie Marias Schwester. Da liegt es doch nahe, dass Erna sie als ihre Helferin dabeihaben will."

    „Und du hast sie hingebracht?"

    „Nein, ich hab‘ nur kurz Bescheid gesagt. Sie meinte, sie brauche meine Hilfe nicht. Sie hat mich mit den Worten weggeschickt, dass sie die drei Schritte gut zu Fuß gehen könne. Also bin ich direkt zu dir gefahren."

    „Und wo ist Christine?"

    „Fritz passt auf sie auf. Lia meinte, Christine könne gut bei ihrer Cousine Anna bleiben und mit ihr spielen, solange Lia bei der Geburt hilft."

    „Dass es jetzt schon losgeht… Konnte es nicht noch zwei oder drei Tage warten?"

    „Maria ist doch eigentlich schon überfällig, Otto."

    „Ich dachte, das Kind käme vielleicht am Sedanstag."

    „Am Sedanstag? Wie kommst du denn darauf?"

    „Es war... Nur so eine Idee."

    Georg sah ihn mit einem verständnislosen Blick an.

    „Du weißt eben nicht, wie es damals war, denn du warst nicht dabei. Otto dachte einen Moment nach und sagte dann: „Gott ist eben doch mächtiger als der deutsche Kaiser, und erst recht als ein kleiner, unbedeutender Bürgermeister.

    „Du bist nicht unbedeutend, Otto."

    „Jedenfalls scheint Gott meine Wünsche nicht zu erhören."

    „Es ist vielleicht etwas vermessen, davon zu sprechen, dass Gott deine Wünsche nicht erhört, wenn du dir einen ganz bestimmten Geburtstag für dein Enkelkind wünschst. Ich für meinen Teil wäre schon froh, wenn unser Kind gesund zur Welt kommt und Maria wohlauf bleibt."

    „Vielleicht wird es ja zumindest ein Junge, Georg."

    „Dagegen hätte ich auch nichts einzuwenden. Ich werde aber auch nicht mit dem Schicksal hadern, wenn es wieder ein Mädchen sein sollte."

    „Das ist sehr ehrenhaft von dir. Weißt du, ich habe mich damals damit nicht so leicht getan. Zwei Mädchen und kein Stammhalter! Wer konnte schon ahnen, dass ich für eine meiner beiden Töchter jemanden wie dich finden würde?"

    „Wenn du mit mir zufrieden bist, dann hat es das Schicksal letztlich doch gut mit dir gemeint."

    „Was Maria und dich angeht, schon. Maria hat großes Glück. Das kann ich von Lia leider nicht sagen. Du weißt ja, wie Fritz ist. Ich erkenne es im Nachhinein als Fehler, für meine Tochter einen so viel älteren Mann auszuwählen. Er war damals doppelt so alt wie sie selbst."

    „Du lässt einfach kein gutes Haar an Fritz."

    Otto ging zum Schreibtisch, zog eine Schublade auf und holte eine Zigarrenkiste hervor. Er öffnete sie und hielt sie Georg hin. Georg schüttelte den Kopf. „Nein, danke."

    Otto nahm eine Zigarre heraus, biss ein kleines Stück ab und entzündete die Zigarre am anderen Ende. Dann sah er Georg an.

    „Fritz verdient es nicht anders. Denn anders als du und ich hält er es nicht so genau mit der Tugend der Bescheidenheit und hat auch sonst oft merkwürdige Ansichten. Alleine, wenn ich ihn seine Geschichten aus dem Krieg erzählen höre…, hielt er kurz inne und fing einen neuen Satz an. „Ich bin auch stolz auf das eine oder andere aus jener Zeit, aber ich leite daraus keine überhebliche Einstellung gegenüber anderen Völkern ab. Fritz aber stachelt die jungen Kerle hier im Dorf damit noch auf. Er erzählt ihnen, wie wertvoll die Erfahrung ist, im Krieg gewesen zu sein und gesiegt zu haben. Am Ende wollen sie es ihm alle nachtun.

    „Mit Bescheidenheit hat er wirklich nichts am Hut."

    „Du weißt, dass ich mit Männern nichts anfangen kann, die nur reden, nichts tun und sich an der vermeintlichen Überlegenheit der Deutschen ergötzen."

    „Sie reden eben alle dem Kaiser nach dem Munde."

    „Ja. Ich sehe das sehr kritisch, dass man einem solch überheblichen und arroganten Menschen so viel Gehör schenkt. Es gibt in meinen Augen viel zu viele, die den Kaiser nachahmen, ohne darüber nachzudenken, ob es sinnhaft ist, dies zu tun. Es ist wie eine Mode."

    „Er ist nun einmal der Kaiser."

    Otto zog an der Zigarre und blies den Rauch in Richtung Zimmerdecke.

    „Er ist nicht mehr als ein Schauspieler, vielleicht sogar ein begabter. Doch einen Schauspieler brauchen wir nicht an der Spitze des Reichs. Wir brauchen jemanden, der fleißig ist. Und umsichtig und erfahren. Dieser Grünschnabel von einem Kaiser hat all diejenigen davongejagt, die ihm diesbezüglich von Nutzen hätten sein können, nur weil sie ihm nicht nach dem Mund geredet haben. Bismarck zum Beispiel."

    „Ich weiß. Das war sicher ein Fehler. Mit deiner Meinung bist du nicht alleine. Auch wenn der junge Kaiser einige wirklich sinnvolle Vorschläge gemacht hat. Ich weiß, du hörst das nicht gerne, aber seinem Großvater ging genau das vollkommen ab, wovon Wilhelm II. zu viel hat. Er konnte die Jungen nicht begeistern und hat sich stets sehr auf Bismarck und dessen teilweise überholtes Wertesystem verlassen. Und wenn Bismarck etwas nicht in den Kram gepasst hat… "

    Otto unterbrach das Paffen seiner Zigarre und fuhr Georg ins Wort.

    „Bismarck wusste, was machbare Ziele waren. Er hat niemals angestrebt, wovon unser Kaiser nun träumt. Die Weltherrschaft. Er hat stets dafür gekämpft, dass wir Deutschen in Europa die Vormachtstellung haben, aber dabei hat er es auch bewenden lassen."

    „Das stimmt. Dennoch hat er wenig dafür getan, dass es denen, die wenig hatten, besser ging. Du weißt genau wie ich, dass er die Macht des Landadels erhalten wollte. Weil er selbst dazu gehörte."

    „Ach, Georg. Jetzt sitzen wir hier und reden schon wieder über Kanzler und Kaiser. Dabei bist du gerade im Begriff, zum zweiten Mal Vater zu werden. Das ist weiß Gott für dich bedeutender als die Politik, oder nicht?"

    „Das ist eben das Los der Männer, Otto. Eine Geburt steht im Gegensatz zu dem restlichen Leben, denn wir können bei einer Geburt nichts tun. Und wir sind es nicht gewohnt, herumzusitzen und abzuwarten, was das Schicksal uns beschert."

    Otto nickte. Er vermied es, die Gedanken, die gerade in seinem Kopf waren, mit Georg zu teilen, denn sie drehten sich um Heinrich, Georgs Vater. Hieß es denn nicht immer, dass Jungen von ihrer Art her nach ihren Großvätern geraten würden? Würde ein Junge eher nach ihm selbst kommen, oder eher nach Georgs Vater? Die Vorstellung, dass Maria einen Jungen zur Welt bringen würde, der so wie Georgs Vater Heinrich sein könne, erfüllte Otto mit großem Unbehagen. Vielleicht wäre es doch besser, bescheiden zu bleiben und sich auch über die Geburt eines weiteren Mädchens zu freuen.

    ***

    Erna, die das Gefühl hatte, dass Marias Schwester Lia mit der Rolle der Geburtshelferin überfordert war, warf ihr einen ermutigenden Blick zu.

    „Du kannst für einen Moment nach draußen gehen, wenn es dir zu viel ist, Lia. Ich rufe dich, wenn ich dich brauche."

    „Ja, danke. Ich bin vor dem Haus, wenn du mich suchst."

    Lia stand auf und verließ das Haus. Erna hatte ein gutes Gefühl, was den heutigen Tag anging, und vielleicht würde sie Lias Hilfe gar nicht weiter benötigen. In aller Regel konnte sie sich auf ihre Vorahnungen verlassen. Außerdem gab es Menschen, denen das Glück einfach zuzufliegen schien, und Maria gehörte in ihren Augen dazu. In Marias Leben war bislang alles sehr glatt verlaufen, so auch die Geburt ihres ersten Kindes vor zwei Jahren. Es schien so, als beschenke das Schicksal Maria reichlich. Erna versuchte, die werdende Mutter von den bevorstehenden Strapazen abzulenken, indem sie ein Gespräch begann.

    „Habt ihr euch schon einen Namen überlegt?"

    „Ja. Falls es ein Junge ist, dann Paul. Wenn es ein Mädchen sein sollte, dann Meline."

    „Meline?"

    „Ja."

    „Das ist ein recht ungewöhnlicher Name. Ich kenne kein Mädchen, das so heißt. Aber es ist ein schöner Name. Wie seid ihr denn darauf gekommen?"

    „Mein Vater hat uns ein Buch geschenkt, mit allerlei Namen darin. Der Name Meline kommt übrigens aus Frankreich. Wir waren uns gleich einig, dass es der richtige Name für unsere Tochter ist – wenn es denn eine sein sollte."

    „Und wie seid ihr auf Paul gekommen?"

    „Georgs Opa hieß Paul."

    „Ach ja. Stimmt."

    Erna erinnerte sich noch gut an damals. Sie war gerade eingeschult worden; es musste also 1846 gewesen sein.

    „Hast du das damals eigentlich miterlebt, Erna?"

    „Ja. So alt bin ich!"

    „Erzähl‘ mir von damals."

    „Was möchtest du wissen?"

    „Alles, was dir einfällt. Georgs Vater hat nie etwas erzählt, und seine Großmutter auch nicht", sagte sie und fasste sich mit leicht schmerzerfülltem Gesicht an den Bauch.

    „Geht es?"

    „Ja."

    „Und Georg hat dir auch nichts verraten?"

    „Er weiß nicht viel darüber, obwohl mir scheint, dass es ihn eigentlich interessiert. Was ist damals eigentlich passiert?"

    „Es war ein regnerischer Herbsttag. Paul hatte dem schlechten Wetter zum Trotz jede Warnung in den Wind geschlagen, zu Hause zu bleiben. Im Dorf sollte noch vor Einbruch des Winters ein neues Haus entstehen, und Paul schuldete dem Bauherrn eine Gefälligkeit. Diese Art des Schuldenbegleichens war damals wie heute gang und gäbe – und eine Ehrensache. Paul war sich bewusst, dass die nächsten Arbeitsschritte nicht erfolgen konnten, wenn er nicht zuvor seinen Teil leistete."

    „Es hört sich an, als sei er sehr pflichtbewusst gewesen."

    „Das Pflichtbewusstsein hat Paul damals das Leben gekostet. Manchmal muss man eben auch auf sich selbst aufpassen und darf nicht nur an die anderen denken."

    „Damit hast du Recht, Erna."

    „Trotzdem: Nur wenn es solche Menschen wie Paul gibt, gelingt unser Leben im Dorf. Wir brauchen solche Menschen als Vorbilder für die Dorfgemeinschaft. Aber er hat es damals übertrieben. Sein Gemeinschaftssinn hat ihn diese lebensgefährliche Gratwanderung machen lassen. Im wahrsten Sinne des Wortes muss es eine Gratwanderung gewesen sein, damals im Steinbruch. Es wäre auf einen Tag mehr oder weniger nicht angekommen, aber er hatte seinen Dickkopf und war auch früher schon oft bei Wind und Wetter losgezogen."

    „Georg ist genauso ein Dickkopf."

    „Ja. Er kommt überhaupt in vielen Dingen sehr nach seinem Großvater. Wenn du die Alten im Dorf fragst, werden sie dir bestätigen, dass Paul und Georg vieles gemeinsam haben."

    „Zum Glück, wie mir scheint. Und wie ging es damals weiter?"

    „Ich weiß nur das, was die Leute erzählt haben. Man hat nie ergründen können, was genau geschah. Paul ist jedenfalls an jenem Abend nicht zurückgekehrt. Am nächsten Tag fand man ihn dann tot im Steinbruch. Man vermutete, dass er auf einem nassen Stein ausgerutscht war und dann aus mehreren Metern Höhe abstürzte. Das ganze Dorf war in einem Schockzustand, als sich die Nachricht herumsprach."

    „Was weißt du sonst noch?"

    „Nicht viel. Ich war, wie gesagt, noch klein. Erstaunlicherweise war Pauls Tod etwas, das der Gemeinschaft im Dorf zuträglich war. Das Gedenken an Paul einte alle Dorfbewohner, und man hielt noch fester zusammen als zuvor."

    „So, wie du es erzählst, klingt es sehr tröstlich. So hat es Georg mir noch nie erzählt."

    „Er war ja auch noch nicht geboren, als es geschah."

    Paul war ohne Zweifel ein sorgsam ausgewählter Name für einen Sohn, dachte Erna. Ein Name, mit dem große Fußstapfen verbunden waren.

    „Wie ging es danach weiter? Ich meine mit Pauls Witwe und mit dem kleinen Heinrich?"

    „Das ist leider keine erfreuliche Geschichte, wie du dir vorstellen kannst. Georgs Mutter hat den Tod ihres Mannes nie überwunden. Nach Pauls Tod..., hielt sie kurz inne und brach den Satz ab. „Ich habe sie nie anders als in Trauer und ohne jeden Lebensmut erlebt. Du hast sie ja noch kennengelernt. So, wie du sie erlebt hast, war sie seit Pauls Tod gewesen.

    Eine schmerzhafte Wehe überkam Maria. Sie atmete tief durch.

    „Geht es wieder?"

    „Ja. Erzähl‘ weiter."

    „Die Kindheit war für Heinrich eine schlimme Zeit. Ich kann mich erinnern, dass er als kleiner Junge immer sehr zurückhaltend war und sich nur selten beteiligte, wenn andere Jungen seines Alters herumtollten."

    „So kann ich mir Heinrich gar nicht vorstellen."

    „Er hat sich danach auch verändert, zunächst dachte man, zum Guten. Er heiratete und wurde Vater. Sein Leben schien intakt, doch dann starb seine Frau unerwartet, und es schien so, als gebe er sich die Schuld an ihrem Tod."

    „War das der Zeitpunkt, als er zu trinken begann?"

    „Vermutlich schon. Jedenfalls war es Georgs Glück, dass seine Großmutter noch lebte und sich seiner annahm. Auf Heinrich hätte Georg jedenfalls nicht zählen können." 

    Eine heftige Wehe erfasste Maria und ließ sie aufstöhnen. Erna erfasste ihre Hand, und Maria beruhigte sich wieder. In wenigen Stunden würde es vollbracht sein, dachte Erna und beruhigte sich mit dem Gedanken an die vom Glück verwöhnte junge Frau, der – wenn das Schicksal sie heute genauso beschenkte wie in ihrem bisherigen Leben – auch die bevorstehende Geburt nichts würde anhaben können.

    ***

    Georg rutschte ungeduldig auf dem Stuhl hin und her. Draußen war es dunkel geworden, und allmählich machte er sich Gedanken um Maria und das vermutlich noch ungeborene Kind. Otto hingegen hatte die Zeit des Wartens genutzt. Er hatte die skizzierte Rede für den bevorstehenden Sedanstag noch einmal überflogen und war mit dem Ergebnis seiner Arbeit einverstanden. Zufrieden sah er Georg an.

    „Es tut mir leid, dass ich so wenig gesprächig war. Ich musste das vorbereiten, denn ich glaube kaum, dass ich morgen die Gelegenheit dazu finden werde."

    „Sollten wir uns nicht langsam auf den Weg zu Maria machen?"

    „Nein. Wir warten hier. Erna wird uns Bescheid geben lassen, wenn es soweit ist."

    „Wenn du meinst."

    „Wir können uns auf Erna verlassen, Georg. Sei unbesorgt."

    „Es ist nur… Ich weiß gerade nicht, wohin mit mir."

    „Du bist hier gut aufgehoben, lachte Otto und fügte ernst hinzu: „Wenn dein Vater seinen Mann im Leben stehen würde, könntest du genauso gut bei ihm die Zeit verbringen.

    „Ich weiß. Doch in Anbetracht des Zustandes, in dem er sich befindet, liegt mir nichts ferner."

    „Ich kann dich verstehen. Aber Heinrich war nicht immer so. Er ist feinfühliger, als du vermutest."

    „Ich habe ihn nur so in Erinnerung, wie er heute ist. Und ich möchte wetten, er verschwendet keinen Gedanken daran, dass er heute oder morgen wieder Großvater wird."

    „Das ist gut möglich. Der Alkohol richtet viel Schaden an. Glaub‘ mir, ich habe nichts unversucht gelassen, um deinem Vater wieder zurück ins Leben zu helfen. Ich verstehe dies als meine Pflicht als Bürgermeister."

    „Warum hast du eigentlich mich als deinen Schwiegersohn ausgewählt? Ich meine, der Ruf meiner Familie war durch meinen Vater schließlich in Mitleidenschaft gezogen."

    „Es war früh zu erkennen, dass du anders bist als dein Vater. Nach all dem, was ich über deinen Großvater in Erfahrung bringen konnte, kommst du viel mehr nach ihm als nach deinem Vater. Und über deinen Großvater Paul hat nie jemand ein schlechtes Wort verloren. Außerdem fand ich es beachtlich, wie du schon als junger Mann dein Leben allen Widrigkeiten zum Trotz gemeistert hast."

    „Dann muss ich also Paul dankbar sein, oder?"

    „Nein, denn du selbst bist es, der dein Leben in die richtige Richtung lenkt. Aber ich muss zugeben, dass die Geschichten, die ich über Paul gehört habe, mich damals positiv gestimmt hatten, was deine Person anging."

    „Ich bin dir jedenfalls sehr dankbar, dass du mich als Mann deiner Tochter gewählt hast. Egal, wie es zustande gekommen ist."

    „Ja?"

    „Natürlich. Ich hatte selbst schon ein Auge auf Maria geworfen, als dein Vorschlag kam."

    ***

    Kurz bevor die Glocken der Kirche Mitternacht schlugen, hörte Erna, wie sich jemand polternd am verriegelten Hoftor zu schaffen machte. Sie weckte Lia auf, die im Nachbarzimmer tief und fest geschlafen hatte. Erna hatte ihre Hilfe bislang nicht benötigt, denn die Geburt von Marias Kind verlief soweit unproblematisch. Dennoch wollte sie Maria gerade jetzt nicht alleine lassen, da es möglicherweise nur noch eine Sache von wenigen Minuten war, bis das Kind kam.

    „Lia, draußen ist jemand am Hoftor. Geh‘ und schau‘ nach, wer es ist. Lass aber niemanden herein. Vielleicht siehst du erstmal am Fenster nach."

    Lia schüttelte sich die Müdigkeit aus den Beinen, ging schlaftrunken zum Fenster und öffnete es. Vor dem Haus stand Heinrich, Georgs Vater. Er musste mitbekommen haben, dass Erna von Georg abgeholt worden war, dachte Lia. Heinrich, der nicht bemerkt hatte, dass Lia das Fenster geöffnet hatte, schlug mit der Faust gegen das Tor.

    „Hör auf damit, du Säufer."

    Heinrich riss den Kopf herum und sah Lia feindselig an.

    „Lass‘ mi‘ r-rein, f-f-fluchtes Weibsschück!"

    „Was willst du hier?"

    „Fraachnich! Mach‘ auf!"

    „Einen Teufel werde ich tun. Du bleibst draußen."

    „I.. Ich habbehört, Erna issimaus. Daskannanur... kannur einsedeuten."

    Heinrich war so betrunken, dass Lia kaum verstehen konnte, was er sagte.

    „M-man… darfeuch Weiwer nichalleinelass‘n. Da… da kannerweiswas passier‘n."

    „Das sagt der Richtige."

    „Jawoll! Mussaufaskind aufpass’n. Jemann musaufpass’n. Daminix passiert. Nix Sch-schlimms."

    „Was soll dieser Unsinn, Heinrich? Du bist betrunken. Komm‘ wieder, wenn du deinen Rausch ausgeschlafen hast. Erna und ich sind bei Maria, und damit ist es gut!"

    „Nur Weiwer. Weiwer! Ihrbringdaskind umm! Ich…ichweises!"

    Heinrichs Stimme schien voller Verzweiflung, bemerkte Lia, doch er war sturzbetrunken und nicht Herr seiner Sinne. Sie schüttelte den Kopf und beschloss, ihn einfach vor der Tür stehen zu lassen und Erna von dem Vorfall zu berichten.

    Es dauerte noch etwa zehn Minuten, ehe Heinrich nach etlichen weiteren Faustschlägen gegen das Hoftor schließlich von seinem Ansinnen abließ und sich unverrichteter Dinge auf den Weg nach Hause machte.

    ***

    Melines Seele hatte den Entschluss gefasst, sich mit dem Beginn des irdischen Lebens noch bis nach Mitternacht Zeit zu nehmen und an einem Montag zur Welt zu kommen. Zwar hatten die Menschen, die um das bevorstehende Ereignis wussten, die Hoffnung gehabt, das noch Ungeborene würde ein Sonntagskind werden, doch die Seele wusste es besser, noch ehe es tatsächlich geschehen war. Sie wusste vielleicht nicht bis ins Detail genau, was geschehen würde; dennoch waren die Kapitel für das Skript des Lebens zu großen Teilen schon geschrieben, schon bevor das eigentliche Leben begann.

    Denn das Leben wäre eine triste und vorhersehbare Veranstaltung geworden, wenn Meline und die Menschen um sie herum schon gewusst hätten, was die Seele für dieses noch ungeborene Leben, das bald beginnen würde, als Lebensthemen vorgesehen hatte.  

    ***

    Die Kirchturmuhr schlug Mitternacht. Mittlerweile saß auch Otto, der zuvor ruhig und gelassen schien, auf glühenden Kohlen.

    „Wir warten jetzt schon seit Stunden, Otto."

    „Vielleicht sollten wir doch einmal nach dem Rechten schauen."

    „Ja, das meine ich auch. Ich verstehe gar nicht, weshalb niemand kommt und uns Bescheid gibt."

    „Erna hätte schon längst jemanden vorbei geschickt, wenn es etwas zu berichten gäbe. Manchmal dauert es einfach länger. Aber ich bin des Herumsitzens müde und muss etwas tun, auch wenn es nicht mehr sein wird, als zu eurem Haus zu gehen und dort das zu tun, was wir auch hier tun: Warten. Aber ein paar Schritte und etwas frische Luft werden uns dennoch guttun."

    „Gut. Was sollen wir sonst auch tun, außer abzuwarten? Ich jedenfalls kann mir nicht vorstellen, jetzt zu Bett zu gehen."

    Draußen hatte es zu nieseln begonnen, und so gingen die beiden eiligen Schrittes und mit eingezogenen Köpfen los. Als sie etwa drei Viertel des Wegs zurückgelegt hatten, sah Georg im vom Nieselregen getrübten Dunkel eine Gestalt entgegenkommen, die ihm verdächtig bekannt erschien. Und tatsächlich, es war sein Vater. An seinem schwankenden Gang konnte Georg schon aus der Distanz ausmachen, dass er betrunken war.

    „Vater, was tust du hier mitten in der Nacht bei diesem Hundewetter?"

    „Redd-das Kind. S-sie bringes umm!"          

    Georg hatte den Eindruck, dass sein Vater nicht bei Verstand war. Otto sah Heinrich stirnrunzelnd an.

    „Wovon sprichst du, Heinrich? Wer bringt hier jemanden um?"

    „Diefraun! Sie bringas Kind umm!"

    Otto fuhr sich mit der Hand durch das leicht schüttere Haar. Es machte auf ihn den Eindruck, als ob es mit Heinrich stetig bergab ginge.

    „Mir scheint, du hast deine Sinne nicht beieinander. Geh‘ nach Hause und schlaf dich aus."

    „Ihr versch-steht minicht. Niemand will m-mich versch-stehn. Ihr werd sonn…schonn seh‘n! Wew-wir nur suseh‘n, bringaskind umm! G-genau w-wie da… damals!"

    „Damals? Was redest du für ein Zeug, Heinrich?"

    „G-genauwie damals! Wenns i-ihnen nich pass‘, bringses umm."

    Otto hatte bemerkt, wie sehr Georg darunter litt, seinen Vater in einem solch verwirrten Zustand zu sehen. Er warf ihm einen mitfühlenden Blick zu und versuchte, die Situation unter Kontrolle zu bringen.

    „Heinrich, ich habe keine Ahnung, was du uns sagen willst, aber wenn du bei Wind und Wetter so herumläufst, wirst du dir am Ende noch selbst den Tod holen."

    „Ihr wollt esnich begreif‘n! Teufelabauch! Siss au… iss eure Vant-verand-fandwortung. Ichhabbeuch ge-gewarnt. Habbich! Vor Tod-unnteufel."

    Heinrichs Worte waren durch den Alkoholrausch kaum zu verstehen. Otto packte Heinrich entschlossen am Arm.

    „Georg, geh‘ du schon mal vor, ich bringe Heinrich nach Hause und komme dann nach."

    Gedankenverloren sah Georg zu, wie sein betrunkener, vor sich hin zeternder Vater durch den couragierten Otto nach Hause eskortiert wurde. Als die beiden im Dunkel der Nacht verschwunden waren und Georg nur noch die polternde Stimme seines Vaters hören konnte, setzte er sich zögerlichen Schrittes in Bewegung und machte sich auf den Weg nach Hause. Er hatte das vage Gefühl, dass nicht alles von dem, was sein Vater gesagt hatte, ein durch den Alkohol ausgelöstes Hirngespinst war. Doch würde man es je herausfinden können? Morgen, wenn sein Vater wieder bei Verstand sein würde, würde er sich mit großer Wahrscheinlichkeit an nichts mehr erinnern können.

    ***

    In einen Augenblick der Ruhe hinein schrie Maria plötzlich auf. Eine heftige Wehe durchfuhr sie und die Fruchtblase sprang. Das Fruchtwasser ergoss sich in die auf dem Bett bereitliegenden Laken.

    „Es ist nichts Schlimmes, mein Kind. Die Fruchtblase ist geplatzt, hast du es gespürt?"

    „Ja, hab‘ ich. Ich kann nicht mehr. Warum dauert es bloß so lange?"

    „Du hast es bald geschafft. Es ist alles so, wie es sein soll. Die Fruchtblase ist geplatzt und der Muttermund hat sich geöffnet. Das Kind hat sich gedreht, ich habe es mit meiner Hand gefühlt. Wenn es Kopf voran ins Leben will, brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Maria. Schwierig sind die, die mit den Beinen zuerst raus wollen."

    Die Geburt ist so anders als das Leben selbst, dachte Erna. War es nicht so, dass es im Leben diejenigen schwer hatten, die mit dem Kopf durch die Wand wollten, während das Leben denen besonders gut glückte, die mit beiden Beinen auf dem Boden standen? Andererseits, überlegte sie, konnte man häufig schon bei der Geburt erkennen, wer das Zeug zum Kämpfer hatte und wer später eher den bequemen Weg zu gehen tendierte.

    Die Abstände zwischen den Wehen waren merklich kürzer geworden, und Erna hatte Maria aufgefordert, die Wehen durch Pressen zu unterstützen. Die Geburt zog sich jetzt schon über sieben Stunden hin, und langsam wurde auch Erna nervös, obwohl das Ende der Geburt nun in Sicht war. Sie sah sich um und warf Lia einen Blick zu.

    „Geh‘ in die Küche und hol‘ noch Tücher und eine Schüssel mit warmem Wasser. Nimm‘ die Tücher hier mit, das sind nur Krankheitsherde."

    Mit spitzen Fingern ergriff Lia die von Blut und Schweiß getränkten Tücher und verließ den Raum.

    Kaum, dass sie den Raum verlassen hatte, durchfuhr Maria ein heftiger Schmerz, und es kam etwas Blut. Der Schrei und das Blut an ihren Fingern ließen Erna mit einem Mal in einen Zustand höchster Aufmerksamkeit gelangen. Die Tür öffnete sich und Lia sah Erna fragend an.

    „Was ist los?"

    „Frag‘ nicht! Geh‘ und tue, was ich dir gesagt habe. Hol‘ die Tücher und Wasser!"

    Mit eingeschnappter Miene schloss Lia die Tür wieder, und Erna hörte, wie sie in die Küche ging. Sie fühlte sich mit einem Mal wieder als Herrin der Lage. Es waren Routineabläufe. Dies alles hatte sie schon unzählige Male gemacht, ermutigte sie sich selbst, und sie würde es auch heute zu einem erfolgreichen Ende bringen.

    „Es läuft alles nach Plan, Maria. Alles nimmt seinen Gang, genauso wie es sein soll."

    Maria nickte stumm. Ihr Blick wirkte angestrengt. Sie schien sich ihre verbliebenen Kräfte aufsparen zu wollen, dachte Erna. Es musste mit dem Teufel zugehen, wenn nun noch etwas dazwischen kommen sollte. Doch Zweifel, dass es Komplikationen geben konnte, blieben immer bis zuletzt. Sicher war man erst, wenn es tatsächlich vorüber war.

    „Ich kann schon ein kleines Stück des Kopfes sehen. Du hast es bald überstanden."

    Maria sah sie mit erschöpftem Blick an.

    „Danke, Erna."

    „Bedank‘ dich bei mir, wenn wir hier fertig sind."

    Wie auf Bestellung durchfuhr eine Wehe Marias Körper, die noch stärker als die vorherigen war. Sie schrie laut auf. Erna fasste ihre Hand, während sie ihr mit der anderen Hand das Kind durch die Bauchdecke zu ertasten versuchte.

    „Du hast es gleich geschafft. Vertrau‘ mir, ich weiß es. Und schön pressen, wenn ich es dir sage."

    Es kehrte ein kurzer Moment der Ruhe ein. Das Ticken der Standuhr in der Stille der Nacht schien sich unendlich zu verlangsamen, doch Erna wusste, dass sie sich dies nur einbildete. Dennoch nahm sie das Ticken als unnatürlich langsam und laut wahr.

    Mit einem Mal wurde die Tür geöffnet, und Erna fuhr schreckhaft herum. Es war Lia, die mit den Tüchern und dem Wasser hereinkam und auf das Blut starrte, das das weiße Laken unterhalb von Marias Scham rot gefärbt hatte. Ihr wurde schwindelig, und ihre Gesichtsfarbe nahm das Weiß der Tücher an, die sie auf dem Arm trug.

    „Setz‘ dich auf den Stuhl, Lia. Ich kann es jetzt wirklich nicht brauchen, dass du mir am Ende noch umkippst."

    Lia schien ihr keine rechte Hilfe, doch Erna war zuversichtlich, dass sie es nun auch ohne sie schaffen würde.

    Maria begann, sich vor Schmerzen furchterregend zu winden, und Erna glaubte, eine Gefahr zu wittern. Lia stockte der Atem. Sie sah Erna an und nahm einen kurzen Moment lang Hilflosigkeit in ihrem Blick wahr. Erna sprach stumm ein Gebet vor sich hin und spürte, wie sie sich wieder fing.

     „Der Kopf kommt gleich heraus. Dann hast du es überstanden."

    Maria warf Erna einen angestrengten Blick zu.

    „Noch einmal richtig pressen! Richtig pressen, Maria! Du hast es gleich geschafft."

    Es gab ein gurgelnd feuchtes Geräusch, als der Kopf des Kindes herauskam und der restliche Körper unmittelbar folgte. Das Neugeborene holte tief Luft und begrüßte die Welt mit einem lauten Schrei. Erna atmete durch, tupfte das zarte Wesen mit einem feuchten Handtuch ab und legte es Maria an die Brust.

    „Es ist ein Mädchen, Maria."

    Maria schien nach der stundenlangen Tortur kaum bei Sinnen, und Erna war sich nicht bewusst, ob Maria sie überhaupt gehört hatte. Statt ihrer wiederholte Lia Ernas Worte: „Es ist ein Mädchen."

    Erna beobachtete das kleine Mädchen und sah, wie ihre Lungen Sauerstoff einsogen. Die Nabelschnur hörte auf, zu pulsieren und wurde allmählich weißlich und schlaff. Sie wartete noch einen Moment, band dann die Nabelschnur ab und holte eine kleine Schere aus ihrer Tasche, mit der sie die Nabelschnur durchtrennte, so dass nur noch ein etwa drei Zentimeter langes Stück davon mit dem Nabel des Neugeborenen verbunden blieb. Maria schien langsam wieder zu sich zu kommen und sah glücklich und erleichtert zu Erna auf.

    „Danke, Erna."

    Erna nickte ihr wortlos zu.

    „Ich will kein Risiko eingehen, Maria. Wir werden also wohl noch die nächsten Stunden zusammen verbringen, die Kleine, du und ich."

    Maria war froh, dass Erna noch bei ihr blieb.

    „Lia, geh‘ zu Ottos Haus und gib‘ den beiden Männern Bescheid, dass alles gut verlaufen ist und dass sie kommen können, sagte Erna und fügte hinzu: „Schau‘ aber vorher lieber nochmal nach, ob Heinrich tatsächlich weg ist. Ein Disput mit diesem Trunkenbold ist gewiss das Letzte, was wir jetzt brauchen.

    ***

    Als Georg sich seinem Haus näherte, konnte er in der Ferne sehen, wie jemand ein Fenster an der Vorderseite des Hauses öffnete, kurz herausschaute und das Fenster dann wieder schloss. Durch die Dunkelheit und den Regen hatte er allerdings nicht erkennen können, wer es gewesen war. Es musste entweder seine Schwägerin Lia oder die Hebamme Erna gewesen sein, dachte er, denn seine Frau würde in ihrem derzeitigen Zustand schwerlich das Bett verlassen können, nur um einen Blick aus dem Fenster zu werfen.

    Er beschleunigte seine Schritte, denn es erschien ihm ungewöhnlich, dass jemand mitten in der Nacht ein Fenster öffnete und wieder schloss, während im Haus ein Kind zur Welt kam. Er fand das Tor verschlossen vor; jemand musste es von innen verriegelt haben. Energisch schlug er gegen dagegen. Nach einem kurzen Moment wurde das Fenster, an dem Georg schemenhaft die Person gesehen hatte, aufgerissen. Noch ehe er jemanden sah, hörte Georg Ernas keifende Stimme:

    „Herr Gott, was ist denn nun noch? Ach, du bist es, Georg. Du…, sah sie ihn einen Moment lang mit einer Mischung aus Erstaunen und Verwirrung an. „Ach ja, das Tor ist ja verriegelt, und du kommst nicht rein.

    Sie rief Lia zu, dass sie das Tor entriegeln solle und wandte sich wieder Georg zu.

    „Meinen herzlichen Glückwunsch. Du bist Vater eines gesunden Mädchens, und Maria geht es auch gut." Georg strahlte über das ganze Gesicht, und Erna konnte die Erleichterung in seinem Gesicht förmlich ablesen.

    „Schön, dass alles gut verlaufen ist, Erna. Dann runzelte er die Stirn und wirkte nachdenklich. „Mit wem hattest du denn zu dieser nachtschlafenden Zeit eigentlich gerechnet?

    „Dein Vater war hier. Ich dachte, er wäre zurückgekommen."

    „Mein Vater? Was in drei Teufels Namen wollte er hier?"

    „Er hat herumgepöbelt. Lia war am Fenster und hat mit ihm gesprochen."

    „Und dann?"

    „Hat sie ihn vor der Tür stehen lassen. Wir hätten ihn hier gewiss nicht brauchen können. Irgendwann ist er dann wohl gegangen, aber das habe ich nicht mitbekommen. Deshalb dachte ich ja, er sei es, als es wieder klopfte."

    „Und wer war gerade am Fenster, so vor einer Minute?"

    „Das war Lia, ich wollte sie gerade losschicken, um die frohe Botschaft zu überbringen. Wo ist Otto?"

    „Er wollte meinen Vater nach Hause bringen und dann nachkommen."

    „Deinen Vater? Habt ihr ihn getroffen?"

    „Ja. Er lief im Regen umher und war triefend nass. Wirres Zeug hat er geredet. Wir sollten uns beeilen, damit nichts Schlimmes geschehe, oder so ähnlich. Otto meinte, es sei das Beste, er kümmere sich um ihn."

    „Kannst du dir einen Reim darauf machen, was dein Vater wollte?"

    „Ich habe keine Ahnung. Es bezog sich wohl auf die Geburt. Aber was genau er wollte, weiß ich beim besten Willen nicht. Er war vollkommen betrunken, da macht es wenig Sinn, darüber nachzudenken, was er gemeint haben könnte."

    Georg hörte, wie das Tor von innen entriegelt wurde und Lia ihm gegenübertrat. Sie schüttelte ihm förmlich und um Distanz bemüht die Hand zur Gratulation, wand sich zum Gehen und sah fragend zu Erna.

    „Lia, du kannst zu deinem Mann nach Hause gehen. Otto bringt Heinrich nach Hause und kommt dann direkt hierher."

    „Na dann. Gute Nacht."

    „Ich bin froh, dass du Erna unterstützt hast. Gute Nacht", bedankte sich Georg.

    Lia nickte stumm und ging ohne ein weiteres Wort davon.

    ***

    Nachdenklich verließ Otto Heinrichs Hof, um zu seiner Tochter zu eilen. Er erhöhte das Tempo, denn der Regen hatte zugenommen und er hatte das vage Gefühl, dass man möglicherweise auf ihn wartete. Es war gut möglich, dass das Kind mittlerweile geboren war. Eines war in jedem Fall gewiss: Sein Enkel würde nicht am Sedanstag zur Welt kommen.

    Er war froh, dass er es geschafft hatte, den über die Maßen aufgebrachten Heinrich zu dessen Haus zu bringen. Er hoffte, dass dieser es für heute auf sich beruhen ließ und seinen Rausch ausschlief. Auch wenn Heinrich grundsätzlich wenig Anlass zu hilfsbereitem Verhalten bot, hatte sich Otto verpflichtet gefühlt, ihn nach Hause zu geleiten. Seine Unterstützung hatte jedoch im Wesentlichen mit seinem Verhältnis zu Georg zu tun, denn schließlich war Heinrich Georgs leiblicher Vater, wenngleich davon in den Situationen des Alltags nur wenig zu spüren war.

    Das seltsame Gespräch, wenn man es denn so nennen wollte, hatte sich auf Heinrichs ganzem Nachhauseweg fortgesetzt. Eigentlich hatte nur Heinrich geredet, und das in einem fort. Immer wieder hatte er behauptet, er wisse, dass das Leben des Kindes in Gefahr sei. Otto wusste nicht, was genau er auf das geben sollte, was Heinrich erzählt hatte. Es erschien ihm vollkommen abwegig, dass Erna jemals bewusst einem Kind etwas angetan haben konnte. Andererseits jedoch hatte er Heinrich bisher noch nie so aufgeregt erlebt. Er spürte, dass der Alkohol bei Heinrich zwar zu einer übersteigerten Wahrnehmung einer in seinen Augen drohenden Gefahr, aber auch zur Lockerung der Zunge beigetragen hatte. Was auch immer geschehen sein mochte, es konnte nichts mit Erna zu tun haben. Dessen war er sich sicher. Vielleicht gab es einen anderen Vorfall, auf den sich Heinrich bezog.

    Otto beschloss, Georg auf das merkwürdige Verhalten seines Vaters anzusprechen, sobald sich die Gelegenheit bot. Vielleicht konnte er sich an irgendetwas erinnern, das in Verbindung mit dem stand, was Heinrich erwähnt hatte.

    ***

    Georg saß am Bett seiner Frau und streichelte mit seinem Zeigefinger die winzig kleine Hand seines Töchterchens. Immer wieder sah er Maria erleichtert an.

    „Die Kleine sieht Otto ähnlich, findest du nicht? Von meinem Vater hat sie jedenfalls vom Äußeren her nichts."

    „Nun ja… Ich hoffe, sie hat nicht genauso viele Falten wie mein Vater", lachte sie.

    „Sie sieht ihm wirklich ähnlich. Meline ist natürlich viel hübscher. Aber sag‘ das bloß nicht zu deinem Vater."

    Sie grinste und schüttelte den Kopf. „Ich denke, er würde es nicht sonderlich schlimm finden."

    „Ich bin so froh, dass du nun alles überstanden hast und es der Kleinen gut geht. Otto und ich, wir haben uns langsam Sorgen gemacht. Es dauerte so lange."

    „Wir sollten dem Schicksal danken. Es war gnädig mit uns. Wo bleibt eigentlich mein Vater, Georg?"

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