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Tödliche Sure
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eBook515 Seiten6 Stunden

Tödliche Sure

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Über dieses E-Book

"Dereinst wird ein Hirte euch den Teppich bringen.
Er stammt von Mohammed selbst und
wird euch weisen den Weg zum Paradies …,"

Könnte eine bislang unbekannte Offenbarung des Propheten das islamische Glaubensbild nachhaltig erschüttern? Scheich Tabrizi, Oberhaupt einer obskuren schiitischen Sekte, späht am Himmel nach Vorzeichen des ersehnten Jüngsten Gerichts, als ihm seine Leute Kunde von einem Teppich bringen, der eben eine solche Botschaft in sich bergen soll.

Die Jagd der Sekte nach dem antiken Stück entwickelt sich erst zum Alptraum für einen deutschen Teppichhändler. Dann zieht die Nachricht vom Teppich Kreise und ruft die Saudis auf den Plan. Gibt es die mysteriöse Sure tatsächlich und was genau bedeutet sie?

Grete, die junge, im doppelten Sinn schlagfertige Anwältin des Teppichhändlers, und ihr Joint rauchender Privatermittler müssen zuerst ihren Mandanten aus den Fängen der Sekte retten – und kommen sich dabei näher. Doch am Ende droht wegen des genau genommen harmlosen Textes sogar ein Religionskrieg. Vom Abstrusen zum Grausigen ist es manchmal nur ein Schritt …

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SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum21. Apr. 2015
ISBN9783738024739
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    Buchvorschau

    Tödliche Sure - Wolf Thorberg

    Vorwort

    Wolf Thorberg

    TÖDLICHE SURE

    Thriller

    Es handelt sich um eine erfundene Geschichte. Übereinstimmungen mit echten Personen, Ereignissen und Orten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

    Grafik 1

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    Für weitere Informationen, News und Veranstaltungen besuchen Sie unsere Website: http://www.qindie.de/

    Das Manuskript wurde lange vor den Pariser Anschlägen vom 07. bis 09. Januar 2015 begonnen und kurz vor ihnen abgeschlossen. Es zeigt sich wiederum, dass es nicht einmal einer unbekannten Sure bedarf, um die mörderische Energie von Fanatikern freizusetzen. Ein paar Karikaturen genügen. Daher möchte ich dieses Buch allen Opfern religiöser Verfolgung und religiösen Extremismus widmen, vor deren Courage und Widerstandskraft ich mich verneige.

    Wolf Thorberg

    1

    Der Schäfer Hormoz war nicht der Einzige, den die umstrittene Offenbarung Mohammeds in einem Teppich ins Unglück stürzen würde. Er war nur der Erste.

    Wie meist lagerte er mit der Herde auf einem Hang unterhalb der Ruine Alamut, eine halbe Tagesreise nordwestlich von Teheran. Reckte er den Kopf, sähe er geradewegs auf einen Vorsprung, von dem sich nach einer Legende einst fanatische junge Männer hinabgestürzt hatten. Hasan-i Sabbah, damaliger Burgherr und Herrscher der gefürchteten Assassinen, hatte es ihnen befohlen, um zu zeigen: Für ihn und ihren Glauben wählten seine Mannen klaglos den Tod.

    Doch daran dachte Hormoz nicht. Er genoss die kühle Herbstluft und freute sich auf einen sonnigen Tag und auf Erfan, der nachmittags zum Tee seine ansehnliche Tochter mitbringen wollte. Denn auf die machte er sich gewisse Hoffnungen. Er wandte sich dem Frühstück zu, einem mit Rahm und Honig bestrichenen Fladenbrot, als etwas seine Aufmerksamkeit erregte.

    Sein Blick wanderte zum Parkplatz unterhalb der Weide. Normalerweise benutzten ihn Ausflügler, die von hier aus zur Ruine hochkletterten. Auch jetzt hielt dort ein kleiner, weißer Saipa, aus dem kurz darauf drei Männer stiegen. Für Touristen war es zu früh. Außerdem berieten sich die drei bärtigen, düster wirkenden Kerle erst vor dem Wagen. Nach einer Weile starrten sie hoch zu seiner Weide. Dann marschierten sie nicht etwa Richtung Ruine, sondern zu ihm.

    Hormoz schnellte vom Felsen, auf dem er saß. Sollte er das Gewehr holen? Doch je näher sie kamen, desto entspannter, ja ergriffen wirkten sie. Als harrten ihrer nicht er und ein paar magere Ziegen, sondern der Schrein eines Heiligen. Wahrscheinlich wollten sie nur nach dem Weg fragen, beruhigte er sich. Er setzte sich wieder und wartete ab, was weiter geschah.

    Ich stellte Backwerk und Sekt auf das Sideboard. Neben dem Schreibtisch und einem schmalen Durchgang war es die einzige freie Fläche meines winzigen Büros, in dem sich Kartons voller kopierter Akten des Coretech-Falls stapelten. Den Javanischen Napfkuchen mit Rum, Schokolade und karamellisiertem grünem Pfeffer hatte ich am gestrigen Sonntag gebacken, dem ersten seit Wochen, den ich nicht in der Kanzlei verbracht hatte. Der Kuchen war in transparente Folie verpackt und mit bunten Schleifen verziert, nur die Sektflasche war nackt. Ich hatte sie erst auf dem Weg gekauft, um sie mit dem Kuchen mittags zur Post zu bringen.

    Ich goss mir ein Glas schale Cola ein und widmete mich wieder Coretech, und das hieß: den Jahre zurückliegenden Geschäften eines mittelständischen deutschen Händlers von elektronischen Bauteilen. Die Firma war, so seine und natürlich unsere Version, unwissentlich in die Fänge eines Umsatzsteuerbetrugskarussells geraten. Die gleiche Ware wurde immer wieder zwischen EU-Staaten hin- und hergeschoben, jedes Mal Vorsteuer geltend gemacht, doch nie Mehrwertsteuer abgeführt. Ein eingespielter Kreislauf von Schein- und Tarnfirmen, in dem sich ab und zu auch einmal ein argloser »echter« Händler verfing wie, wollen wir annehmen, unser Mandant. Sonst winkten ihm, längst pleite und herzkrank, fünf Jährchen Pension zur gestreiften Sonne.

    Ruchling hatte mir Hoffnung gemacht, mich als zweite Verteidigerin zu bestellen. Eine blendende Motivation, um mich weiter durch Buchungslisten, Rechnungskopien, Börsenpreise für Vakuumkondensatoren und andere spannende Dinge zu wühlen.

    Mein Kopf schien schon im charakteristischen Frequenzbereich elektronischer Schaltungen zu brummen, als Jan Seitz den Kopf ins Zimmer streckte. Sein Blick fiel auf die Flasche und mein Java-Backwerk.

    »Oh, du hast es also gehört, Grete. Das mit dem Sekt ist echt lieb. Kuchen wär aber nicht nötig gewesen.«

    »Bitte, was?«

    Jans Humor war typisch für den Zögling eines Eliteinternats, dessen Neuzugänge zu Penissen geformte Seifenstücke oral befriedigen mussten.

    »Ich muss dich enttäuschen. Der ist für meinen Bruder.«

    Jan grinste. »Du bäckst Kuchen für deinen Bruder?« Er beäugte mich, als wäre ich die Avon-Beraterin seiner Frau, die sich in die gehobene Wirtschafts- und Strafrechtskanzlei nur verirrt hatte.

    »Mein Bruder«, sagte ich mit einem Seufzer, »hat Geburtstag, macht ein Praktikum in Rotterdam und haust in einer schäbigen Pension mit Blick auf den Hauptfriedhof. Ich bin mir sicher, er freut sich.«

    Jan sah aus, als wollte er unverrichteter Dinge wieder abziehen.

    Was mich erinnerte. »Was meintest du eigentlich mit: Du hast es gehört?«

    »Oh, das!« Jan trat ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Auf einmal wirkte er ein wenig verlegen.

    »Ruchling hat sich entschieden, mich als Nummer zwei für Coretech vorzuschlagen. Hat er nicht mit dir gesprochen? Du sollst mir zuarbeiten, und ich wollte dich fragen, wann wir uns austauschen können.«

    Jan war anders als ich schon ein Jahr in der Kanzlei. Er konnte nicht nur ein eindrucksvolles Studium an einer privaten Law School aufbieten, verbunden mit einer schnöseligen Überlegenheit, die vor mancher Strafkammer Eindruck schindete. Er vertrat auch eigene Mandate vor Gericht und gerüchteweise golfte sein Vater im gleichen Klub wie der Bruder des Mandanten. Ruchling hatte also gute Gründe.

    Aber es brach mir das Herz.

    Ich brauchte einen Moment, bis ich antworten konnte. »Heute nicht, wenn’s recht ist. Reicht morgen früh?«

    Selbst Jan merkte es. »Natürlich, Grete.«

    Er verließ das Zimmer und schloss leise die Tür wie hinter einem Trauerfall.

    Die drei Männer waren bei Hormoz angekommen.

    »Salam, gesegneter Bruder!«

    Der ihn so ungewöhnlich gegrüßt hatte, trug einen Anzug und war älter. Auf der Nase prangte eine Nickelbrille, auf dem Kopf eine Gebetskappe und ums Handgelenk hatte er eine Gebetskette gewickelt. Kurzer Draht nach oben, dachte Hormoz verächtlich. Das Gesicht des Zweiten erinnerte ihn an einen Fladen mit Narben als Belag, der Dritte war dürr wie ein Bergstrauch und lächelte so seltsam, als summte er lautlos ein Lied. Dabei musterte er unverschämt Hormoz’ zwischen Motorrad und Zelt verstreute Kleider und Kochutensilien.

    »Salam«, knurrte er. »Ihr wollt doch sicher zur Ruine, der Weg ist dort auf der andern Seite.« Hormoz streckte den Arm zum Hügel gegenüber.

    Der Betbruder zuckte nicht mit der Wimper. »Gesegneter Bruder, wir wollen keineswegs zur Ruine. Wir sind gekommen, um den Teppich in Empfang zu nehmen.«

    Hormoz ließ das Fladenbrot sinken und runzelte die Stirn. »Einen Teppich? Ich bin Schäfer. Handle ich etwa mit Teppichen?«

    Zugleich fing sein Puls an zu rasen. Woher konnten sie es wissen?

    Von abgestandener Cola war ich auf den mit Tränen verdünnten Geburtstagssekt meines Bruders umgestiegen. Und zu dem Schluss gekommen: Das konnte ich mir nicht bieten lassen.

    Die Tür zu Ruchlings Büro war nur angelehnt. Ich streckte den Kopf hindurch und sah seine bärenhafte Gestalt über den Schreibtisch gebeugt. Neben ihm stand ein Rollkoffer mit einem Mantel darüber und er kritzelte etwas auf einen Block. Letzte Anweisungen für Frau Hambrecht, die Bürovorsteherin. Mein Chef war auf dem Sprung zu einem Großverfahren in Freiburg.

    »Haben Sie eine Sekunde?«

    Ruchling sah hoch und hörte auf zu schreiben. »Kommen Sie rein. Ich wollte sowieso mit Ihnen sprechen, ehe ich fahre.«

    Natürlich sah er mir an, worum es ging. Trotzdem schaute er wie ein Unschuldslamm.

    Ich setzte mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch und lehnte mich mit gekreuzten Armen zurück. »Jan, Herr Seitz, hat mir gerade gesagt, dass Sie ihn zum zweiten Coretech-Verteidiger machen wollen. Er hat aber keine Ahnung vom Fall und ich arbeite daran seit Wochen!«

    »Ich weiß.« Ruchling schob die Kappe mit einem Klick auf den Füller. »Aber in meinen Augen sind Sie noch nicht so weit.«

    Was folgte, waren die Gründe, die ich mir gedacht hatte, nur angereichert um Begriffe wie gravitas und eine spezielle Auslegung von Jans Golfconnection: »Anwalt zu sein, ist eine Kontaktsportart, das sagte ich Ihnen, glaube ich, bereits bei der Einstellung.«

    »Ich habe nun einmal keine Kontakte ins Milieu. Das sagte ich Ihnen, glaube ich, auch.«

    Ruchling verzog das Gesicht. »Wenn Sie es so ausdrücken wollen, ist es mir sogar lieber.«

    Der Sekt ließ den nächsten Satz leicht wie einen Korken zwischen meinen Lippen hervorploppen. »Wie wäre es, wenn ich kündige?«

    Er touchierte kurz mit dem Handrücken die Nase und zog ihn wieder zurück. Ich erkannte die Geste – ein Boxer, der einen Treffer kassiert hatte. Ruchling hatte es als Amateurboxer bis zum baden-württembergischen Jugendmeister im Weltergewicht gebracht. Wie sein Faible für Strafverteidigung war es Teil seiner Jugendrevolte gegen den vermögenden Unternehmervater gewesen.

    »Das wäre schlecht«, sagte er, als er sich gefangen hatte. »Wer bereitet dann den Prozess vor? Herr Seitz und ich haben noch andere Mandate. Und ich nur einen Kopf und zwei Hände.«

    Das war alles?

    »Haben Sie denn schon was?«

    »Campbell, Trigniac & Associates haben mir ein Angebot gemacht«, bluffte ich. In der Großkanzlei in Montreal hatte ich einen Teil der Anwaltsstation des Referendariats absolviert. Wie jetzt war ich in Arbeit versunken und hatte das zweite Staatsexamen auch deshalb ein bisschen in den Sand gesetzt.

    »Was muss ich Ihnen anbieten, damit Sie bleiben? Außer Coretech?«

    Für den Anfang keine zu heiß gewaschene Besenkammer als Büro, flüsterte mir mein innerer Trotzkopf zu. »Ein eigenes Mandat«, sagte ich jedoch vernünftig.

    Ruchling lehnte sich zurück und dachte nach. Und je länger sich die Sekunden zogen, desto heftiger schlug mein Puls. Hatte ich mich verkalkuliert?

    Er seufzte. »Eigentlich kann ich mir so eine Erpressung nicht bieten lassen.«

    Doch dann zog er eine Handakte aus einem Stapel hinter seinem Schreibtisch. »Das ist ein untypischer Fall, den wir sonst kaum annehmen. Vielleicht wäre das ja was für Sie.«

    Er schob mir den prall gefüllten, flaschengrünen Hefter zu und ich schlug ihn auf, erleichtert wie ein Roulettespieler, der alles richtigerweise auf Rot gesetzt hatte. Zuoberst lag das Foto eines soignierten Herrn im Anzug, zwischen sechzig und siebzig. Gepflegter, weißer Vollbart und ein gütiger Blick aus rehbraunen Augen.

    »Das ist Herr Eschenbach«, sagte Ruchling. »Ein erfolgreicher Teppichhändler oder, besser, Galerist. Nur sind ihm in letzter Zeit ein paar unerfreuliche Dinge passiert. Es fing damit an«, zählte er auf, »dass er sich verfolgt fühlte. Erst hat ihn ein Auto von der Straße gedrängt, dann ist er angeblich im Schlaf überfallen worden.«

    »Wieso ›angeblich‹?«, hakte ich ein.

    »Weil es keine Zeugen und Spuren dafür gibt. Genauso wenig wie für die neueste Behauptung, seine Frau habe ihm den Tee vergiftet.«

    »Und … wie kommt er darauf?«

    »Weil … nun, Eschenbach hängt seit einiger Zeit sonderbaren Theorien an. Es hat zu tun mit außerirdischer oder, wie er es nennt, Extrinischer Mathematik in Teppichmustern. ›Extrin‹ steht übrigens für ›Extraterrestrische Instanz‹. Er glaubt anscheinend, den Urhebern sei es lieber, ihre außerordentlichen Möglichkeiten blieben der Menschheit vorerst weiter verborgen.«

    Ich riss die Augen auf. »Und seine Frau steht mit diesen … ›Extrins‹ im Bunde und hat ihn deshalb vergiftet?«

    »So ungefähr, obwohl er selbst das gar nicht behauptet. Er sagt, er kenne das Motiv nicht.«

    Ich hatte mich im Studium am Rande mit Unterbringungsrecht beschäftigt. Dort gehörten Außerirdische zum täglich Brot und bis jetzt klang die Geschichte nicht sonderlich bizarr. Es fehlten die Geheimdienste, Gedankenkontrollstrahlen und anderes Zeugs. Dafür war die Mathematik etwas Neues und, musste ich zugeben, ziemlich Interessantes.

    »Es ist nicht so, wie es auf den ersten Blick scheint«, sagte Ruchling und unterbrach damit meinen Gedankengang. »Ich kenne Herrn Eschenbach von einem früheren Mandat und er wirkte auf mich weder damals noch heute psychisch krank. Der Teppich unter Ihrem Stuhl stammt übrigens aus seiner Galerie.«

    Ich sah zu Boden und fahndete im Gewebe des leuchtend blauen, prachtvollen Persers nach geheimen Formeln oder steganographischen Botschaften fremder Zivilisationen. Stattdessen machten mich der Sekt und die hypnotischen Muster nur schwindlig.

    »Zum anderen«, fuhr Ruchling fort, »wurden in seinem Tee immerhin Spuren von Pflanzenschutzmitteln gefunden. Allerdings laut toxikologischem Gutachten so wenig, dass es sich um Reste vom Anbau handeln dürfte.«

    »Wenn es so ist – was erwartet Herr Eschenbach dann von uns?«, fragte ich mit einer gewissen Enttäuschung.

    »Seine Frau hat inzwischen einen Psychiater eingeschaltet und sie und die Staatsanwaltschaft betreiben auf der Grundlage eines Attests seine Einweisung.«

    »Warum die Staatsanwaltschaft?«, fragte ich verblüfft. »Er ist doch keine Gefahr … nur wegen seiner Theorie.«

    »Aber beim Streit um den Tee hat er den Rechaud aus schwerem Kristall an die Wand geschleudert.«

    »Ojemine. Hat er auf seine Frau gezielt?«

    »Ihm zufolge nein, ihr zufolge ja.«

    Ich betrachtete das Bild des friedlichen alten Herrn und spontan überkam mich Mitleid. »Und jetzt?«

    Der Blick meines Chefs richtete sich auf die Tür. »Ihr Taxi ist da, Herr Doktor Ruchling«, hörte ich von hinten Frau Hambrechts Stimme.

    Er griff nach Stift und Block und stand auf. »Jetzt, Frau Pfennig, kümmern Sie sich um ein psychiatrisches Gegengutachten. Streuen Sie Zweifel und skizzieren Sie eine Theorie, dass alles auch anders gewesen sein könnte. So entgeht er noch einer Einweisung.«

    Meinte er damit, dass Eschenbach tatsächlich von Außerirdischen verfolgt wurde? Ich stand ebenfalls auf und hetzte Ruchling hinterher. »Und wie kann ich ihn erreichen? Ich meine, wohnt er noch bei seiner Frau?«

    »Nein. Ausgezogen. Zurzeit ist er im Iran und kauft Teppiche«, sagte er, ehe er im Aufzug entschwand.

    Die drei warfen einander Blicke zu, als hätten sie mit allem gerechnet, nur nicht damit.

    Der Ältere mit der Gebetskappe, offenbar ihr Anführer, ergriff wieder das Wort: »Gesegneter Bruder, unser Imam hat geweissagt, dass dereinst ein Hirte auf Alamut einen Teppich finden wird, und mir scheint, du wurdest dafür von Allah auserwählt.«

    Hormoz schüttelte den Kopf. »Von Allah auserwählt? Ich?«

    Die Miene des Anführers verfinsterte sich, und der Dürre und das Narbengesicht machten einen Schritt auf ihn zu. Hormoz hatte befürchtet, sie kämen von den Archäologen oben. Jetzt wünschte er fast, es wäre so. Hätte er nur das Gewehr geholt. Aber noch war es nicht zu spät.

    Er zwang sich zu einem Lachen. »Langsam, Brüder! Ich wollte nur sichergehen, dass ihr die Auserwählten seid, die ihn in Empfang nehmen sollen. Wartet, ich bring ihn euch!«

    Er stand auf und ging von ihren bohrenden Blicken begleitet zum Zelt. Dort zog er das Gewehr unter einem Stapel Decken hervor. Es war ungeladen, und es jetzt nachzuholen, würden sie draußen hören. Außerdem wollte er sie nur verjagen, nicht erschießen. Er lauschte nach draußen. Umgekehrt schien ihnen unklar zu sein, dass man durch den Stoff alles mitbekam. Jedenfalls gaben sie sich keine Mühe zu flüstern. Offenbar wunderten sie sich über sein neues Geländemotorrad.

    »Ein Hirte, Scheich Khalil. Woher hat er das Geld?«

    Hormoz lugte durch die Plane und sah das Narbengesicht und den Betbruder neben dem Motorrad. Er brachte das Gewehr in Anschlag, schob mit dem Lauf den Zeltstoff beiseite und kroch vors Zelt, um sie zu überraschen.

    Da explodierte der Schmerz in seinem Kopf in einem weißen Blitz. Er verlor für einen Augenblick das Bewusstsein und ließ das Gewehr fallen. Der Dürre. Er hatte ihn gegen den Kopf getreten und zerrte ihn vors Zelt, während das Narbengesicht die Waffe vom Boden riss und auf ihn richtete.

    »Und jetzt gib uns endlich den Teppich!«, zischte der, den sie Scheich Khalil genannt hatten.

    Hormoz’ Blick fiel auf sein Frühstücksklappmesser. Es lag neben einem Felsen. Wenn er … Sie wussten ja nicht, dass das Gewehr ungeladen war. Er machte eine Bewegung in die Richtung. Doch der Dürre bemerkte es und trat ihm auf die Hand. Es gab ein Übelkeit erregendes, knackendes Geräusch und Hormoz heulte auf.

    Der Dürre packte selbst das Messer, warf sich wie ein Reiter auf ihn und presste ihm die eigene Klinge gegen die Kehle.

    »Von Allah kommen wir«, sagte der Scheich, »und Seine Weisheit hat dafür gesorgt, dass oben in der Nische, in die sich eine deiner Ziegen verirrt haben muss, Spuren geblieben sind.«

    Spuren? Es war stockfinster gewesen, als er … »Du behauptest, ich hätte in der Ruine einen Teppich geklaut? Was zum Scheitan …« Hormoz bäumte sich auf, aber das Messer presste sich nur fester gegen seinen Hals.

    Der Scheich flüsterte seinem Peiniger etwas zu und trat anschließend beiseite. »Wie du willst«, sagte er laut. »Du sollst sehen, wie es Lügnern ergeht.«

    Der Dürre machte eine Bewegung und die Klinge verschwand von Hormoz’ Kehle. Dafür brannte gleich darauf ein Schmerz an seiner Kopfseite. Etwas Warmes floss ihm den Hals herunter, und im Staub vor ihm lag ein blasses, knorpeliges Ding.

    Er erkannte sein Ohr und gab einen erstickten Laut von sich.

    »In der Nische liegen Holzsplitter von einer alten Truhe und Mottenpulver«, sagte der Scheich. »Doch vor allem: Ziegenhaare. Und du bist der einzige Schäfer hier. Allah mag dich ausgewählt haben, den Teppich zu finden. Aber mich hat er erwählt, dir den gierigen Hals durchzuschneiden, wenn du ihn nicht rausrückst. Also …?«

    Hormoz linste zur schneeweißen Laleh, der Ziege, die er selbst mit der Flasche aufgezogen hatte, weil ihre Mutter sie abgelehnt hatte. In der Tat hatte sie sich vor einem Gewitter in eine bis dahin verborgene Nische geflüchtet, die das Erdbeben neulich freigelegt hatte. Jetzt hörte sie auf zu grasen und sah herüber, als verstünde sie, worum es ging. Oh Laleh, was hast du mir angetan.

    Die Schmerzen in der Hand und an der Kopfseite trieben ihm schwarze Punkte vor die Augen und ließen ihn beinah ohnmächtig werden. Golschifteh, Erfans Tochter, verblich zur fernen Erinnerung, ebenso wie sein freudiges Gefühl beim Aufwachen, wie jener verfluchte »Glückstag«, an dem er die Truhe entdeckt hatte.

    »Ich hab ihn doch nicht mehr«, flüsterte er. »Ich hab ihn verkauft. In Teheran, im Basar.«

    »Erbärmlicher!«, schrie der Scheich. »Das Geheimnis aller Geheimnisse! Das wird dich in die Hölle bringen. Sag uns, an wen. Sonst …«

    Hormoz wollte niemanden mit hineinziehen. Aber er wusste, er würde sonst qualvoll sterben.

    2

    Die Geschichte von Isa bin Ismail al-Damaschqi begann vor über siebzig Jahren in einem Waisenhaus von Damaskus. In diesem verbrachte Isa seine Kindheit, bis man ihm, als er sechzehn war, die Tür weisen musste. Ab da verdingte er sich als Tagelöhner. Fand er nicht einmal Arbeit als Fäkalienträger, bettelte er. Lief es gut, hatte er ein Bett in einem übelriechenden Schlafsaal. Lief es schlecht, war sein Dach nur das Sternenzelt. Zu essen hatte er gerade genug und weder konnte er lesen und schreiben noch hatte er eine Frau, weder besaß er einen Koran noch ging er in die Moschee.

    Er kannte niemanden und niemand kannte ihn.

    Trotzdem sprach ihn eines Tages auf der Straße ein vornehm gekleideter älterer Herr an. Der behauptete nicht nur, sein Großonkel zu sein, sondern ließ ihn bei sich wohnen und schickte ihn auf die Koranschule. Vor allem rief er Isa im Sterben liegend zu sich und händigte ihm auf dem Totenbett einige Dokumente aus.

    Eines erwies sich als brüchiges, altes Pergament aus der berühmten Bibliothek von Alamut. Darin stand die Weissagung, einst werde ein Hirte dort einen Teppich finden. In diesem wiederum verberge sich eine Botschaft Mohammeds, die, man höre und staune, vom Mahdi, also Erlöser, und vom Jüngsten Gericht handle.

    Die übrigen Dokumente waren Stammbäume und Geburtsnachweise, die Isa auswiesen als direkten Nachfahren des Propheten in zweiundvierzigster Generation. Zudem als rechtmäßigen Nachfolger Ismaels, des Urenkels von Mohammeds Schwiegersohn Ali im siebten Glied, und Oberhaupt seiner Anhänger, der Ismaeliten. Die wiederum Nachfahren jener Assassinen waren, die der Legende nach den Teppich in ihrer Stammburg verborgen hatten.

    Isas Problem war nur: Jene Ismaeliten besaßen schon einen Anführer. Deshalb reiste er 1956, so viel ist durch Zeitungsberichte verbürgt, in den Iran. Und dort, im Saal eines Teheraner Luxushotels, stellte er den amtierenden Imam zur Rede. Seine Hoheit Aga Khan III war zu Besuch bei den Untertanen, zusammen mit seiner vierten Ehefrau, einer ehemaligen Miss France, und einer Entourage, die unter anderem einen eigenen Hummerkoch umfasste. Der Aga Khan hörte sich die flammenden Reden des jungen Mannes an, der ihn der Dekadenz, der Amtsanmaßung und des Frevels bezichtigte und aufforderte, zu seinen Gunsten zurückzutreten.

    Dann warf er ihn hinaus.

    Einer der Zuhörer jedoch, Ruhollah Khorasani, ein brennender junger Gläubiger, rannte Isa hinterher und bat ihn um ein Treffen, um mehr über ihn zu erfahren. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag in einer Teestube.

    Nur, dazu sollte es nicht kommen. Denn am nächsten Morgen überfuhr, auch dies verbürgt, ein Auto Isa. Der Fahrer flüchtete und wurde nie gefunden. Sofort machten Gerüchte die Runde, Isa sei von Schergen des ruchlosen Aga Khan aus dem Weg geräumt worden. Ruhollah erkundigte sich erschüttert bei der Polizei und bot an, sich um die Beerdigung des Alleinstehenden zu kümmern.

    Doch auch dazu kam es nicht. Ruhollah erfuhr, Isas sterbliche Überreste seien wie viele andere aus dem Leichenschauhaus verschwunden. Heimlich entwendet von einer Bande, die Leichen zur Sektion an Krankenhäuser verschob. Verzweifelt eilte Ruhollah zu Isas Pension, um wenigstens nach Angehörigen zu forschen, die er verständigen konnte.

    In einer Schublade von Isas Zimmer fand er auf der Suche nach einem Namen oder einer Adresse die Abstammungsurkunden und das Pergament sowie eine Übersetzung. »Dereinst«, las er, »wird ein Hirte euch den Teppich bringen. Er stammt von Mohammed selbst und wird weisen euch den Weg zum Paradies, den Heiden zum Höllenfeuer und den Ketzern zum Untergang. So tretet an mit dem Mahdi die Herrschaft der Reinen bis zum Letzten Gericht.«

    Ruhollah schloss daraus: In Wahrheit hatte kein Auto Isa überfahren. Er war nicht tot, sondern selbst der verborgene Imam, unsichtbar, bis jener Teppich auftauchte. Dann würde er als Mahdi zurückkehren mit dem Jüngsten Gericht.

    Und so gründete er, um dereinst Isa zu empfangen, die Bruderschaft der Wahrhaftigen und Treuen Söhne Ismails.

    Knapp sechzig Jahre später und einen Tag, nachdem deren drei Abgesandte Hormoz das Ohr abgeschnitten hatten, stand Kazem Ali Tabrizi im Arbeitszimmer seines Anwesens im vornehmen Londoner Stadtteil Hampstead Heath. Er war Ruhollahs Nachfolger als Scheich, wobei »Nachfolger« den Sachverhalt nur unzulänglich beschrieb. Genau genommen hatte er den längst Hinfälligen im Bett mit einem Kissen erstickt und seinen Platz eingenommen. Nicht bloß war Ruhollah nach allgemeiner Ansicht nicht mehr in der Lage gewesen, Isas Auftrag zu erfüllen, sondern Allah selbst hatte es Tabrizi in einer nächtlichen Vision befohlen.

    Was ihm Sorgen bereitete war, dass der Ärmste es nicht hatte akzeptieren wollen und sich gewehrt hatte. Damit hatte sein verehrter Vorgänger sich versündigt und seitdem schloss Tabrizi ihn in die Gebete mit ein.

    Nach dem Dahinscheiden seines Vorgängers baute er die Sekte aus und gründete neben Täbris, Ruhollahs Heimatstadt, eine weitere Tekke, so viel wie eine Zweigstelle, in Teheran. Was sich allerdings als Missgriff erwies, denn damit geriet er ins Radar der iranischen Religionspolizei, die ihn der Ketzerei und angeblichen Misshandlung von Anhängern beschuldigte. Er wurde im berüchtigten Evin-Gefängnis gefoltert, konnte aber dank Allah und gewisser Geldgeschenke mit den engsten Getreuen nach London fliehen. Von dort aus gründete er Zweigstellen in Europa und dem Nahen Osten. Denn das Heer der Reinen, die Ar­mee des Mahdis, sie sollte wachsen bis zum Tag aller Tage.

    Allerdings plagten ihn mittlerweile Zweifel, ob er diesen an der Spitze der Bruderschaft oder im Grab erleben würde. Eine Unsicherheit, derentwegen er wieder einmal seinen Sohn einbestellt hatte.

    »Hamid, ich habe dir einen Vorschlag zu machen.«

    Gemessenen Schrittes ging er vom Fenster zum Schreibtisch, vor dem sein Ältester auf einem Stuhl Platz genommen hatte. Sein pausbäckiges Gesicht war ausdruckslos, die Gestalt reglos wie ein Kokon. Trotzdem entging Tabrizi nicht das Misstrauen in seinen Augen.

    »Nächstes Frühjahr legst du die Prüfung zum Bachelor ab, richtig?«

    »Ja, Vater, so Allah will, wie du es sagen würdest.«

    »Wie ich es sagen würde? Sieh dich vor! Außerdem sollst du mich mit ›mein Scheich‹ anreden wie alle. Ich bin dein Scheich.«

    »Ja, mein Scheich und mein Vater. Entschuldigt mich.«

    Tabrizi geriet in Wallung und kam schneller zum Thema als erwartet. Er setzte sich in den Sessel, raffte seinen wollenen Umhang und schlug die Beine übereinander.

    »Das ist der springende Punkt. Seit du studierst, bist du kaum noch da. Du entfernst dich von mir, den Söhnen, vor allem von Allah. Dein Bruder sagt, du triffst dich mit seltsamen Leuten, liest Science-Fiction-Romane und betest kaum. Du isst außerdem heimlich Schokolade. Denk nur daran: Die sich im Diesseits die Mägen füllen, werden im Paradies am längsten hungrig bleiben!«

    Hamids Gesicht nahm eine purpurne Farbe an. »Die ›seltsamen Leute‹ sind meine Kommilitonen und wir lernen zusammen. Du selbst hast gesagt, Allah liebt die, die wissen und ihre Arbeit beherrschen. Und was Reza angeht, diesen …«

    »Verdamm nicht den Boten für die Nachricht«, schnitt Tabrizi ihm das Wort ab. »Hamid, wer soll das Werk fortführen, wenn ich einmal älter werde? Du bist unreif, spielst herum, übersiehst den Teufel, der hinter jeder Ecke lauert. Und ich frage mich, ob du nicht am Ende abfällst …«

    Die Starre war aus Hamids Miene gewichen. Tabrizi hatte ihn aufgerüttelt und jetzt konnte er ihn studieren.

    »Ich … falle keineswegs ab. Aber warum muss ich dein Nachfolger werden? Nimm doch Reza!«

    »Ach, Reza …«

    »Oder irgendeinen anderen. Weshalb ich?«

    »Weil ich es so entschieden habe«, sagte er kühl.

    In seinem Sohn kochte es jetzt. Und wie Tabrizi erwartet hatte, flog der Deckel am Ende vom Topf. »Und warum?«, fauchte Hamid. »Weil du Angst hast, ein anderer könnte eines Tages dir ein Kissen aufs Gesicht pressen?«

    Ihn mit der Wahrheit zu bespucken, war verwerflicher als eine Lüge. Tabrizi griff zum Glas auf dem Tablett neben sich und kippte ihm den Pfefferminztee ins Gesicht. »Dafür, dass du die Gerüchte der Feinde Allahs glaubst.«

    Hamid wischte sich schweigend den Tee ab und stopfte die feuchten Blätter in die Jeanstasche. Sein Ausbruch war so schnell vorüber, wie er gekommen war. Es brauchte einiges, um ihn aus der Ruhe zu bringen. Tabrizi hatte früher das Leder etlicher Gürtel an ihm abgewetzt. So wie sein eigener Vater an ihm. Deshalb zog er ihn Reza vor. Nur ein Elefant überlebte zwischen Schlangen.

    »Ich habe dich kommen lassen«, fuhr er fort, als wäre nichts geschehen, »um dir mitzuteilen, dass du im Frühjahr dein Studium unterbrichst. Du wirst für ein halbes oder ganzes Jahr zu Khalil nach Täbris gehen. Dort studierst du den Koran und erforschst Allahs Willen. Dann schauen wir, ob du noch ein Masterstudium aufnimmst.«

    »Wie Ihr wünscht, mein Scheich«, sagte Hamid gepresst. Er sah aus, als wollte er aufstehen. Dann schien ihm noch etwas einzufallen. »Eine Frage noch. Soll ich …«

    In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Tabrizi sah auf die Nummer, ausgerechnet Khalil. Er überlegte, Hamid mithören zu lassen, aber sein Anblick irritierte ihn. Er scheuchte ihn mit einer Handbewegung weg. »Geh und mach dich sauber. Wir reden später.«

    Sein Sohn stand auf. Er verbeugte sich und ging mit abgehackten Schritten aus dem Zimmer.

    »Khalil, was für ein Zufall«, begrüßte Tabrizi seinen Statthalter. »Ich hab dich sowieso anrufen wollen. Es geht um Hamid. Ich wollte dich nämlich bitten …«

    »Mein Scheich«, fiel Khalil ihm ins Wort. »Wenn Ihr erlaubt, es ist etwas sehr Wichtiges geschehen.«

    Wenn er ihn unterbrach, musste es so sein. »Und was?«

    »Der Teppich ist aufgetaucht.«

    »Der Teppich? Wovon redest du?«

    »Mein Scheich, DER Teppich.«

    Nachdem Khalil aufgelegt hatte, starrte Tabrizi zum Porträt Isas an der Wand gegenüber. Es zeigte in Öl gemalt vor einem flammenden Hintergrund einen jungen, fast knabenhaften Mann mit Bart, Turban und leuchtenden Augen. Mit den ausgebreiteten Armen schützte Isa die Rechtgläubigen vor den hinter ihm aus der Hölle kriechenden Missgeburten.

    Würde er bald erscheinen? Und wann und wo? Und was sollte er unternehmen? In Tabrizis Kopf wirbelten die Gedanken wie Geister durcheinander. Schwer atmend setzte er sich wieder. Er nahm die mit einem weißen Turban umwickelte, grüne Filzmütze ab und stellte sie neben sich. Anschließend öffnete er ein Fach im Schreibtisch und holte daraus die Flasche Bushmills und ein Glas. Er goss sich den zwölf Jahre alten Whisky ein und nahm einen langen Zug. Das Wasser schoss ihm in die Augen und Wärme breitete sich in ihm aus. »Verzeih mir, Isa«, flüsterte er und prostete zum Porträt. »Und Allah, verzeih Deinem Diener.«

    Mit dem Trinken hatte er begonnen, nachdem er sich Strom durch den Körper gejagt hatte, um zu beweisen, dass die Liebe zum Erhabenen den Hass seiner ketzerischen Peiniger zu übertrumpfen imstande war. Ja, er hatte Ruhollah erlöst, hatte sich foltern lassen und selbst gefoltert aus Hingabe zu Allah. Nun, ab und zu brauchte er eben ein wenig von der Nachsicht des Höchsten für sich.

    Er trank aus und schloss Flasche und Glas wieder weg. Eine Zeit lang saß er da und genoss die Stille und die Wärme des Alkohols, die ihn einhüllte wie Watte.

    Dann drückte er einen Knopf auf dem Schreibtisch.

    3

    Rahim Baqeri-Schöller öffnete im strömenden Regen die Tür seines Elternhauses in einer Kleinstadt am Rand des Pfälzer Walds. Was Luna daraufhin tat, gab ihm den Rest. Die Nachbarskatze hatte auf der Eingangsstufe unter dem Vordach gewartet. Auf ihn, hatte er gedacht, damit er sie hineinließ und ihr Milch gab wie immer. Automatisch streckte er den Arm aus, um sie zu streicheln. Luna schoss jedoch davon, als hielte er ihr ein brennendes Streichholz ans Fell, und verschwand hinter der Regenwand Richtung Garten.

    Was hatte er ihr getan, was allen Menschen getan, dass sie ihn mieden wie einen Aussätzigen? Er hatte gehofft, sein Leben würde sich verändern, nachdem ihn sein Schulkumpel Mustafa vor zwei Jahren zum ersten Mal zu einer Hadra, einem Gemeinschaftsgebet, der Söhne mitgenommen hatte. Die deutsche Tekke war neu gewesen und wo, wenn nicht hier, hätte er Anschluss finden sollen?

    Am Anfang war es ihm auch wie im Märchen erschienen. Er hörte auf, die Schule zu schwänzen und herumzuhängen, und büffelte fürs Abi. Er, der dank seiner christlichen, deutschen Mutter und seines jüdischen, aus dem Iran stammenden Vaters über Mohammed bis dahin nicht mehr gewusst hatte als über den Weihnachtsmann, studierte auf einmal Arabisch und den heiligen Koran. Wie alle verbrachte er außerdem einen Tag bettelnd, in seinem Fall vor dem Aldi der Nachbarstadt, um das Geld hinterher dem angestammten Bettler zu geben. Hossein Ali, der lokale Scheich, hatte ihm danach die Finger auf die geschlossenen Augen und die eigene Bettelschale in die Hand gedrückt als Zeichen der Aufnahme als Murid. Damit gehörte er zur Familie.

    Und es kam noch besser. Er gewann einen Wettbewerb im auswendigen Rezitieren des Korans und durfte als Einziger aus Deutschland für eine Woche nach London, hatte sogar eine Audienz bei Großscheich Tabrizi. Er träumte nachts immer noch davon. Es war das Beste, was er je erlebt hatte.

    Doch seitdem behandelten sie ihn hier wie die Pest.

    Tief im Inneren wusste er, er hatte es selbst vermasselt. Hatte nichts mitgebracht, gab ein bisschen an, wie ein Pilger nach dem Hadsch, der einen Schuss Staunen und Respekt erwartete. Trotzdem: Jeder andere wäre genau so begrüßt worden. Nur er nicht. Weil er ein Niemand war und es bleiben musste. In der Schule hatten sie ihn als hinkenden Ajatollah verspottet, weil er wegen eines angeborenen Längenunterschieds ein Bein nachzog. Jetzt galt er plötzlich als arroganter Streber.

    Er war dazu verdammt, als hinkender Clown schweigend im Eck zu sitzen, dankbar, dass man ihn nicht wie einen Hund vor die Tür jagte. Und wenn er wie mit dem gewonnenen Wettbewerb einmal einen Erfolg hatte, erwarteten die anderen, dass er sein Licht unter den Scheffel stellte.

    Rahim trat ins Haus und sah auf der Dielenkommode einen weißen Umschlag, den sein Vater ihm wohl hingelegt hatte. Eine abgelehnte Bewerbung. Und ein göttliches Zeichen? Erst geschnitten zu werden wie ein Paria, dann Luna, die lieber in den Regen flüchtete, als sich von ihm streicheln zu lassen. Und nun auch noch das. Nichts als Ablehnung, überall. Konnte es sein, dass er sich den Zorn Allahs zugezogen hatte? Oder hatte Er ihn nur übersehen wie alle anderen zuvor?

    Als er die Tür zu seinem Zimmer im Souterrain aufschloss, standen ihm Tränen in den Augen.

    Dastan war Kommandant der Assassinen, wie Tabrizi seine Leibgarde nannte. Diese hatte er sich zugelegt, nachdem ihn ein Geisteskranker bei einer öffentlichen Hadra mit Apfelsaft übergossen hatte, der ja hätte Säure sein können. Natürlich verkörperte sie dazu den Nukleus der noch diffusen Armee des Mahdis, eine Samenkapsel, die zum rechten Zeitpunkt aufplatzen und die Erde mit Kämpfern übersäen sollte. Aber waren sie schon so weit? Knapp ein Dutzend Leute mit Militär- und Sicherheitsdiensterfahrung. Kampfsport, Messer, ein paar illegale Pistolen. Der Prophet hatte Hunderte von Kriegern besessen und keine gewaltigen Armeen als Gegner gehabt.

    Dazu kam: Er hatte sie bis jetzt nichts aus Sicht der Ungläubigen Ungesetzliches tun lassen. Wie würden sie reagieren? Wie, vor allem, würde Dastan reagieren? Er stand im schiefergrauen Anzug vor ihm, darunter ein schwarzes T-Shirt, trug Dreitagebart und roch nach Moschusrasierwasser. Geschmeidig, konzentriert, äußerlich gelassen. Nur Tabrizi kannte die Säure, die ihn von innen zerfraß, die er aufgehalten, aber nicht entfernt hatte. Er wusste, was Dastan als Kommandosoldat in der britischen Armee bei einem Einsatz im Irak erlebt hatte. Was ihn nach einer Irrfahrt durch Psychiatrien zum Glauben und zu ihm gebracht hatte.

    »Setz dich! Ich habe gerade Ungeheures von unseren Brüdern im Iran erfahren.«

    Dastan Augen weiteten sich und er nahm Platz.

    Tabrizi fuhr fort: »Ehe ich es dir sage, muss ich dich allerdings dazu verpflichten, niemandem davon zu erzählen außer Seyyed.«

    »Gewiss, mein Scheich.«

    »Du bist einer der wenigen, die von der Prophezeiung und dem Teppich wissen, und so soll es vorerst bleiben.«

    Dastans Augen weiteten sich noch mehr und sein Körper spannte sich wie eine Feder.

    »Du erinnerst dich«, sagte Tabrizi, »an den Wachmann auf der Ruine, den Khalil vor geraumer Zeit eingeschleust hat. Nun hat er mitbekommen, dass die Archäologen dort nicht nur eine Nische im Mauerwerk entdeckt haben, sondern auch Spuren einer Truhe, die jemand weggeschafft hat. Einer Kiste, die, darauf deuten Spuren von Mottenpulver hin, einen Teppich beinhaltet haben könnte.«

    Er legte eine dramatische Pause ein. Wie erwartet, riss Dastan die Nachricht beinahe vom Stuhl.

    »Ein Teppich? So wie es prophezeit wurde? Mein Scheich, das hieße ja …«

    »Genau!« Tabrizi hielt es selbst nicht mehr auf dem Sessel. Durchs Zimmer wandernd sagte er: »Khalil hat Erkundigungen eingezogen und ist sogar auf den Schäfer gestoßen, der ihn gefunden hat.«

    »Ein Schäfer … Auch das wie in der Prophezeiung!«

    Dastan sah zum Porträt Isas an der Wand und Tabrizi folgte seinem Blick. Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ja, das hieße die Wiederkehr. Das Jüngste Gericht!«

    Obwohl es das Arkanum ihres Glaubens war: Dastan war genauso vom Donner gerührt wie vorhin er selbst.

    Tabrizi hielt auf seiner Zimmerwanderung inne und zupfte an seinem Bart. »Dastan, ich war zuerst auch fassungslos, habe niemals damit gerechnet, es zu erleben. Nun denke ich aber, es gab Zeichen. Die Finanzkrise, war sie nicht ein Vorbote, eine Strafe für die Ungläubigen mit ihren unheiligen Zinsgeschäften? Und neulich, da sah ich einen feinen Riss in der Mondscheibe. Damals dachte ich, ich hätte mich getäuscht …«

    »Der Gespaltene Mond!«, rief Dastan ehrfürchtig. Sein Blick wanderte von Isas Porträt zum Fernrohr auf der Fensterbank, mit dem Tabrizi seit vielen Jahren den Mond beobachtete. Er war überzeugt, von den zahllosen Vorzeichen der Apokalypse, die der Koran beschrieb, kündigte ausschließlich der zerbrechende Mond das Ende an.

    Tabrizi nickte und schwieg, bis Dastan es verdaut hatte. Dann räusperte er sich. »Leider ist es so, dass jener Hirte den

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