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Celeste - Gott und der König
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Celeste - Gott und der König
eBook405 Seiten5 Stunden

Celeste - Gott und der König

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Über dieses E-Book

1793.
Ganz Frankreich befindet sich im Taumel der Revolution.
Ganz Frankreich ?
Nein! Ein von unbeugsamen Bauernsoldaten bevölkerter Landstrich im Westen Frankreichs leistet den aus Paris entsandten Truppen entschiedenen Widerstand.

An der Spitze einer Kolonne schlecht bewaffneter Bauernsoldaten galoppiert eine Frau im Damensattel: Madame Bulkeley. Ihre Rolle als Anführerin im Bruderkrieg zwischen Anklägern und Fürsprechern der Monarchie bringt die mutige Kämpferin jedoch in eine verzweifelte Lage, aus der es bald keinen Ausweg mehr zu geben scheint.

Diese Romanbiographie beruht auf ausführlichen Recherchen in den regionalen Archiven. Eine bisher unveröffentlichte, authentische Manuskriptsammlung aus dem Jahre 1793 trug zur Entstehung dieses Buches bei. Die in Frankreich lebende Autorin ist passionnierte Reiterin im Damensattel. Sabrina Kiefner hat den Lebenslauf der Lokalheldin und ihrer vier Gatten auf farbenfrohe Weise nachgestellt und in ihrem Erstlingswerk die Schicksale von zwei bedeutenden Frauen kunstvoll miteinander verstrickt. Beide haben zu Lebzeiten eine Pioniersrolle gespielt.

Dieser Historienroman ist für geschichtlich Interessierte und Liebhaber Frankreichs ein Leckerbissen. Schon auf den ersten Seiten gerät der Leser in einen Sog, dem er sich in den folgenden Kapiteln kaum noch entziehen kann.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum25. Sept. 2020
ISBN9783347121324
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    Buchvorschau

    Celeste - Gott und der König - Sabrina Kiefner

    Die Journalistin

    Die Kutsche kriecht die gepflasterte Auffahrt zum Marktplatz von Angers hinauf und bleibt vor einem schmucken Herrenhaus stehen. Aurore hat geschwollene Beine von der langen Reise; seit ihrer Abfahrt aus Paris wechseln sich Postkutschen mit dürftigen Herbergen ab. Beim Aussteigen verfangen sich ihre Schnürstiefelchen in den langen Unterröcken, doch der Kutscher, der die Wagentüre geöffnet und das Trittbrett ausgeklappt hat, reicht ihr gewissenhaft den Arm. Dankend lässt sie sich von ihm stützen, bevor er sich um ihr Gepäck kümmert.

    Eine Bedienstete öffnet die schwere Eichentür. Höflich erkundigt sich Aurore nach der Hausherrin und überreicht die Empfehlung, die ihr Dienstherr vor der Reise erstellt hat, an die ältere Frau. Diese nimmt das Papier entgegen ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen und hält der Reisenden die Türe auf. Aurore betritt einen Empfangsraum mit traumhaften Gobelins, deren verblichene Motive sie ausgiebig bewundert, während die Dienstbotin der Hausherrin die Ankunft der Journalistin der französischen Zeitung Le Figaro ankündigt.

    Den Kaminsims aus dunklem Marmor zieren gerahmte Portraits. Aurore studiert die Kupferstiche, um bekannte Gesichter darauf auszumachen.

    Monsieur de Latouche, der Direktor der Zeitung, die in Paris bereits 1831 einen guten Ruf genießt, hat ihr interessante Lektüre über den Krieg der Vendée angeraten. Um die geplante Aufgabe vorzubereiten, versuchte sie sich ein Bild der wichtigsten Generäle des Aufstands im Westen Frankreichs zu machen. Mit gemischten Gefühlen machte die junge Frau sich mit der Konterrevolution vertraut, die sich wenige Jahre nach dem berüchtigten Sturm auf die Bastille zu einem Bürgerkrieg ausgeweitet hatte. Doch zu ihrer großen Enttäuschung erkennt Aurore keines der Gesichter, abgesehen von einer Reiterin im Vordergrund einer Schlachtszene, die vage Erinnerungen in ihr weckt. Es könnte Madame de Sapinaud sein, die ältere Schwester der Herrin des Hauses. Der Stich bildet eine gelungene, detaillierte Kriegsszene ab, die sie im Damensattel im Galopp zeigt, bewaffnet mit einem leichten Schwert. Madame de Sapinaud hatte mehrere Mitglieder ihrer Familie auf dem Schlachtfeld verloren und Rache geschworen. Sie musste sich daraufhin, genau wie ihre Schwester, der königlichen Armee angeschlossen haben. Aurore hatte in ihren Memoiren geblättert, die von den Baudouin-Brüdern in Paris verlegt worden waren. Beim Betrachten des Bildes fühlt sie sich wie ein stummer Zeuge einer vergangenen Epoche.

    Ihre Großmutter hatte ihr von Madame de Sapinaud erzählt, doch sie verlor nicht viele Worte über die Greuel aus der Zeit der Schreckensherrschaft, die sich wie böse Geister in ihre Erinnerungen eingeschlichen hatten und dort verharrt waren. Sie hatte dennoch die wichstigsten geschichtlichen Ereignisse in einer der Lektionen erwähnt, die sie ihrer Enkelin täglich erteilte. Von der Politik über Naturwissenschaften bis hin zur Botanik sog Aurore all das Wissen in sich auf wie ein Schwamm. Die leibliche Tochter des Marschalls von Sachsen war stolz auf die überschäumende Neugier, die das Mädchen immer wieder zur Schau stellte, indem es überraschende, doch stets relevante Fragen stellte.

    Erst in den schwierigen Wochen kurz vor ihrem Tod, als die Fieberanfälle sich häuften und die alte Frau in tranceähnliche Zustände versetzten, fing sie an, über ihre Erlebnisse während der Revolution zu sprechen, während die Enkelin vergeblich versuchte, sie gesund zu pflegen. Sie entschuldigte sich dabei immer wieder bei Aurore für ihre konfusen, manchmal gar zusammenhanglosen Erinnerungen. Sie wollte die Dämonen ihrer Alpträume dieser unbefangenen, jungen Seele nicht aufbürden, wollte deren inneren Frieden nicht zerrütten. Aurore quälte die Greisin nicht mehr mit Zwischenfragen. Sie gab sich mit der Rolle der aufmerksamen Zuhörerin zufrieden und steckte ihrer Ziehmutter fürsorglich ein weiteres Kissen in den Rücken. Dann hörte sie zum ersten Mal von den Damen, die sich an den Schlachten des Aufstands im Westen beteiligt hatten. Ihre Großmutter hatte sie als die »Amazonen des Chevalier de Charette« bezeichnet.

    Die Rückkehr der Hausangestellten reißt die junge Frau aus ihren Gedanken.

    »Madame erwartet sie in ihren Gemächern im ersten Stock.«

    Aurore hat ihrem Erscheinungsbild ganz besondere Sorgfalt gewidmet. Ihr langes Haar ist zu einem soliden Knoten im Nacken gebunden, ein Überwurf aus weinrotem Samt sollte die weiße, spitzenbesetzte Bluse vor dem Staub der Reise bewahren. Sie folgt der alten Frau, die keuchend die breiten, mit orientalischem Teppich überzogenen Stufen hinauf vorangeht. Auf dem Treppenabsatz wuchern exotische Pflanzen, denen ein Schacht an der hohen Decke das nötige Licht gewährt: Orchideen, mannshohe Kamelien und eine Kletterpflanze mit riesigen, glänzenden Blättern sättigen die Luft mit schweren Vanilleessenzen, in die sich der Duft der Zitronenbäumchen mischt.

    Die Bedienstete klopft leise an die Tür und kündigt Aurore an, dann tritt sie einen Schritt zurück und die junge Frau betritt das geräumige, sonnendurchflutete Zimmer. Celeste ist viel kleiner, als es sich die junge Reporterin vorgestellt hatte, ihre Züge lassen eher auf eine fürsorgliche Großmutter schließen als auf die grimmige Kriegerin aus der reichhaltigen Phantasie Aurores. Das silberne Haar der betagten Dame ist am Hinterkopf aufgebunden. Nur die tiefblauen Augen, die sie anfunkeln, verraten den wachen Geist, den sie sich bewahrt hat.

    Die beiden Frauen tauschen zunächst belanglose Höflichkeiten aus, um sich ihr jeweiliges Gegenüber besser zu erschließen, während der Kaffee serviert wird. Die Dienerin stellt einen Korb mit goldroten Äpfeln und eine Schale mit Biskuitgebäck neben die Tassen, bevor sie die hohen Flügeltüren hinter sich schließt.

    »Mademoiselle, es tut mir leid, dass meine alten Beine mir nicht mehr erlauben, Sie durch das Haus zu führen. Ich bin achtundsiebzig Jahre alt, stellen Sie sich das vor. In diesem Alter braucht man niemanden mehr aus Koketterie über sein Alter wegzutäuschen. Eigentlich bin ich beinahe stolz darauf, obgleich es in unseren Tagen mehr treue Freunde in dieser anderen Welt gibt, die ihre kalte Hand nach mir ausstrecken, als unter meinen lebenden Zeitgenossen. Wer wie ich in einem bewegten Leben viele Male den Tod gestreift hat, weiß jeden neuen Tag des Lebens wie ein Geschenk des Himmels zu schätzen.

    Aber jetzt zu Ihnen! Meine teure Aurore, Sie müssen müde von der langen Reise sein. Sie machen sich gar keine Vorstellung von dem Vergnügen, das mir ihr Besuch macht. Ich werde Sie nur kurze Zeit bei Kaffee und Gebäck zurückhalten, dann wird Agnès, meine treue Seele von Haushälterin, Sie in Ihr Appartement führen, damit Sie sich ausruhen können. Sagen Sie, Aurore, wie alt sind Sie?«

    Die junge Frau fühlt sich etwas eingeschüchtert von der charismatischen Persönlichkeit, die das Alter in diesen Stuhl zwängt, und die es doch verstand, eine ihr eigene, grazile Würde in der kleinsten Bewegung und Geste aufrecht zu erhalten. Trotz der hohen Kopfhaltung verraten ihre Züge nicht das winzigste Anzeichen von Arroganz, der meerblaue Blick ist direkt und gezielt wie ein Blitz. Aurore antwortet nach einem Moment des Zögerns: »Ich habe im letzten Monat meinen siebenundzwanzigsten Geburtstag gefeiert.«

    Die Greisin lächelt verträumt. »Siebenundzwanzig! In diesem Alter habe ich ihre Großmutter kennengelernt. Gott hab sie selig. Marie-Aurore war eine beeindruckende Frau. Mein Gedächtnis spielt mir manchmal Streiche in letzter Zeit, aber ich kann mich noch ganz genau an sie erinnern. Schon bei unserer ersten Begegnung im Hause meines verstorbenen, ersten Gatten, Louis Chappot de la Brossardière, empfand ich große Sympathie für ihre zwanglose, herzliche Art. Auch sie musste viel Schreckliches durchstehen in den dunklen Jahren des Terrors. Sie wäre sicher hocherfreut darüber, dass Sie ihren Ring in Ehren halten, indem Sie ihn tragen, wie ich sehe. Und Sie haben ihre Augen, Aurore.«

    »Sie fehlt mir schrecklich«, erwidert Aurore nachdenklich. »Eines Tages werde ich Recherchen unternehmen, um ihr Leben in einem Roman festzuhalten oder, wer weiß, ihr in meiner Autobiographie einen gebührenden Platz zu widmen.«

    »Dann bleibt zu hoffen, dass Ihnen die Notizen, die sie bei mir machen, dafür nützlich sein werden. Ich werde Ihnen alles sagen, was ich über Ihre Großmutter weiß. Aber zunächst sollten wir uns einigen, wie wir zusammen vorgehen. Lassen sie uns darüber nachdenken und morgen früh beraten.«

    »Ja, Madame, sehr gerne«, antwortet Aurore.

    Sie hat dankend eine zweite Tasse Kaffee angenommen und wagt nun einen Blick auf die alten Bücher der Bibliothek und die Porträts, die in ziselierten Silberrahmen die Regale zieren. Die Reporterin nimmt ihren Mut zusammen und bittet die Hausherrin um Erlaubnis, sich eine der Radierungen genauer ansehen zu dürfen.

    »Aber ich bitte Sie, meine Liebe!« gibt die betagte Gastgeberin zurück, »Neugier ist bei Weitem nicht das Attribut, dass ich als unverzeihliche Schwäche bei einer Frau Ihres Alters ansehen würde.«

    Aurore erhebt sich und geht auf die Radierung zu. Diese zeigt eine junge Frau im Damensattelkleid, die zu Fuß den gefährlich nahen, republikanischen Truppen trotzt. Sie hält in der einen Hand einen Dolch, in der Anderen eine Pistole, die sie mit stechendem Blick auf die Soldaten richtet, die mit ihren Bajonetten drohen. Im Hintergrund zeichnet sich der Rückzug der Royalisten ab, deren Hüte von weißen, langen Federn gezieret sind. Der ruhmreiche Moment auf der Abbildung flößt Aurore große Bewunderung für diese Heldin einer vergessenen Epoche ein. In genau diesem Augenblick entschließt sie sich, alles zu tun, was in ihrer Macht steht, um das gewagte Biographieprojekt durchzuführen, selbst wenn es eine unvermeidliche Verzögerung für die Herausgabe ihres ersten, noch unvollendeten Romans bedeuten, an dem viel Herzblut hängt.

    Celeste scheint dieses Opfer wert zu sein. Aurore kann sich ihre Entscheidung nicht erklären, aber sie spürt, dass sie es mit einer außergewöhnlichen Persönlichkeit zu tun hat. Und plötzlich ist ihr, als könne sie einen vertrauten Geruch wahrnehmen, einen Hauch des Parfums ihrer verstorbenen Großmutter. Es duftet nach Maiglöckchen.

    »Gefällt Ihnen das Bild?« Die heisere Stimme der Hausherrin reißt die junge Frau aus ihren Gedanken. »Der Künstler ist ein Freund, der damals mit auf dem Schlachtfeld war, in La Roche sur Yon. Das war 1793, im späten Sommer. Ist das Datum der Schlacht nicht vermerkt?«

    »Nein, Madame. Hier steht nur Ihr Name, Madame de Bulkeley.«

    »Ach, genaugenommen ist das längst nicht mehr mein Name, wie Sie schon wissen«, antwortet Celeste. »Aber wenn man einmal den Namen eines Helden angenommen hat, dann behält man ihn ein Leben lang, wie mir scheint.«

    Die alte Dame lächelt bei ihren Worten in sich hinein und versinkt daraufhin in einem Tagtraum, während Aurore wieder auf dem breiten Sessel gegenüber des filigranen Teetisches Platz nimmt. Sie trinkt den herrlich gezuckerten Kaffee in einem Schluck aus und entschuldigt sich höflich bei der Gastgeberin, deren Blick große Müdigkeit verrät, bevor sie sich zurückzieht.

    Als sie die großzügigen Räume betritt, die ihr für die Dauer ihres Aufenthalts in Angers zur Verfügung stehen, denkt Aurore noch lange an das Bild Celestes. Sie musste eine wichtige, vielleicht entscheidende Rolle in dieser Schlacht gespielt haben. Die Redakteurin ist ungeduldig zu erfahren, wie es dazu kommen konnte. Sie hat nur eine Woche Zeit, um ihre bisher mageren Notizen über das Leben der Celeste Talour de la Cartrie, besser bekannt unter dem Namen de Bulkeley, zu vervollständigen.

    Henri de Latouche, der sagenumwobene Direktor der Pariser Tageszeitung Le Figaro, hatte ihr die Mission anvertraut, eine Reportage in mehreren Artikeln zu erstellen. Diese sollte in der Art eines Fortsetzungsromans über mehrere Wochen hinweg die Lektüre der namhaften Abonennten bereichern und zusätzliche Leser einbringen. Aurore ist stolz auf diesen Auftrag. Sie ist die erste und einzige weibliche Mitarbeiterin des angesehenen Verlagshaus und träumt von einer unanfechtbaren, dauerhaften Stelle für sich und ihre Schreibfeder. Ihr Verlobter, Jules, glaubt fest an ihr Talent zur Schriftstellerin, ihre Artikel erscheinen unter seinem Autorenkürzel. Jules hatte den Verleger davon überzeugt, Aurore auf die Probe zu stellen.

    Sie ist viel zu aufgeregt von den Ereignissen des Tages, um es sich auf dem Diwan gemütlich zu machen, und beginnt sogleich einen Brief an ihren Geliebten, in dem sie ihm von Eindrücken der Reise und ihrer faszinierenden Gastgeberin berichtet. Aurore beschreibt den wundervollen Ausblick durch die Fenster des zweitens Stockwerks auf das Schloss von Angers, das majestätisch über seinen beeindruckenden Burggräben ruht, Symbol einer vergessenen Ära. In der Ferne fließt die Maine breit und gemächlich durch das grüne Tal, dem bevorstehenden Sonnenuntergang entgegen. Noch sind die Tage lang in diesem trockenen, heißen August des Jahres 1831. Aurore denkt an ihre Großmutter, mit der sie vor langer Zeit an die Loire gereist und durch Angers gekommen war. Ihre Oma war damals schon über siebzig gewesen, das Alter schien jedoch kaum Spuren an ihr zu hinterlassen. Doch dann hatte sich alles schlagartig geändert, bis sie am zweiten Weihnachtsfeiertag vor zehn Jahren verstarb. Aurores Bewunderung für diese freigeistige, kultivierte Frau war maßlos gewesen. Die alte Dame hatte ihre Leidenschaft für die Philosophen, deren ausgewählte Schriften sie dem jungen Mädchen zugänglich gemacht hatte, an ihre Enkelin weitergegeben: Voltaire! Buffon! Rousseau!

    Ist es schwieriger, den Menschen, den wir am meisten lieben, seiner Geistesgegenwärtigkeit beraubt zu sehen oder den Augenblick, in dem er uns für immer mit einem friedlichen Lächeln entschwindet, zu akzeptieren? Heiße Tränen benetzen Aurores blasse Wangen bei den bitteren Erinnerungen an den Tod ihrer geliebten Großmutter. Niemals würde sie die Worte vergessen, die diese ausgesprochen hatte, bevor sie lächelnd diese Welt verließ: »Du verlierst deine beste Freundin«.

    Die große Standuhr zeigt kurz nach neun Uhr an, als die Bedienstete anklopft.

    »Madame lässt sich entschuldigen, sie ist sehr müde. Sie hieß mich, Ihnen dieses bescheidene Abendessen zu bringen. Ich hoffe, es schmeckt Ihnen. Ich habe auch soeben heißes Wasser im Badezimmer vorbereitet. Madame erwartet Sie morgen früh zur von Ihnen gewünschten Stunde.«

    »Wann pflegt Ihre Herrin denn aufzustehen?« erkundigt sich die junge Frau, die sich den Gewohnheiten der Gastgeberin anpassen möchte.

    »Schon um sieben ist Madame jeden Morgen auf den Beinen, sogar sonntags.«

    »Dann bin ich um halb acht unten. Ich danke Ihnen.«

    »Einverstanden, Mademoiselle. Gute Nacht.«

    Aurore kostet von den dicken Scheiben geräucherter Wurst. Das Brot war aufgewärmt worden, es ist herrlich knusprig. Der Ziegenkäse passt zum Rotwein, den sie sich aus einer eleganten Karaffe einschenkt. Dann zündet sie sich eine ihrer schmalen Zigaretten an, die sie in Gegenwart der betagten Dame nicht gewagt hatte, hervorzuholen. Sie öffnet ein Fenster und blickt auf den Fluss, der sich durch das grüne Tal in die Ferne schlängelt und dessen träge Wasser die letzten Strahlen der untergehenden Sonne kupfern widerspiegeln.

    Sie geht zu Bett und schlägt im Schein der großen Kerzen das Werk eines neuen Autoren auf, dessen Name in Paris seit Herausgabe seines ersten Romans in aller Munde ist. Von der ersten Seite an ist sie fasziniert vom eleganten Stil eines gewissen Honoré Balzac und taucht erneut in die Geschichte der Aufständischen im Westen ein. »Der letzte Chouan oder die Bretagne« ist der Titel des zwei Jahre zuvor erschienenen Buches. Die Müdigkeit, die sich durch die lange Reise in Aurores Glieder geschlichen hatte, überfällt sie jedoch und sie löscht das Licht am Ende des ersten Kapitels. Am nächsten Morgen, nach einem tiefen und erholsamen Schlaf, erwacht sie erstaunt in der ungewohnten Umgebung auf und benötigt einen Augenblick, bis sie sich daran erinnert, unter welchen Umständen sie in dieses fremde Zimmer gelangt war.

    Als sie wenig später die Treppenstufen hinabgeht, hört sie leise Stimmen im Salon, dessen Türen offenstehen. Die beiden Frauen wenden sich zu ihr und die Haushälterin erhebt sich schnell von einem Stuhl, der ihr einen kurzen Moment der Ruhe geboten hatte. Celeste begrüßt sie erfreut: »Guten Morgen, Mademoiselle Aurore, haben Sie sich gut von Ihrer langen Reise erholt?«

    »Guten Morgen, meine Damen. Dieses Haus ist so ruhig und friedlich, ich habe wunderbar geschlafen. Ich möchte Ihnen für Ihre großzügige Gastfreundschaft danken.«

    »Setzen Sie sich schnell zu mir. Agnès hat uns Gebäck nach einem alten Rezept bereitet, es wird Ihnen sicher zum Kaffee schmecken.« Aurore nimmt auf dem Sessel Platz, den die Hausangestellte an den Tisch geschoben hatte. Sie probiert eines der winzigen Croissants. Die Herrin des Hauses beobachtet sie und fragt: »Darf ich Sie bei Ihrem Vornamen nennen?«

    »Ja bitte, Madame.«

    »Celeste. Ohne Madame, das scheint mir sehr viel einfacher. Angesichts der knapp bemessenen Zeit, die wir dem Projekt Ihres Direktors widmen können, sollten wir die Förmlichkeiten beiseite legen, denke ich.

    Sie haben großes Glück, werte Aurore, diese Stelle gefunden zu haben. Ich kenne eine Menge respektabler Herren, die zu einigem bereit wären, um an einen solchen Posten zu kommen. Ich hoffe Sie vergeben mir, dass ich zunächst Zweifel hatte, als Monsieur de Latouche Sie erstmals erwähnte, denn auch wenn es nicht ungewöhnlich ist für eine Frau, sich dem Schreiben zuzuwenden – und ich bin überzeugt, dass es unter den Damen genauso viel Talent zum Schreiben gibt wie unter den Herren, seien Sie dessen versichert! Aber dass ein renommierter Verleger vom Schlag Latouches Ihnen eine Mission von solchem Ausmaß anvertraut, schien mir angesichts Ihres jungen Alters, gelinde gesagt, etwas erstaunlich. Erst als ich ein zweites mal darüber nachdachte, habe ich meine Meinung geändert, denn Ihre Anstellung beim Figaro ist ein Beweis für Ihre Leidenschaft für das Schreiben. Offen gestanden war ich vor allem beunruhigt, was den Inhalt der künftigen Veröffentlichung angeht, denn ich möchte Ihnen die Wahrheit über mein Leben sagen, ohne...«, Celeste ringt kurz nach Worten, »...bestimmte Details zu verschweigen, die auf eine zart besaitete Seele schockierend wirken könnten. Deshalb hatte ich zunächst Zweifel an einer jungen Gesprächspartnerin. Hoffentlich fühlen Sie sich durch meine Offenheit nicht gekränkt?«

    »Aber nein, Mada...Celeste! Ich kann Sie nur zu gut verstehen. Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde mich bemühen, eine objektive Zuhörerin für Sie zu sein. Es geht mir vor allem darum, alles zu notieren, was mir wichtig erscheint. Zweifellos werde ich ab und an Fragen stellen müssen, um die Tatsachen besser zu verstehen.«

    »Wie ich bereits Ihrem Direktor erklärt habe, gibt es gewisse Bedingungen, die vom Verleger eingehalten werden müssen. Der Autor, dem ich meine Geschichte anvertraue, wird verpflichtet, alle Informationen wiederzugeben, die ich liefere, oder aber gar keine. Es geht mir darum, dass die Wahrheit ans Licht kommt - die ganze Wahrheit«, fügt Celeste bedeutungsvoll hinzu. »Dies ist in einer Klausel im Vertrag festgehalten, der zwischen Ihrem Dienstherrn und mir unterzeichnet wurde. Hat man Sie darüber informiert?«

    »Ich höre soeben zum ersten Mal davon, aber ich verbürge mich dafür, dass diese Klausel eingehalten wird.«

    »Ah, meine liebe Aurore, Sie sind voller Überraschungen. Ich bin nicht sicher, ob Sie im Namen eines ausgekochten Geschäftsmannes ein derartiges Engagement leisten sollten! Letztendlich hängt es von seiner Entscheidung ab, ob Ihre Kapitel genehmigt werden oder nicht. Doch Ihre Reaktion beweist, dass unser Vorhaben bei Ihnen in guten Händen ist, und ich weiß Ihre Loyalität sehr zu schätzen.«

    »Ich lege Ihnen das Manuskript vor, sobald es fertiggestellt ist. Das gibt Ihnen die Gelegenheit, meine Arbeit zu bewerten, bevor sie meinen Meister erreicht.«

    »Gut, Aurore. Vielleicht haben Sie Lust auf einen Spaziergang, ehe wir uns an die Arbeit machen? Dabei könnten Sie ihre Umgebung kennenlernen. Wir haben alles in unmittelbarer Nähe. Der Markt findet gleich vor der Haustüre statt und morgen früh werden Sie sicher in aller Frühe vom Lärm der Händler geweckt werden. Das Zentrum von Angers siedelt sich um die Geschäftsstraße an, durch die Sie angekommen sind. Die Handwerker und ihre Werkstätten liegen im unteren Bereich der Stadt, der leichter erreichbar ist. Man braucht nicht sehr lange, um das Einkaufsviertel zu besichtigen.«

    Aurore zögert. Sie möchte Celeste gegenüber nicht aufdringlich erscheinen und kämpft gegen ihre eigene Ungeduld an. Sie würde sich gerne so schnell wie möglich an das Werk machen, das sie als zu wichtig und umfangreich ansieht, um aufgeschoben zu werden. Und ihre Neugier ist längst auf dem Höhepunkt angelangt.

    »Ich werde mich mit Freuden zu einem späteren Zeitpunkt auf einen Stadtrundgang begeben, um mich an die Arbeit zu machen, so bald Sie es wünschen.«

    Ein herzliches Lächeln legt Celestes Antlitz in unzählige Falten, unterbrochen von sympathischen Grübchen. Aurore nimmt plötzlich wahr, welch anmutige Schönheit sie früher gewesen sein musste - es scheint geradezu, als kämpften ihre zarten Gesichtszüge gegen die unerwünschten Spuren des Alters an. Wie sehr diese Soldatin im Damensattel einst die Männer fasziniert haben muss, denkt Aurore. Zahlreiche Bewerber sollten sich angezogen fühlen von den krassen Gegensätzen, die Celeste darstellte mit ihrem zierlichen Körper, dem goldblonden Haar, diesen kleinen, weißen Händchen kombiniert mit einer Rachsucht und Grausamkeit, die Frauen von der Allgemeinheit oft verweigert wird, aus welchen Gründen auch immer! Dabei mangelt es der Geschichte der Menschheit nicht an Beispielen...

    »Ungeduld ist das Vorrecht der Jugend«, antwortet Celeste nach einigen Momenten der Nachdenklichkeit, »die Ihre könnte meine Erzählung vorantreiben wie der Wind in den Segeln eines Schiffes. Geben Sie mir bitte eine Viertelstunde Zeit, um meine Notizen zu ordnen und mit Agnès ihre heutigen Aufgaben zu besprechen. Sie schlägt zum Mittagessen Gemüsesuppe vor, gefolgt von einem Zanderfilet; ich hoffe, das ist Ihnen recht?« »Bei diesem Menü läuft mir das Wasser im Mund zusammen«, antwortet Aurore, die ihre anfängliche Schüchternheit dank der Aufmerksamkeiten ihrer Gastgeberin überwunden hat. Die junge Frau zieht sich zurück und geht hinunter in den Hinterhof, wo sie zu ihrem Erstaunen einen liebevoll angelegten Gemüsegarten vorfindet. Ein Rosenbäumchen auf einem dicken, von langen, rötlichen Dornen übersähten Stamm durchtränkt die feuchte Frische des Vormittages im Schatten des hohen Gebäudes mit seinem süßlichen Duft.

    Aurore nimmt auf einer kleinen Bank aus verrostetem Eisen Platz, die an der Hauswand steht. Sie öffnet ihr silbernes Zigarettenetui und hört das Gezwitscher der Vögel in den Zweigen der enormen Zypressen, die über die hohe Mauer des Nachbargrundstücks ragen. Sie ist glücklich, hier zu sein, weit weg von der lärmenden Hauptstadt. Das Leben hier ist süß, die Hitze weniger drückend, die Zeit scheint langsamer zu vergehen, als wäre sie in dieser Gegend versetzt - auf eine unerklärliche Weise langsamer und intensiver zugleich. Dann denkt sie von Neuem an diese verblüffende Frau und an die Worte, die sie mit ihr gewechselt hatte. Sie begreift, wie wichtig dieses Projekt, das allem Anschein nach von langer Hand vorbereitet wurde, für Celeste ist. Sicher spürt ihre Gastgeberin in ihrem stolzen Alter auch, dass ihre Zeit begrenzt ist. Aber....ist es nicht seltsam, dass das von ihrer freundlichen Gastgeberin angegebene Lebensalter nicht mit Aurores Informationen übereinstimmt? Laut der Notizen in dem Heft, das Aurore den Recherchen gewidmet hatte, dürfte die Amazone nicht älter als 72 Jahre sein!

    Aurore blickt mit einem Lächeln auf die perfekt geschnittene Kugel aus unzähligen weißen Rosen, die sie an antike Gemälde der flämischen Meister erinnern. Ihr musste irgendwo ein Irrtum unterlaufen sein, was Celestes Geburtsjahr angeht. Denn keine Frau auf dieser Welt würde ihrem Alter zusätzliche Jahre hinzufügen, wie betagt auch immer sie sein mochte! Das schwache Geschlecht tendiert doch üblicherweise eher zur Unterschlagung des einen oder anderen Lebensjahres...

    Von der Kindheit bis zur Jugend

    »Ich wurde am 14. Mai 1753 in Angers geboren und getauft auf den Namen Celeste Julie Michelle Talour de la Cartrie. Das riesige Landgut, das mein Vater geerbt hatte, war sechs Meilen* von Angers entfernt. La Cartrie, früher Carterie genannt, war einer der besten Schiefersteinbrüche der Region. [* Meile, Fußmeile, Reise- oder Wegstunde: im Gegensatz zur englischen Meile etwa 4 km]

    Ich war das achte Kind in der Familie. Meine Schwester und Patin Julie erzählte mir sehr viel später von den dramatischen Ereignissen, die das Leben meine Eltern kurz nach meinem ersten Geburtstag geprägt hatten. Meine Mutter brachte Zwillingsschwestern zur Welt und war sehr erschöpft von deren schwieriger Geburt. Sie brauchte lange Zeit, um sich davon zu erholen. Als es ihr endlich besser ging, wäre mein Bruder fast den Pocken zum Opfer gefallen. Einer meiner Onkel verstarb kurz darauf an den Komplikation einer Blinddarmoperation, während meine kleinen Schwestern an Herzschwäche litten. Der Gedanke, dass eine weitere Tragödie unsere Familie heimsuchen könnte, nahm daraufhin von meiner Mutter Besitz.

    Ihr Mädchenname war Jeanne Ollivier; sie war die Tochter eines Konsuls der Stadt Angers. Ihre allgegenwärtigen Befürchtungen blieben bestehen, was ihr das Leben keinesfalls leichter machte. Meinen Vater hörte ich oft sagen, Angst sei ein schlechter Ratgeber. Es gab zu dieser Zeit keine Arznei gegen Trübsinn und der Arzt verschrieb ihr Johanniskraut. Das Mittel linderte ihr Leiden, wirkte aber dennoch keine Wunder gegen die Angstzustände, die im Alter von vierzig Jahren an ihr nagten. Ihre Furcht schien mich genährt und abgehärtet zu haben, um mich besser auf die Tragödien, die das Schicksal mir vorbestimmt hatte, vorzubereiten. Ich würde nicht behaupten, dass ich unempfindsam war für Ängste, doch habe ich nie die Seelenqualen kennengelernt, die meine arme Mutter ausstehen musste. Ich war wie die Fohlen, die mein Vater, der königlicher Reitmeister war, aufzog, und die er geduldig auf die Zwänge vorbereitete, die sie in ihrem späteren Pferdeleben erwarteten. Er konfrontierte sie bereits im jüngsten Alter mit allem, was sie erschrecken könnte und bediente sich ihrer natürlichen Neugier, um sie ihre Furcht überwinden zu lassen. Die Offiziere der königlichen Armee rissen sich um die Pferde aus seiner Zucht. Die Tiere stammten aus normännischen Blutlinien ab und fürchteten weder Kanonenschall noch Feuergeruch. Und wie die Fohlen, die auf unseren Weiden geboren wurden, wuchs ich zu einem Wesen heran, das sich seinen Ängsten stellte, ohne sich ihnen auszuliefern.

    Mein Vater, Barthélémy Talour de la Cartrie, war der Nachkomme einer langen Reihe von Rittern und Herren aus der Normandie und besaß außer seinen Ländereien und dem Vieh ein ansehnliches Vermögen. Seine Gepflogenheiten waren die eines einfachen Menschen geblieben; sein bescheidenes Dasein war den damaligen, strengen Traditionen unterworfen. Mit uns Kindern pflegte er strikt zu sein ohne jemals ungerecht zu werden, indem er jedem von uns die gleiche Aufmerksamkeit zukommen ließ. Nachdem meine Mutter zwei Brüder und zwei weitere Schwestern zur Welt gebracht hatte, stellte sie einen jungen Gouvernanten ein, der uns Griechisch und Latein unterrichtete und natürlich das Rechnen, außerdem Völkerkunde und Geschichte. Ich hatte eine glückliche Kindheit im Kreise dieser großen Familie mit vierzehn Kindern, der es an nichts fehlte. Mein Vater stand im Dienst des Königs, er war Rechnungsrat in der Kammer der Bretagne. Wir lebten in der Stadt, verbrachten jedoch die Feiertage und Ferien auf unserem Landbesitz La Cartrie.

    In meiner Erinnerung höre ich noch das Flüstern der Pappeln, die unsere weitläufigen Koppeln umgaben. Ich brauche nur die Augen zu schließen, schon tauchen meine Brüder vor meinem geistigen Auge auf, bei einem ungestümen Wettlauf inmitten der von Korn- und Mohnblumen übersähten Wiesen. Meine älteren Schwestern empfanden nicht das kleinste Vergnügen an unseren Eskapaden und gingen nur selten an die frische Luft – selbst die Reitlektionen, die der alte Stallmeister meines Vaters uns täglich erteilte, weckten kein Interesse bei ihnen.

    Was mich betraf, so hätte ich den ganzen Tag bei den Pferden verbringen können – so sehr faszinierten sie mich seit diesen frühen Tagen, wenn es meine Mutter auch nur ungern sah, dass ich mit verschmutzter Kleidung und meiner

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