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Rue des Maléfices, Straße der Verwünschungen
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eBook530 Seiten6 Stunden

Rue des Maléfices, Straße der Verwünschungen

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Über dieses E-Book

Die Geheimnisse von Paris

Das "größte Buch, das je über Paris geschrieben wurde" (Raymond Queneau): eine Art geheime Chronik des alten Paris, ein Kaleidoskop von Begegnungen und Begebenheiten während der Zeit der deutschen Besatzung. Yonnet, der in diesem Buch seine Erfahrungen als Widerstandskämpfer im Pariser Untergrund verarbeitet, findet Phantastisches und Mythisches im Alltäglichen, und schafft das verdichtete Portrait einer Stadt im Ausnahmezustand. Dabei entwickelt der schnelle Rhythmus seiner brüchigen Sprache, versetzt mit Straßenjargon und Lautsprachlichem, einen Sog von großer poetischer Kraft. Das als Meisterwerk gefeierte Buch blieb, neben einigen wenigen Theaterstücken, Gedichten und journalistischen Arbeiten, sein einziges Werk.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum22. Juni 2013
ISBN9783882214529
Rue des Maléfices, Straße der Verwünschungen

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    Buchvorschau

    Rue des Maléfices, Straße der Verwünschungen - Jacques Yonnet

    KAPITEL I

    Eine sehr alte Stadt ist wie eine Sumpflandschaft, mit ihren Farben und Lichtreflexen, ihrer Kühle und ihrem Morast, ihrem Brodeln, ihren Verwünschungen, ihrem verborgenen Leben.

    Eine Stadt ist ganz Frau, mit ihrem Verlangen und ihrem Widerwillen, ihrem Überschwang und ihrer Entsagung, ihrer Scham – vor allem ihrer Scham.

    Um bis in das Herz einer Stadt vorzudringen, um ihre geheimsten Regungen zu erspüren, muss man mit schier unendlicher Zärtlichkeit vorgehen und mit einer Geduld, die einen manchmal zur Verzweiflung treibt. Man darf sie nur sacht berühren, ohne sie zu bedrängen, sie liebkosen, ohne allzu viele Hintergedanken, dies über Jahrhunderte.

    Die Zeit arbeitet für jene, die sich außerhalb der Zeit bewegen.

    Der kommt nicht wirklich aus Paris, kennt seine eigene Stadt nicht, der sich nicht auf ihre Spukgestalten eingelassen hat. Sich von der grauen Öde durchdringen lassen, eins sein mit dem schemenhaften und farblosen Schatten der toten Winkel, Teil der schweißnassen Masse werden, die immer zur selben Stunde aus den Metrostationen, den Bahnhöfen, den Kinos, den Kirchen strömt oder sickert; dem vereinsamten Spaziergänger ebenso ein stiller und diskreter Bruder sein wie dem Träumer in seiner empfind samen Zurückgezogenheit, dem Schwärmer, dem Bettler und selbst dem Trunkenbold: Dies erfordert eine lange schwierige Lehrzeit, eine genaue Kenntnis der Menschen und der Orte, wie sie nur Jahre geduldiger Beobachtung vermitteln können.

    Gerade in unruhigen Zeiten bricht das wahre Temperament einer Stadt hervor, umso mehr als Paris aus einem Magma von ungefähr sechzig Dörfern besteht. Seit dreizehn Jahren nun mache ich Aufzeichnungen aller Art, vor allem historiographische, denn das ist mein Beruf. Ich schäle heraus, was im Zusammenhang mit Ereignissen steht, deren Zeuge oder deren ganz und gar unbedeutender Protagonist ich war. Eine Art Scham, eine unaussprechliche Angst hinderte mich bis zum heutigen Tag daran, dieses Werk zu Ende zu bringen.

    Vielleicht war es besonderen Umständen zu verdanken, dass die irrationalen Begebenheiten, von denen hier die Rede sein wird, mir als etwas Übernatürliches erschienen – ein Übernatürliches allerdings in Augenhöhe des Menschen.

    Noch in den kleinsten Gegebenheiten, den merkwürdigsten Erscheinungen und Spielen des Zufalls entdeckte ich eine solch strenge Logik, dass ein ständiges Bemühen um die Wahrhaftigkeit des Darzustellenden mich dazu zwang, häufiger, als es vielleicht nötig gewesen wäre, mich selbst auftreten zu lassen. Doch es war von Bedeutung, die Epoche historisch zu verorten, und ich habe diese Epoche intensiver erlebt als viele andere, ich war ihr mit Haut und Haaren verfallen. Im Übrigen wäre es mir niemals in den Sinn gekommen, ein persönliches Abenteuer zu erzählen, wenn ich nicht erkannt hätte, wie eng es mit jenem unendlich komplexeren und interessanteren Abenteuer der Stadt selbst verknüpft ist.

    Es geht hier keineswegs um erfundene Personen, noch um Geschichten, die allein der Vorstellungskraft des Erzählers entstammen – der ebenso gut irgendein anderer hätte sein können.

    Möge man in diesem Buch also nicht das besorgniserregendste, sondern das besorgteste aller Zeugnisse erkennen.

    1941

    Hat man einmal die Insel und die beiden Flussarme überquert, verändert die Stadt ihr Gesicht. Auf dem begrünten Platz, an der Stelle der alten Morgue, wurden Steine verschiedenen Alters aufeinandergesetzt und zementiert, die sich nicht ausstehen können. Sie hassen sich stumm. Ich leide darunter genauso wie sie. Es ist mir unbegreiflich, dass niemand das bedacht hat.

    Die Seine schmollt mit mir. Sie zieht das gleiche Gesicht wie damals, als ich nach einer Reise, die für meinen Geschmack etwas zu lange gedauert hatte, zurückkam, um sie zu begrüßen. Sie ist keine einfache Geliebte.

    Es wird ein harter Winter. Auf dem Pont de la Tournelle sind schon Möwen, dabei ist erst September.

    Im Juni 1940 wurde ich in Boult-sur-Suippe verwundet und gefangengenommen. Ich erfuhr, dass die Deutschen mich als radikalen Journalisten enttarnt hatten. Ich flüchtete bei der ersten Gelegenheit.

    Ich verfüge über etwas Geld. Genug, um zwei Wochen davon zu leben, vielleicht auch drei. Doch an Ausweispapieren besitze ich nur den Wehrpass von Unteroffizier Ybarne, einem Priester ohne Angehörige, der in meinem Lager starb – und einen Entlassungsschein auf denselben Namen, den ich mir zusammengebastelt habe.

    Ich weiß nicht, ob ich eines Tages meinen eigenen Familiennamen wieder annehmen kann. Ich muss mich unentwegt vor den Patrouillen und Razzien in Acht nehmen, vor allem vor denen der französischen Polizisten.

    Ich weiß noch nicht, wo ich schlafen werde. Es fehlt mir nicht an zuverlässigen Freunden: ein gutes Dutzend. Ich bin unter ihren Fenstern herumgeschlichen, doch jedes Mal hat mich der Mut verlassen, sie aufzusuchen.

    Ich habe mit großen Schritten das Ghetto hinter dem Hôtel de Ville durchquert. Ich kenne dort jede Straße und jedes Haus, Stein für Stein. Enttäuscht, fast wütend bin ich wieder weggegangen. Es weht ein Hauch von Hoffnungslosigkeit, von Einwilligung, von Selbstaufgabe. Ich wollte eine energiegeladenere Luft einatmen. Ein gebieterisch drängender Instinkt lenkte meine Schritte ins Quartier Maubert mit seinem geheimnisvollen Lächeln. Die Rue des Grands-Degrés zieht mich magisch an. In mir steigt auf einmal die Gewissheit auf, dass ich dort eine freundschaftliche Hand drücken werde.

    Der Uhrmacher der rückwärts laufenden Zeit

    Die kleine grüne Bretterbude (nicht einmal drei Quadratmeter) ist das »Ladengeschäft« von Cyril, dem Uhrmachermeister. Geboren in Kiew, Gott weiß wann.

    Die alte Georgette, die Wäscherin, eine der Rangältesten der Maube, die noch das Château-Rouge und das Père Lunette gekannt und den Durchbruch der Rue Lagrange erlebt hatte, hatte mir 1938 erzählt: »Großartig der Bursche. Ich hab fast siebzig auf dem Buckel und kenn ihn mein Leben lang. Repariert Wanduhren und verhökert dicke Taschenuhren zu ’nem Spottpreis. Macht nie Ärger. Manchmal ändert er seinen Namen. Sagt, das ist sein gutes Recht. Das ist bestimmt die vierzehnte Puppe, die er sich genehmigt. Mehr als die Hälfte der andern hat er schon begraben. Sieht immer noch frisch aus. Geht mir nicht in die Birne.«

    Das war allerdings eigenartig. Dringlichere Angelegenheiten hatten mich damals davon abgehalten, dem »Fall« Cyril mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Und dann treffe ich ihn einige Zeit später in einem Bistro und erzähle ihm die Geschichte – die ich gerade rekonstruiert hatte – des Gebäudes, an das sich seine Bude lehnt:

    Ein Oberst des Kaiserlichen Heeres – noch aus der Zeit, als alle Oberste tapfer waren – hatte bei Austerlitz ein Bein verloren. Dieser Umstand rechtfertigte seine Versetzung in den Ruhestand. Der Offizier ersuchte den Kaiser um die Erlaubnis, in Begleitung seines Pferdes, mit dem er in inniger Freundschaft verbunden war, nach Paris zurückzukehren. Der Kaiser hatte gerade einen guten Tag. Er willigte ein.

    Oberst und Pferd kauften jenes Haus und ließen es um eine Etage aufstocken. Zum Anwesen gehört ein großer, mit Sandstein gepflasterter Hof. Dort errichtete man mit hohem Kostenaufwand eine riesige Tränke. Denn Seine Exzellenz das Pferd pflegte regelmäßig ein Bad zu nehmen und konnte seinen Durst nur mit fließendem Wasser stillen. Des Obersts Vermögen und seine Rente reichten nicht aus, um die drei oder vier Männer zu entlohnen, die mit ihren Wassereimern zwischen der Seine und dem versiegenden Strom des sybaritischen Hottepferdchens hin- und hersausen mussten. Oberst und Reittier hauchten gleichzeitig ihren Geist aus, der eine an der Brust des anderen.

    Das versetzte Cyril in blendende Laune. Wir tranken viel und wurden saugute Kumpel.

    Cyril hat mir einen Unterschlupf gezeigt. Er führte mich in die Rue Maître-Albert. Eine Straße, die im Bogen zum Quai hinunterführt. Bei Pignol – eine Spelunke – ist es winzig und proppenvoll. Man futtert dort bei geschlossenen Fensterläden.

    Stunde für Stunde kommt die wutschnaubende Patrouille die Straße herauf. Schon von weitem kündigen sich ihre Stiefel an. Es klingt, als ob ihnen der Asphalt bei jedem hallenden Schritt Scheiße antworte. Sobald sie um die Ecke kommen, löschen wir das Licht und halten das Maul. Sie verstehen sich aufs Schänden. Sie dringen mit einer Riesenangst im Leib in die feindliche Nacht ein, so wie man eine Frau, die sich verweigert, mit Gewalt nimmt.

    Stromausfall. Das kommt in diesen Zeiten wohl häufig vor. Die Wirtin, Pignolette – die einzige, der mich Cyril vorgestellt hat –, zündet Kerzen an. Ich betrachte also das Gesicht des Uhrmachers, der bei normalem Licht allerhöchstens wie vierzig wirkt.

    Unzählige parallel verlaufende, außergewöhnlich feine Fältchen durchziehen jeden Millimeter seiner Haut. Er sieht aus wie mumifiziert. In meinem Gedächtnis geistern wieder die Äußerungen der alten Georgette herum. Cyril hat mich dazu gebracht, ihm von meiner Odyssee zu berichten. Nun ist er an der Reihe.

    Er hatte sich unter falschem Namen bei der Fremdenlegion verpflichtet und von Anbeginn der Kampfhandlungen das unverschämte Glück gehabt, sich nicht umsonst zu schlagen. Kriegsverdienstkreuz und Tapferkeitsmedaille. Wurde nie erwischt. Man erlaubte ihm, den Namen zu behalten, den er sich ausgesucht hatte: So kommt es, dass er sich gerade seinen eigenen Gewerbeschein abkauft. Doch seit Cyril mir kürzlich, ich erinnere mich gut, in allen Einzelheiten von den Kämpfen an der französischen Front zwischen 1914–1918 erzählte, an denen er teilgenommen hatte, und auch von den berüchtigten »Massakern von Kiew«, bei denen den an die Bahngleise gefesselten Gelben von in Zeitlupe fahrenden Lokomotiven die Köpfe abgetrennt wurden, macht mir diese Geschichte ganz schön zu schaffen. Diese Geschichte mit der Zeit. Und der Allgegenwart.

    Hier sind angesehene »ehrenwerte« Leute, wegen ihres Dreiteilers, und echte Clochards unter einem Dach versammelt und schlingen alle den gleichen Fraß hinunter. Mir ist ein Brillengesicht am Ende der Bank aufgefallen, sein Bürstenhaarschnitt, seine hervorstehenden Augen mit den dunkel-tiefen Schatten. Cyril flüstert mir zu: »Der soll Dichter sein. Er heißt Robert Desnos.«

    Ich verlange meinen Zimmerschlüssel.

    Die Müdigkeit hat mich extrem empfindsam gemacht. Weit entfernt fährt ein stotternder Lastwagen vorbei. Ich höre ihn, ich fühle, wie er die Rue Monge hinunterfährt. Er wird den Platz umfahren, links in den Boulevard einbiegen. Ich »sehe« ihn. Ich bin mir ganz sicher. Er lässt kubikkilometerweise die Häusermauern erzittern. Heute Abend ist die dreckige Haut des Viertels extrem dünn.

    Hier hilft kein Aspirin – Der Gips blättert ab –

    Wir brauchen Scharlach-Medizin –

    Was solls – Ô Lamartine …

    Dieser runde, schwarze und gepunktete Fleck auf dem Nachttisch ist die altmodische Petroleumlampe, die übel riecht und komplett ausgelaufen ist. Eine schäbige Glühbirne voller Fliegendreck schaukelt kaum merklich über meinem Kopf hin und her. Das lässt die Schatten umhertanzen. Der Lastwagen kommt wieder näher, und die aufgebrachten Schatten finden nicht mehr an ihren Platz zurück: So hat das Zimmer selbst teil an der Beunruhigung, die alles ergriffen hat.

    Die Mobilmachung hatte mich bei der Rückkehr von einer Rundreise durch Osteuropa kalt erwischt. In meiner einem Bohemien alle Ehre machenden Zweizimmerwohnung hatte ich Dokumente und Bücher gehortet, die vom Alten Paris handelten. Bis dahin hatte mir die Zeit gefehlt, sie durchzusehen.

    Ich schlich tagsüber heimlich in meine Wohnung. Die Deutschen hatten sie amtlich versiegelt: Das heißt, es klebten zwei braune Streifen aus so etwas Ähnlichem wie Packpapier, versehen mit Adler und Hakenkreuz, an meiner Tür. Die glauben wohl, die Welt mit derart erbärmlichen Mitteln beeindrucken zu können. Reingehen, ein Bündel aus Wäsche, Dokumenten und Büchern schnüren, alles wieder in Ordnung bringen und mich davonmachen, ohne gesehen zu werden, war für mich ein Kinderspiel.

    Auf diese Weise habe ich mir unter anderem Paris Anecdote von Privat d’Anglemont in der Ausgabe von 1853 wiedergeholt; des Weiteren eine riesige, sehr alte Sammlung von Arrests mémorables du Parlement de Paris und zwei wertvolle, schwer entzifferbare Schriftstücke, anhand derer ich Angaben zu Ereignissen, Orten und Daten nachprüfen kann. Dann hat mir die Nationalbibliothek wieder ihre Pforten geöffnet. Ebenso die Arsenal, die Sainte-Geneviève und die Archive. So konnte ich eine mittelalterliche Legende rekonstruieren, die genau von dem Ort handelt, an dem Cyril seit so vielen Jahren seinem Handwerk nachgeht.

    Die Legende, hier ist sie:

    Im Jahr 1465 begann die Ruelle d’Amboise, die vom Fluss zur Place Maubert führte, im regen Gewimmel des Holzhafens Portaux-Bûches. Die träge Bièvre bildete dort ein Delta, ehe sie ihre schlammige und gerbstoffhaltige Flut mit dem Wasser der Seine vermischte. An dieser Stelle ließ man die noch unzersägten Stämme sich im stehenden Schlamm ansammeln, der sie gegen Fäulnis imprägnierte. Angst schwebte über Paris. Vom Norden her fielen die Truppen Karls des Kühnen in die Stadt ein. Entlang der Loire bedrängten die Bretonen, die sich für die Sache der Burgunder hatten gewinnen lassen, die Anhänger des Herzogs von Maine aufs Härteste. Franz II., Herzog der Bretagne, und der Herzog von Berry hatten sich ebenfalls gegen die Krone und König Ludwig XI. verbündet. In der Stadt selbst zettelten die Burgunder Intrigen an. Die Polizeikräfte wurden davon überrollt und waren ihrer Aufgabe nicht gewachsen. So hatte man auch die strenge Überwachung lockern müssen, der bis dahin die Leibeigenen, Halbsklaven, Nomaden, Hausierer und fliegenden Händler unterworfen waren, die sich entlang der Stadtmauern zusammendrängten.

    An genau der Stelle, wo Cyrils Bude steht, hatte sich ein aus dem Orient kommender Uhrmacher niedergelassen, der zum Christentum konvertiert war und eine große Frömmigkeit an den Tag legte. Er fertigte, verkaufte und reparierte mechanische Uhren, die den Lauf der Stunden unterteilen konnten und damals äußerst kostbar und selten waren.

    Seine Kundschaft setzte sich deshalb nur aus Adeligen und reichen Kaufleuten zusammen. Tristan l’Hermite, der ein Stadtpalais ganz in der Nähe bewohnte, hegte große Bewunderung für die Geschicklichkeit des Uhrmachers und hatte ihn unter seine Fittiche genommen.

    Das Geschäft mit den Uhren entwickelte sich prächtig. Der Orientale hatte seinen barbarischen Namen abgelegt und ließ sich Oswald Biber nennen. Der schlaue Mann lebte äußerst bescheiden, und doch war bekannt, dass er steinreich geworden war. In der Zwischenzeit hatten Zigeuner, die man aus der Cité vertrieben hatte, ihr Lager in der Umgebung des Port-aux-Bûches aufgeschlagen. Sie lasen die Zukunft aus Spuren, die sie mit einem Stock in den Sand kritzelten, aus Frauenhänden und aus Kinderaugen.

    Kirchliche Würdenträger erregten sich und nannten es Magie. Doch gab es im gesamten Hafen nicht genügend Holz, um all jene zu verbrennen, die zu Recht oder zu Unrecht der Hexerei bezichtigt wurden. Die Zigeuner – man nannte sie damals »Ägypter« – unterhielten mit dem Uhrmacher gutnachbarschaftliche Beziehungen. Vielleicht war das der Grund dafür, dass ein Gerücht in Umlauf kam und sich verfestigte, demzufolge der fromme Biber im Besitz verbotener Geheimnisse wäre. Dies war mit der Zeit wahrlich nicht mehr zu leugnen.

    Einige seiner Kunden – die ältesten und die reichsten – schienen die Last der Jahre immer weniger zu verspüren. Sie wurden zusehends jünger, und mit Erstaunen sahen Greise manche ihrer Altersgenossen wieder zu Männern im besten Alter werden …

    Es stellte sich heraus, dass Biber ganz im Verborgenen Uhren für sie angefertigt hatte, die gar nicht daran dachten, die richtige Stunde anzuzeigen: Sie liefen rückwärts. Derjenige, dessen Name auf die Wellen des Uhrwerks graviert war, sah sein Schicksal aufs Engste mit dem des Objekts verbunden. Er trat den Rückweg an, durchlief die Phasen seines bisherigen Lebens rückwärts und wurde immer jünger

    Die Nutznießer dieses wunderbaren Geheimnisses hatten eine Bruderschaft gegründet. Viele Jahre zogen ins Land …

    Dann erhielt Oswald Biber eines Tages Besuch von seiner versammelten Kundenschar. Sie flehten ihn an:

    »Könnt Ihr nicht den Mechanismus, der Meister über unser Leben ist, so umstellen, dass unsere Uhren von nun an wieder richtig gehen?«

    »Ach! Das ist mir nicht möglich … Ihr könnt Euch doch aber glücklich schätzen: Ihr wäret alle schon längst unter der Erde, wenn ich Euch nicht diesen besonderen Dienst erwiesen hätte …«

    »Aber wir wollen nicht mehr jünger werden! Wir fürchten uns vor der Jugend, der besinnungslosen Zeit des Heranwachsens, der dunklen Nacht der frühesten Kindheit und dem unausweichlichen Ende, an dem wir wieder in den Limbus zurückkehren … Wir können die quälende Aussicht auf das unerbittliche Datum, den niedergeschriebenen Zeitpunkt unseres Todes, nicht ertragen …«

    »Ich kann nichts mehr, gar nichts mehr für Euch tun …«

    »Aber warum habt Ihr, den wir seit so vielen Jahren kennen, Euer Aussehen niemals verändert? Es scheint, als wäret Ihr ohne Alter …«

    »Weil der Meister, bei dem ich in längst vergangenen Zeiten in Venedig in der Lehre war und der mir, was ich zutiefst bedaure, nicht all sein Wissen vermittelte, für mich diese Uhr hier angefertigt hat. Ihre Zeiger drehen sich abwechselnd nach links und nach rechts … So altere ich und verjünge mich alle zwei Tage …«

    Wenig überzeugt zogen die Kandidaten für die Ewigkeit von dannen und berieten sich. Es wurde beschlossen, Biber, den Hexenmeister, in der Nacht noch einmal aufzusuchen und ihn mit allen Mitteln zu zwingen, ihren Wünschen zu entsprechen.

    Sie drangen in sein Haus ein, fanden ihn dort aber nicht. Jeder von ihnen war auch mit der heimlichen Absicht gekommen, die Uhr des Hexers zu rauben, diese einzigartige Uhr, die endlich Beruhigung versprach …

    Sie kämpften jeder gegen jeden, unerbittlich, und in ihrem hitzigen Kampf zerbrachen sie das eine Objekt, das alle andern steuerte.

    Ihre Uhren standen auf der Stelle still, und auf der Stelle fielen unsere Jünglinge tot um. Man entdeckte ihre Leichen, die sogleich mit dem großen Kirchenbann belegt und verflucht wurden. Man verscharrte sie in einem Massengrab, an einem Ort, »an welchem der Erdboden so verdorben war, daß dort eine Leiche binnen neun Tagen verweste …«

    Für einen Augenblick bedauerte ich es fast, Cyril davon erzählt zu haben. Ich hatte schon zuvor seine feinsinnigen Gedankengänge bemerkt und die Richtigkeit mancher seiner Ratschläge bewundert. Die einhellige Meinung der Leute im Viertel konnte man folgendermaßen zusammenfassen: Cyril weiß Dinge, die die andern nicht wissen. Doch war mir bis dahin nicht bewusst, dass er der Hüter eines Geheimnisses war – seines eigenen – und dass die Erinnerung daran, ihn derart schmerzlich berührte. Ich hatte nur zu ihm gesagt:

    »Hast du schon einmal von dieser Legende gehört … Die rückwärtslaufende Zeit … Oswald Biber …«

    Er wurde kreidebleich, er begann zu zittern. Er blickte mich entsetzt an und sagte mit hohler, gebrochener Stimme wie zu sich selbst:

    »Du also auch, du weißt davon? Es ist noch viel schlimmer, als ich angenommen hatte …«

    Für einen Moment lag in seinen Augen eine unendliche Seelenpein, aufgetaucht aus den Tiefen der Zeit.

    Dann fing er sich wieder, und wir sprachen von etwas anderem.

    KAPITEL II

    Das besetzte Paris bleibt auf der Hut. Die in ihrem Innersten ungeschändete Stadt ist angespannt und hat, gereizt und verächtlich, ihre inneren Grenzen verstärkt, so wie man auf einem Schiff bei Gefahr die Schotten schließt. Verschwunden ist das vertrauensvolle und wohlwollende Einanderdurchdringen, das zwischen den Dörfern von Paris vor nur wenigen Monaten noch zu spüren war. Von Tag zu Tag fühle ich stärker, wie die jahrhundertealten Gegensätze zwischen La Maubert und La Montagne, La Mouffetard und Les Gobelins wieder aufbrechen und sich verschärfen. Ganz zu schweigen von den durch die Brücken getrennten Stadtteilen: Das rechte Seineufer und das linke Seineufer sind nicht mehr bloß zwei verschiedene Welten, sondern zwei verschiedene Planeten. Ich habe oft das Bedürfnis, mich zu verkriechen, mich allein und still auf einer Bank in einer Ecke zusammenzukauern, wo mich durch die Fensterscheibe das Lächeln eines Pfostens, eines verbündeten Steines erreicht, das allein mir gilt. Und es freut mich, auf dem Mauerstück ein flatterndes Plakat zu erkennen, das in der Tragödie des Morgengrauens mit letzten Kräften einen Hilferuf an mich richtet. Es weiß, dass ich darauf reagiere.

    Ich mache mir das Viertel vertraut. Aber unmöglich, sich wie früher an die gängigen Anstandsregeln zu halten. Ich drehe dem als freundlich geltenden und tadellos aussehenden Bürger, der mir seine dickliche Pfote entgegenstreckt, unmissverständlich den Rücken zu, lasse mich aber bereitwillig von einer kleinen Gruppe sanfter, nach billigem Roten müffelnder Typen belagern, die nun wie Kletten an mir hängen. Da ist Gérard, der Maler, ganz vernarrt in seine eigene Behaarung. Am ersten eines jeden Monats verpasst man ihm den Haarschnitt eines Musketiers; in der zweiten Woche ist er wieder der russische Muschik. Da ist Séverin, der Anarchist, der wegen eines Mädchens desertierte. Und Théophile Trigou. Um jeden Morgen die Messe in Saint-Séverin unbemerkt besuchen zu können, wendet dieser Bretone die Listen eines Indianers auf dem Kriegspfad an – wie wir, wenn wir vortäuschen, von seinen harmlosen Manövern nichts mitzubekommen. Théophile ist ein Lateiner erster Güte, ein Umstand, der uns von Zeit zu Zeit großartige Abende beschert. Wir vier zusammen bilden das »Feine Trüppchen«. So hat uns Pignolette getauft. Sie hat uns ins Herz geschlossen und verwöhnt uns, wo sie nur kann.

    Gestern sind wir ins »Vieux-Chêne« eingefallen, den Sitz des Kommandanten. Ein Offizier der Handelsmarine a.D., wie er leibt und lebt.

    Am schönsten ist es, die Mouffetard, die antike »Via Mons Cetardus«, in der Dämmerung entlang zu streifen. Die Gebäude hier sind nur zwei oder drei Stockwerke hoch. Viele von ihnen tragen spitze Giebel. Nirgendwo in Paris kann der Fußgänger besser als in dieser Straße die Zusammengehörigkeit und tückische Brüderlichkeit spüren, die die Zwillingshäuser miteinander verbindet.

    Sie sind Zwillinge aufgrund ihres Alters, nicht aufgrund ihres Standortes. Wenn eines von ihnen erste Anzeichen von Baufälligkeit aufweist, wenn seine Fassade sich neigt oder wie bei einem Zahnstumpf eine Ecke des Simses ausbricht, kann man sicher sein, dass sein Bruder, der hundert Meter entfernt steht, aber nach demselben Plan konstruiert und von denselben Männern gebaut wurde, sich in den folgenden Stunden ebenfalls ganz wackelig auf den Beinen fühlen wird.

    Die Häuser hier schwingen in gegenseitiger Zuneigung wie die Saiten einer Viola d’amore.

    Wie mehrere Sprengstoffladungen, die sich absprechen, um gemeinsam zu explodieren.

    Der Büßer des verratenen Geheimnisses

    Im »Vieux-Chêne« spielten sich blutige Schlägereien zwischen den Gaunern der Hautevolee ab. Mal Zufluchtsort, mal Ort einer Verschwörung oder eines Verbrechens, war es schon so manches Mal von der Polizei gesperrt worden.

    Ich wollte mich dort, Pfeife im Schnabel, stillen Erinnerungen aus den hintersten Winkeln meines Gedächtnisses hingeben.

    Ich wurde davon abgehalten. Ebenso wie der Wahnsinn existiert Stille nicht ohne Vergleich. Meine Kameraden und ich, wir waren verunsichert, ja fast eingeschüchtert von der Abwesenheit der üblichen Geräuschkulisse, die doch der Garant für unsere ungestörte Einsamkeit war: Das Konzert aus Rülpsen, Gluckern, Gurgeln, aus deklamierten, tremolierten, rezitierten Ungereimtheiten, aus Schimpfwörtern und dem Schnarchen der Betrunkenen – all das fehlte.

    Die kleinen Ganoven aus dem Viertel, die Clochards waren anwesend wie immer. Doch stumm, angespannt, aufmerksam – ängstlich, so schien es – beobachteten sie einen dünnen, hageren Mann, der ganz in Schwarz gekleidet war und vor Dreck starrte. Die Ellbogen auf dem Tisch und nach vorn gebeugt, stierte er mit seinen großen Augen, deren dunkle Ringe bis zum Bart reichten, auf eine frisch entzündete, in einigem Abstand vor ihm aufgestellte Kerze.

    Der Kommandant winkte uns zu – Pst –, ging auf Zehenspitzen zur Tür und zog die Klinke ab.

    Die Minuten versickerten wie Wein aus einem Eichenfass.

    Die Blicke der Ganoven wanderten von der Kerze zu dem Mann – von dem Mann zur Kerze. Ein langer, ein sehr langer Augenblick verstrich. Als die Flamme zwei Drittel ihres Weges verzehrt hatte, dehnte sie sich aus, knisterte, wurde blau und zitterte, trunken wie die ertappte Morgenröte eines unheilvollen Tages. Da fiel mir ein, wer der Mann war. Ich hatte ihn früher einmal gekannt.

    Vom Ende des letzten Krieges an verbrachte ich einen Teil meiner Kindheit – die Sommermonate einiger aufeinanderfolgender Jahre – in E., einem kleinen Marktflecken im Département Eure-et-Loir. Dort hatte ich Spielkameraden, die ganz fasziniert vom Tun und Treiben und den Heldentaten der »Großen«, das heißt der drei oder vier Jahre Älteren, waren.

    Die »Großen« taten so, als verachteten sie uns. Sie hätten sich niemals dazu herabgelassen, mit uns zu spielen, aber es gefiel ihnen, die Bewunderung einer Rasselbande dankbarer Zuschauer auf sich zu ziehen. Der Eingebildetste, der größte Angeber und Aufschneider und manchmal auch der Gemeinste unter den »Großen« hieß Honoré. Wir hassten ihn ebenso sehr, wie wir seinen Vater liebten, der von allen »Maître Thibaudat« genannt wurde. Dieser gute Mann – ich sehe noch seine hohe blaue Schirmmütze, seinen Walrossschnauzer und auf seinem Gesicht den Widerschein seines Schmiedefeuers vor mir – reparierte Landmaschinen. Außerdem war er der Hauptmann der Freiwilligen Feuerwehr, was dort eine große Ehre ist. Jeden Sonntagmorgen versammelte er seine behelmte und mit Federbüschen ausstaffierte Mannschaft zur Feuerwehrübung. Vor dem Rathaus stellte er sie auf wie Zinnsoldaten und kommandierte das Manöver mit seinem dunklen Bass im Dialekt der Beauce:

    »Pumpe! Entrrrollen!

    Alles aaaufgestellt, aaaufm Geeehweg, genau wie letzten Sooontag! He ihr da, aufgepasst die Weibsbilder … wir kommn jetz mit der Feuerspritze …«

    Ach! was hatten wir für einen Spaß.

    Den Rest der Geschichte erfuhr ich später.

    Es gab da noch etwas anderes. Maître Thibaudat war ein »Marcou«. Das bedeutet, er hatte von seinen Vorfahren eine Gabe vererbt bekommen, die immer vom Vater an den Sohn weitergegeben wird, und zwar das Geheimnis, das Feuer zu beherrschen.

    Thibaudat besaß die Fähigkeit, die Glut eines Heuschobers zu löschen oder eine in Brand gesteckte Scheune zu isolieren, und das strategische Geschick, einen Waldbrand einzudämmen. Aber vor allem konnte er heilen! Harmlose Verbrennungen verschwanden in seiner Gegenwart sofort, schwerere konnten ihm auch nur einige Stunden Widerstand leisten. Bei sehr ernsten Fällen ließ man ihn ins Krankenhaus rufen. Dort bewegte er seine Hände über dem vom Feuer angefressenen, brüllenden, vom Ersticken bedrohten Patienten hin und her. Gleichzeitig rezitierte er leise alte Formeln, die nur er allein kannte. Die Schmerzen vergingen augenblicklich. Und das Fleisch und die Haut erneuerten sich in einer Geschwindigkeit, die nicht wenige Ärzte verblüffte. Viele Menschen erinnern sich noch heute an Thibaudat, von Maintenon über Chartres bis Le Mans.

    Es kam der Tag, an dem Maître Thibaudat spürte, dass seine Kräfte nachließen. Er befürchtete, sein Amt nicht mehr länger ausüben zu können. Sein einziger Sohn, Honoré, war inzwischen ein Mann geworden: Sein achtzehnter Geburtstag hatte ihm ein nagelneues Fahrrad und lange Hosen eingebracht. Bereits das dritte Paar.

    Nachdem er seinem Vater das ausdrückliche Versprechen gegeben hatte, absolutes Stillschweigen zu wahren, wurde Honoré in das Familiengeheimnis eingeweiht und damit selbst zum »Marcou«.

    Immer häufiger zog Honoré eine große Schau ab. Er trieb sich weiter mit denselben Kumpeln herum, denn besser gekleidet als sie und mit mehr als genug Taschengeld ausgestattet, konnte er sie auf den ländlichen Bällen in der Gegend leicht ausstechen, besonders damals als die Lohndrescher, unzufrieden mit den Schlampen, die man ihnen im Puff vorsetzte – »sind grad gut genug für Bauerntölpel! können nur im Verein vögeln und wenn sie voll sind wie die Haubitzen!« –, ungeniert die Hausmägde flachlegten, sie schwängerten oder ihnen einen Tripper anhängten, ohne ihnen auch nur die Zeit zu lassen, Luft zu holen, Danke oder Scheiße zu sagen oder nach ihrer Mama zu rufen.

    Honoré hingegen war wenigstens sanft und besaß Finesse. Und die Mittel, seine Partnerinnen für einen halben Tag entgangenen Lohns zu entschädigen. Und jene, diskrete Laken zu finden, unter einer Daunendecke, die man recht schnell, mit einem Stoß aus den Hüften und zwei Stößen mit den Beinen, hochfliegen ließ, hin zu dem blau emaillierten Deckeleimer mit verziertem Rand …

    »Sag schon Honoré, was hatn dein Vater dir erzählt? was musstn du aufsagen, damit die Hitze vergeht? Ein Gebet oder doch ’nen Zauberspruch? Sag mirs he, sags, Honoré …«

    … Des Öfteren vergaß Honoré seinen Schwur und redete. Er hatte die ihm übertragene Fähigkeit bereits an weniger schweren Verbrennungen ausprobiert. Die Patienten hatten sich danach erleichtert gefühlt: Allerdings hatte es viel länger gebraucht, als es beim Vater gedauert hätte. Aber man musste Nachsicht üben. Mit der Zeit würde Honoré sich schon machen …

    Das Hutmachergewerbe von Rambouillet prosperierte. In der Werkstatt saßen zwanzig Frauen vor zwanzig Maschinen und drehten zwanzig »Glocken« aus Strohgeflecht, furchtbare Glockenhüte, dazu bestimmt, die Haarknoten der Trägerinnen einzusperren. Zwei Mädchen aus der Gegend von E. saßen nebeneinander. Eine der beiden rühmte sich, die Reize des schönen Honorés genauer kennengelernt – und genossen – zu haben. Ihre Nachbarin, davon zutiefst getroffen, behauptete, was das anbelangte, die gleichen Detailkenntnisse zu besitzen. Man musste die beiden davon abhalten, sich an die Gurgel zu gehen. Doch die Mädchen waren dickköpfig: Als ihnen die Beschimpfungen ausgingen, warfen sie sich, um die jeweils andere mundtot zu machen, die Formeln an den Kopf, die nie ausgesprochen werden sollten, jene Sätze, die Honoré unvorsichtigerweise preisgegeben hatte.

    Und die freigelassenen Silben schwirrten durch die ganze Stadt …

    … Das Kind, das in den Kamin gefallen war, wurde zu Honoré gebracht, der legte seine Hände auf und begann, vor sich hinzumurmeln. Nach einer Viertelstunde war das Kind tot.

    Da wurden Gerüchte laut. Da packten die Leute ihre Heugabeln, ihre Dreschflegel und manche ihre Gewehre. Der »Marcou« war zum »Malahou« geworden, zum Eidbrüchigen, der seinen Pakt gebrochen und alle verraten hatte!

    Nur unter dem tatkräftigen Schutz der Gendarmerie konnte Honoré sein Fahrrad besteigen und die weit entfernte Bahnstation von Gazeran erreichen, wo der Zug nach Paris hielt.

    Vater Thibaudat starb bald darauf – aus Kummer, hieß es. Honoré, für immer aus der Gegend verbannt, ließ sich auf ein krummes Ding ein. Seinen Militärdienst verbüßte er dann in den Reihen der Bat’d’Af .

    Der erloschene Docht rauchte noch weiter, aus Zerstreutheit oder vielleicht aus Verwunderung.

    Die Ganoven begannen, miteinander zu reden, einer verdächtigte den anderen, der Missetäter zu sein, der von allen unbemerkt die Kerze ausgeblasen hatte. Der Mann in Schwarz wirkte gleichzeitig niedergedrückt und erleichtert.

    Ich weiß nicht, weshalb ich so grausam war.

    »Honoré Thibaudat?« …

    Sein zerfurchtes Gesicht fiel noch mehr in sich zusammen. Die gleiche fassungslose Bestürzung, die gleiche abgrundtiefe Seelenpein, die ich in Cyrils Gesicht gesehen hatte. Nur hielt sie viel länger an. Mit großer Mühe antwortete er mir.

    »Was wollen … Was wollen Sie von mir?«

    »Gar nichts. Bist du nicht der Sohn des Feuerwehrmanns, der auch Marcou war, aus E.? Ich kenne dich von früher.«

    »Na und … wenn schon? Was wollen Sie von mir?«

    »Nichts, glaub mir, ich wollts nur wissen. Komm, trink einen mit.«

    »Er trinkt nur Diabolos«, sagte der Wirt.

    Honoré schien keine Luft zu bekommen. Er flüsterte:

    »Ja … Ja … mit viel Eis.«

    Drei große Gläser voll – in drei Zügen hatte er den Inhalt seiner Limonadenflasche hinuntergeschüttet. Er sah mich an. Dieses Mal mit den Augen eines geprügelten Hundes.

    »Also … Sie kennen die Geschichte?«

    Uns blieben noch zwanzig Minuten bis zur Sperrstunde. Seite an Seite gingen Honoré und ich die Mouffe wieder hinauf. Er zeigte auf ein Kellerfenster: »Ich schlafe dort, im Keller. Da ist es kühler … Seit damals, vor allem seit der Zeit in Afrika, verbrenne ich. Ich verbrenne hier« – mit zitternder Hand berührte er seinen Kehlkopf. »Nichts aufzutreiben, was mir helfen kann. Hab alles versucht, sogar Spritzen. Es kommt trotzdem wieder, mehr noch, es wird schlimmer. Manchmal muss ich sogar echte Glut löschen. Das verzehrt mich. Ich bin schon jetzt ein alter Mann …«

    Das stimmte. Mit seinen vierzig Jahren sah er aus wie siebzig.

    Er schrie, er blökte: »Was soll ich nur machen? … Was soll ich nur machen? …«

    … Und ich ließ den Büßer des verratenen Geheimnisses, der schluchzend in einer Ecke stand, in der Nacht allein zurück.

    DEZEMBER

    Es ist wirklich bitterkalt. Die Leute haben Hunger. Die Rationen reichen nicht aus. Nichts, was den Magen füllt. Die Clochards, die schon seit Jahren zum Inventar gehörten, fallen um wie die Fliegen. Nur die robustesten überleben. Für diejenigen, die sich dazu herablassen, einer Beschäftigung nachzugehen, mangelt es zum Glück nicht an Arbeit. Sie müssen sich nur ab fünf Uhr morgens (vorher ist es nicht erlaubt) auf der Straße einfinden und sich daranmachen, die Mülleimer zu durchsuchen. Noch nie war der Preis von wiederverwertbarem Papier, Stoff und Altmetall so hoch. Und er steigt weiter rasend schnell an. Die Meisterlumpensammler – die Lumpengrossisten – sind gerade dabei, wahre Reichtümer anzuhäufen. Den Clochards ist das schnuppe. Sie wollen nur genug Zaster machen, um irgendwie, irgendwo, irgendwas zu fressen zu kriegen – und sich die Hucke mit billigem Roten volllaufen zu lassen, damit der Rausch sie bis zum nächsten Aufwachen einlullt. Mehr verlangen sie nicht vom Leben.

    Die Schiffswrackpuppe

    Gestern fand man den alten Hubert tot, steif gefroren, hinter seinem Tresen. Die Ratten hatten schon angefangen, das anzuknabbern, was weich und unbekleidet an ihm war: den Hals, die Wangen, das Fleisch der Handflächen. Wir hatten es schon seit Langem kommen sehen. Niemand war überrascht. Auf dem Frontgiebel seines Ladens kann man noch die Aufschrift entziffern:

    CAFÉ – VINS – LIQUEURS – HÔTEL TOUT CONFORT

    »Mit allem Komfort«. Von wegen!

    Rue de Bièvre, Nummer 1a, direkt am Quai. Zwei Stockwerke und ein halbes, was bedeutet, dass man entweder

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