Odéonia, Paris: Eine Liebe, zwei Buchhändlerinnen und die Welt der Bücherfreunde
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Veneda Mühlenbrink erzählt erstmals in einem Roman die facettenreiche Geschichte dieses Paares nach, so wie sie anhand der historischen Fakten vorstellbar wird.
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Buchvorschau
Odéonia, Paris - Veneda Mühlenbrink
…
1. Kapitel
Erkennst du klar, dass sich alle Dinge verändern, dann wirst du an nichts festhalten wollen.
Laotse
Clovis Monnier, Postbeamter auf der Eisenbahn, zitierte immer wieder gern Heraklit: »Alles was zustande kommt, geht auf Mühe und Notwendigkeit zurück.« Vielleicht hatte er damit allzu häufig die Schicksalsgöttin herausgefordert, bis es ihr schließlich zu bunt geworden war. Vielleicht hatte er diese Worte damals gerade durch seine zum Trichter geformten Hände in den Fahrtwind einer qualmenden Lokomotive gebrüllt, jedenfalls durchschlug irgendwann im November des Jahres 1913 der Nachtzug Lyon–Paris im Kopfbahnhof Gare Montparnasse die Glaswand und kam erst eine Etage tiefer auf der Straße zum Stehen. Der Lokführer hatte zu spät gebremst. Eine Zeitungsverkäuferin verlor ihr Leben, Schienen-Postler Monnier ein Bein. Er nahm die Abfindung von der Eisenbahngesellschaft und überließ die ansehnliche Summe seiner Tochter Adrienne zur Geschäftsgründung eines Buchladens.
Zwei Jahre später war es soweit. Adrienne Monniers Traum von einer eigenen Buchhandlung wurde Wirklichkeit. Die Konkurrenz hielt sich in Grenzen: 1915 herrschte Krieg und selbst Buchhändler, waren sie auch noch so intellektuell, fühlten sich berufen, zu den Waffen zu eilen. Patriotismus hielt plötzlich Einzug in die Bohème, deren Vertreter noch gestern schwadroniert hatten, dies sei der Krieg des Imperialismus, das Ende der Privilegierten. August Macke, Franz Marc, Robert Delaunay, einst in Paris Freunde im künstlerischen Geiste, begegneten sich fortan als Feinde auf dem Feld. In den Cafés am Montmartre, in Montparnasse weigerten sich die Kellner, Deutsche zu bedienen. Diese Boches sollten ihrem pickelhaubigen Kaiser doch in den Dreck der Schlachtfelder folgen!
Adrienne verfolgte die Entwicklungen, doch ihre Aufmerksamkeit war ganz darauf gerichtet, einen leerstehenden Laden mit erschwinglichem Mietzins zu finden. In der Rue de l’Odéon entdeckte sie in einem ehemaligen Antiquitätengeschäft die geeignete Immobilie. ›La Maison des Amis des Livres‹ war geboren – an der Rive Gauche, dem linken Ufer der Seine, wo Schriftsteller, Poeten, Übersetzer und Journalisten bei Weißwein und Austern in Cafés wie dem ›Deux Magots‹ über Literatur, Kunst und Politik debattierten. Adrienne war in dieser Szene bislang nichts als ein unbeschriebenes Blatt, Frau noch dazu. Sie selbst sah das durchaus klar. Ihre Liebe zu den Büchern war zwar groß, reichte aber nicht aus, die leere Registrierkasse zu füllen. Beziehungen zu knüpfen schien da unabdinglich. Möglicherweise hatte die Schicksalsgöttin erneut ein Einsehen … Jedenfalls stellte Adriennes Schwester Maria, deren Gatte Paul-Émile sein Geld mit Buchillustrationen verdiente, ihr bei einer Geburtstagsfeier eine junge Verlagsangestellte vor.
Die Beziehung der beiden Buchliebhaberinnen überstieg bald das Berufliche. Suzanne Bonnière, eine elegische Garçonne mit sanfter Stimme, war fortan die Frau in Adriennes Leben. So unverhofft war sie ihr begegnet!
Suzanne versprühte eine Eleganz, die auch von ihrer abgetragenen Kleidung nicht geschmälert wurde, und ihr Geist zeugte von wahrhaft klassischer Melancholie. Sie glich einem jungen Mann, der Belle Époque entsprungen, jener Zeit, die Rebellen mit dem Willen, die Welt zu verändern, hervorgebracht hatte. Bis 1914 die ersten in den Schützengräben fielen.
Adrienne hingegen fühlte sich unscheinbar. Das Gesicht zu pausbäckig, die blonden Haare ohne Glanz, die Kleidung stets langweilig in Schwarzgrau gehalten. Einzig ihre blauen Augen gefielen ihr.
Im Jardin de Luxembourg waren Adrienne einmal zwei alte Frauen aufgefallen, die sich auf einer Bank gegenseitig die Haare kämmten. Die Harmonie zwischen diesen beiden und ihre sichtbare Liebe füreinander hatten sie tief berührt; dasselbe empfand sie nun gegenüber Suzanne.
Am Tage der Eröffnung des Ladens standen die frischgebackenen Buchhändlerinnen aufgeregt kichernd hinter dem Fenstervorhang. Keine traute sich, der ersten eintretenden Kundin das Buch, das sie in die Hand nahm, zu verkaufen. Die Dame mochte darauf bestanden haben, es zu erwerben, denn: Mit 75 Centimes in der Kasse und ungebremstem Stolz verkündete Adrienne am Abend ihre ersten Einnahmen. Das mussten sie gemeinsam feiern – ohne Paul-Émile und Schwester Maria! Suzanne wollte es nicht anders; zu viel Familie. Und die ›Brasserie Lipp‹ musste es sein, mit ihren Keramikkacheln in gelb, blau und grün, auf denen Papageien und Kraniche durch ein buntes Blumenmeer flogen. Alte Metalllüster warfen ihr warmes Licht auf die bemalten Decken und die dunkle Holztheke dieser ›Kantine von ganz Saint-Germain‹ – ein traditionsreiches Künstlerlokal, in dem aber auch Menschen mit Einfluss verkehrten. Wer sich gleich vorne im Eingangsbereich beim bestechlichen Ober Bernard einen Tisch erkaufte, hatte direkt im Blick, ob wichtige Leute durch die Drehtür flanierten. In einem der vielen Wandspiegel sah Adrienne sich auf der ledergepolsterten Bank neben Suzanne sitzen. Käme jetzt einer dieser mittellosen Maler aus der Atelierbaracke des ›Bateau-Lavoir‹ vorbei, hieße sie ihn dieses Spiegelbild in einer Kohleskizze festhalten, um es später in Öl malen zu lassen …
Die 75 Centimes reichten gerade einmal für zwei elsässische Biere, an denen sie den ganzen Abend über nippten.
In den nächsten Wochen und Monaten, nach dem abendlichen Kassensturz, lernten die beiden Frauen die Welt der Poeten und Schriftsteller kennen. Über allen schwebte Apollinaire, der Dichter und Kritiker. Wer ihn kannte, kannte bald die gesamte Literaturszene. Und in ihr gab es auch Frauen! Colette lernten sie bei einem der illustren Salonabende in der Rue Jacob kennen. Sie ließ sich gerade von ihrem Gatten, Baron Henry, scheiden, schrieb nicht länger unter seinem Namen und wohnte bei Natalie Clifford Barney, der Millionenerbin eines amerikanischen Eisenbahnbesitzers, die sich nach dem Vorbild der antiken Dichterin Sappho als Förderin junger hungernder talentierter Künstlerinnen betätigte. Ihr Ruf als ›Amazone von Paris‹ schloss mit ein, dass sie als die größte Herzensbrecherin der Stadt galt. Über Natalies Salonabende sprach man, wenn überhaupt, nur hinter vorgehaltener Hand: Darbietungen von Tänzerinnen in durchsichtigen Tüllschals, mit nackten Brüsten, an deren Nippeln winzige Ponpons klebten! In dieser plüschigen Atmosphäre von dicken Wandteppichen, Schlafsofas und roten Samtdecken roch es nach den schweren Parfums der Damen und nach altem Cognac. Oft kamen über hundert Gäste, ein Tisch im Esszimmer war immer reich gedeckt mit kleinen Gurkensandwichs.
An solchen Salonabenden veränderte sich Suzanne. Adrienne auch: Sie fing an zu rauchen, denn oft hielt sie Suzannes Zigarette. Es gab keine Frau, die nicht mit ihrer Liebsten tanzen wollte, doch wäre es Adrienne dabei nie in den Sinn gekommen, eifersüchtig zu werden. Nicht selten verschwand Suzanne in einem der oberen Räume. Irgendwann später stand sie mit einem Glas Martini im Salon, steckte sich eine Zigarette an und starrte reglos in den Kamin. Oft sprach sie auf dem Heimweg kein einziges Wort, dann wieder wirkte sie total aufgekratzt.
»Komm, lass uns noch ins Dôme gehen!«
Die Arme zu Flügeln ausgebreitet, versuchte sie von einer Mauer zu springen, stolperte und suchte Halt in Adriennes Armen.
»Liebst du mich nicht? Ich will, dass du mich liebst!«
Immer wieder forderte sie Liebesschwüre ein, verlangte in solchen Nächten nachdrücklich, noch von Adrienne geliebt zu werden, nur um kurz darauf die liebkosenden Hände wegzustoßen.
»Ich bin deiner Liebe nicht wert«, musste Adrienne oft von ihr hören und es verletzte sie zutiefst. Am Morgen schien alles wieder gut und Suzanne blieb den ganzen Tag im Bett, las in einem Gedichtband von Rimbaud, schlief und trank Weißwein. Manchmal ging es drei Wochen gut, oder auch nur zwei. Dann kehrte die Wut zurück. Die Abstände zwischen den Ausbrüchen wurden kürzer, die Launen unerträglicher.
»Ich hasse dich! Ich hasse deine verfluchten Bücher! Ich hasse es, wie du herumläufst, wie du dich bewegst!«
Adrienne arbeitete Tag und Nacht. Der Laden sicherte ihre Existenz, er musste florieren.
Eines Tages betrat Paul Valéry ihre Buchhandlung. Paul Valéry! Wie gern hätte sie Suzanne davon erzählt, wie sie es eingefädelt hatte, dass der bekannte Dichter am kommenden Samstag in ihrem Laden eine Lesung geben würde …!
Mit einer ausrangierten Druckerpresse aus dem Verlag ihres Schwagers druckte Adrienne von Apollinaire entworfene Programmzettel und verteilte sie als Einladung an ihre Kundschaft, im Vertrauen darauf, dass sie das geplante Ereignis weitererzählte. Nichts sprach sich in Saint-Germain schneller herum als eine Veranstaltung in einem kostenfrei zugänglichen Raum, in dem ein Ofen, stabile Sitzmöbel und heißer Tee den Kunstgenuss abrundeten. Wenn dazu noch Häppchen gereicht wurden, war der Laden rappelvoll!
Den Künstlern von Paris fehlte es immerzu an Geld, doch kaum hatte jemand für ein Bild, ein Gedicht oder vielleicht einen Fuß in Stein ein paar Franc kassiert, traf man sich im »Dôme‹ oder im ›Deux Magots‹. Die Scheine wanderten auf den Tisch und dem Ober wurde aufgetragen, so lange Bestellungen der Freunde aufzunehmen, bis auch der letzte Sou sich in Nierchen mit Sahnesauce verwandelt hatte und in Château Lafite ersoffen war. Suzanne blieb oft bis zum Morgengrauen. An sommerlichen Tagen öffnete Adrienne um 8.00 Uhr in der Frühe den Laden und ließ sie direkt von der Nachttour herein.
»Sei mir nicht böse, Chérie.«
Dieser Blick hinderte Adrienne immer wieder daran, sie auf der Stelle hinauszuwerfen. Die Verlorenheit darin lähmte sie, jagte ihr Angst ein. Dann kamen ihr die Tränen, oft nächtelang, und dazu plagte sie dieser Schwindel. Er ereilte sie plötzlich, ohne erkennbaren Grund, eine wabernde Masse in ihrem Kopf, begleitet von Herzrasen, Zittern in den Händen und der Furcht, der Zustand könnte anhalten. Die Vorstellung, von Suzanne verlassen zu werden, erschien Adrienne unerträglich. Eines Tages würde sie in den Armen einer anderen Frau liegen bleiben – und was dann?!
Dabei hatten ihre Gefühle für Suzanne durchaus nachgelassen. Der Mensch, den Adrienne einst geliebt hatte, war diese blasse, bissige Frau schon lange nicht mehr. Sie trank zu viel, wirkte ständig reizbar und übermüdet. Am wenigsten hielt Adrienne ihren Sarkasmus aus. Suzanne quälten Depressionen – letztlich kein Wunder in dieser Welt, die Krieg führte, aber deshalb nicht leichter zu ertragen.
Dass häufiger ein paar Franc in der Kasse fehlten, machte die Situation für Adrienne nicht leichter.
Suzanne half nicht mehr im Laden. Eine Aushilfe wurde eingestellt. Hélène pustete sich immerzu Strähnen aus dem Gesicht und sang, während sie die neu eingetroffenen Bücher in Pergament einwickelte. Bestimmt würde sie eines Tages im Théâtre de l’Odéon auftreten! Immerhin, Hélène stand pünktlich und ausgeschlafen am Tresen.
Nachdem Suzanne durch die Ladentür aus ihrem Leben verschwunden war, weinte Adrienne hemmungslos. Sie dachte an die Stunden in ihrem Lieblingsrestaurant, der ›Brasserie Lipp‹, redete sich die schlechten Dinge schön und die guten göttlich. Die Tränen liefen und liefen, als könne sie niemals mehr trockenen Auges auf die Straße gehen.
Hélènes Mitgefühl hielt sich in Grenzen. Sie erkundigte sich knapp, ob Adrienne wahrnehmungsgestört sei. Solange sie hier im Laden arbeite, habe diese Frau doch nur Ärger gebracht. Einmal habe sie ihr, Hélène, sogar einen Griff in die Kasse anhängen wollen!
Von nun an begann jede Veränderung in Adriennes Leben hinter der Schwelle zum Laden, denn sie lebte praktisch in der Buchhandlung.
Eines Morgens betrat Raymonde Linossier den Laden. Adrienne hatte inzwischen ein gutes Auge dafür, ob ihre Kundschaft nur Zeit überbrücken wollte oder sich wirklich für Literatur interessierte. So viel war klar: Raymonde drückte in ihrer charmanten Höflichkeit echtes Interesse aus.
Ein Buch wollte sie dennoch nicht kaufen. Stattdessen zog sie mit langen Fingern ein paar beschriebene Blätter aus einer abgewetzten Ledertasche.
»Kennen Sie jemanden, der meinen kleinen Roman verlegen könnte?«
Sie lächelte spöttisch. Vielleicht, weil es dem Ton ihres Werkes entsprach, vielleicht aber auch, weil dieser Roman wirklich sehr kurz war: fünf Kapitel, das längste von ihnen ganze zwölf Zeilen.
Nachdem sie die ersten Worte gelesen hatte, wusste Adrienne, dass für den Satz von solcherart Literatur nur eine einzige Druckerei in Frage kam, die mit der Exzentrik des Werkes mithalten konnte. Ihr Inhaber war als Soldat eingezogen worden, nun bediente seine freundliche, unerschrockene Gattin die alte Handpresse. So kam es, dass Madame Birault, die sich mutig jeder literarischen und setzerischen Herausforderung stellte, im Keller des Hauses bald die ersten fünfzig Exemplare von Bibi-la-Bibiste druckte – höchst edle Broschüren auf nachempfundenem Japanpapier.
In der von der Verlegerin Margaret Anderson herausgegebenen ›Little Review‹, einer bedeutenden Literaturzeitung, deren Chefredakteur Ezra Pound war, verfasste Adrienne eine Rezension der Bibi, die zum erhofften Ausverkauf der ersten Auflage in nur wenigen Tagen führte. Dieser kurze Text sei üblichen Formen des Schreibens weit voraus, lebendig, authentisch, echt, zukunftsweisend für künftige Literaten. Die Avantgarde ist tot! Es lebe die Avantgarde!
Am Tage der Veröffentlichung ihrer Kritik gingen Raymonde und Adrienne abends ins ›Les Deux Magots‹. Von den Platanen am Boulevard Saint-Germain wehte eine Wolke weißer Blüten auf Tische und Stühle herab. Adrienne, von Allergie geplagt, kam aus dem Niesen gar nicht mehr heraus. Unmöglich, hier draußen Platz zu nehmen, und wenn die laue Frühlingsbrise noch sosehr dazu einlud, dem abendlichen Treiben auf dem hell erleuchteten Boulevard beizuwohnen! Aber Raymonde stellte nur trocken fest, dass drinnen sowieso die wichtigeren Leute säßen. Erleichtert strich Adrienne ihr kurz über die Hand.
Sie fanden einen Tisch im vorderen Bereich. Tatsächlich, hier im Café pulsierte das Leben! Hier rauchte und trank man, redete mit den Händen und fiel sich lauthals ins Wort. Ideen, Notizen, Skizzen wurden auf Papierservietten geworfen, Frauen dazu überredet, Modell zu stehen. Hier saßen all jene, die noch träumten und hofften. Bei Entrecôte und schwerem Rotwein überkam Adrienne unter diesen Menschen eine tiefe innere Ruhe. Überrascht stellte sie fest, dass sie Suzanne nicht länger vermisste. Die neue Bewegung, die in ihr Leben gekommen war, hatte sie in eine andere Richtung geführt, auf einen Weg, der sich gut anfühlte.
Apollinaire betrat das Lokal, ihm galoppierte ein junger Mann mit einem sperrigen Ölbild hinterher. Zielstrebig kamen sie an den Tisch der beiden Frauen. Mit seiner Stirnbinde, die den Einschlag eines Schrapnellsplitters verdeckte, wirkte Apollinaire weniger wie ein Kriegsveteran, sondern eher wie eine Kunstfigur des aufkommenden Dadaismus. Mehrere Operationen waren nötig gewesen seit seiner schweren Verletzung an der Front. Fortan trug Apollinaire den Wundverband über seinem »blutigen Stern« nicht nur als Lorbeerkranz des Dichters, sondern auch als blutdurchtränkte Märtyrerkrone, zu der die ihm verliehene Tapferkeitsmedaille gut passte.
»Die brachliegende Welt, von Dogmen blutig geschlagen, holt leise Atem, verbirgt noch die neue Kraft aus tiefstem Kern. Ein Heer von kreativen Rebellen wird kommen, definiert die Kunst in neuer Form«, deklarierte er mit erhobenem Zeigefinger. Sein junger Begleiter reckte dazu das Gemälde in seinen Händen, hob es für alle sichtbar in den Raum.
»Seht her! Seht diese Kloake aus Blut, Torheit und Dreck! Wir können nicht länger glauben, die alte Welt bliebe. Nieder mit ihr!«
Das Bild sah aus, als hätte der Dichter seinen Stirnverband abgenommen: Durch einen Kopf mit offener Schädeldecke stampften Soldaten. Panzerwagen, Kanonen, stumme Schreie aus zerfetzten Gesichtern mit hohlen Wangen, ein Skelett mit Pickelhaube. Einer der aufgerissenen Münder erbrach abstrakte Bilder. Sinnfreie Worte flogen wie Vögel zwischen den Motiven umher: Apollinaire schrieb Lautgedichte, das Malen lag ihm weniger.
Adrienne musste lächeln, als er nun weihevoll sein bekränztes Haupt senkte und ihr einen Handkuss gab. Raymonde begegnete er mit einer Verbeugung.
»Dürfen wir Ihnen Gesellschaft leisten, die Damen?«
Der junge Mann wartete nicht auf eine Einladung, sondern nahm freimütig Platz.
»Gestatten, André Breton!« Aus der Tasche seines verschlissenen Jacketts zog er eine Packung Zigaretten und bot ihnen an, zuzugreifen. »Heute ist mein Geburtstag und ich habe mich selbst beschenkt. Mit diesem großartigen Bild!«
Apollinaire hatte den Heißsporn im Lazarett kennengelernt. Ein junger Medizinstudent, der nach den menschlichen Abgründen suchte und sie in diesem Krieg zweifelsohne fand, war dort auf einen glühenden Dichter italienisch-polnischer Herkunft getroffen, der darauf brannte, Frankreich zu dienen, und den eine Granate an der Schläfe verletzt hatte, kaum dass er offiziell eingebürgert worden war.
»Möchten Sie mein Alphabet-Gedicht hören?«
Wieder wartete er nicht auf Erlaubnis, sondern begann in gewichtiger Stimmlage die ganze Buchstabenreihe vorzutragen. Adrienne und Raymonde sahen einander an und prusteten los. Apollinaire hielt vor Lachen seinen Stirnverband fest. Irritiert stockte André zwischen R und S. Die beiden Frauen waren sich einig, dass der junge Dichter dringend gleich nächsten Samstag sein Gedicht im ›La Maison‹ zum Besten geben musste.
Nach dem Z setzte Breton zu erneutem Luftholen an und wandte sich Raymonde zu.
»Ist das die berühmte Bibi-la-Bibiste? Verehrteste, zeigen Sie mir die begnadete Hand, mit der Sie ein solches Werk niederschreiben konnten!«
Sie reichte ihm amüsiert ihre Linke und nahm einen Schluck von dem Vermouth Cassis.
»Nun, Monsieur? Können Sie etwas Außergewöhnliches erkennen?«
»Geben Sie mir eine Nacht und ich könnte darin eine wilde Poesie entdecken!«
Apollinaire hob die Augenbrauen und kratzte sich unter der Binde.
»Du Hurensohn, willst du dich wohl entschuldigen!?«
»Pardon, pardon, pardon, pardon, pardon«, stammelte Breton ohne Unterlass, bis Apollinaire ihm eine schmetterte, mit der flachen Hand. André schüttelte sich wie ein nasser Hund und tat so, als wäre nichts geschehen.
»Bereite dich gefälligst auf deine Prüfung vor, damit aus dir ein guter Arzt wird! Als Poet bist du lausig.«
Adrienne wusste, dass Apollinaire es nicht ernst meinte. Der Bursche hatte Talent.
»Ich arbeite seit sechs Monaten in der Irrenanstalt! Was glaubt ihr, was ich da erlebe? Menschliche Körper, sie kommen von den Schlachtfeldern. Ich suche nach einer Versform, die nicht länger das moderne, kriegsgeschädigte Ohr irritiert. Was liegt da näher als DA, DA, DA, die Sprache des unschuldigen Kindes?! Liegt nicht etwas Beruhigendes in der Wiederholung, im Wort ohne Sinn?«
Der junge Mann gefiel Raymonde. Er inspirierte sie auf archaische Weise, gern wollte sie ihn in seiner ganzen Leidenschaft erleben. Zu dem Hotel, in dem sie wohnte, waren es zu Fuß nur fünf Minuten, nichts sprach dagegen, sich gleich auf den Weg zu machen.
»Breton, notier dir die wichtigsten Dinge für deine Verse!«, rief Apollinaire ihnen nach. Im Hinausgehen zog der Angesprochene sein schwarzes Notizbuch aus der Manteltasche und winkte damit seinem Mentor und dem Tisch seiner Freunde auf der anderen Seite zu.
Kaum waren sie fort, nahm Apollinaire fast zärtlich Adriennes kleine Hand zwischen seine großen, dicken Finger, wobei sie sich unwillkürlich vorstellen musste, wie er damit die Frauen berührte und zur Ekstase brachte. Ihr Fall war das nicht, doch es hieß, sie lägen oft und gerne in seinen Armen, wenn er nicht gerade malte oder schrieb. Manchmal tat er alles zugleich, so erzählten die Damen sich. Bei Adrienne konnte er sich entspannen, so sein, wie er war. Seit seiner Verletzung hatte er in Wahrheit oft Schmerzen, fühlte sich müde und niedergeschlagen.
»Geht es dir gut, ma