Wohin gehst du, mein Leben?: Roman
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Über dieses E-Book
Gabriel Josipovici
1940 als Kind russisch-italienischer und rumänisch-levantinischer Eltern in Nizza geboren, wuchs in Kairo auf, studierte in England und lehrte an der School of European Studies der Universität Sussex. Er lebt als freier Schriftsteller in Lewes, England. Zuletzt auf Deutsch: Unendlichkeit (2012).
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Buchvorschau
Wohin gehst du, mein Leben? - Gabriel Josipovici
Er hatte viele Jahre in Paris gelebt. Länger, wie er zu sagen pflegte, als er sich erinnern konnte.
Als meine erste Frau starb, erklärte er dann, schien es keinen Grund mehr zu geben, in England zu bleiben. Also zog er nach Paris und verdiente seinen Unterhalt als Übersetzer.
Das Schöne am Beruf des Übersetzers ist, sagte er immer, dass du es überall machen kannst und deinen Auftraggeber nicht sehen musst. Wenn ein Buch fertig ist, schickst du es ab und erhältst umgehend den Rest des Honorars. Inzwischen hast du bereits mit dem nächsten angefangen.
Er war ein altmodischer Typ, trug bei der Arbeit immer noch Jackett und Krawatte, und Mantel und Hut, wenn er das Haus verließ. Selbst am Höhepunkt des Pariser Sommers unternahm er keinen Gang ohne Hut. In meinem Alter, sagte er, ist es zu spät für eine Veränderung. Im Übrigen bin ich ein Gewohnheitstier, immer gewesen.
Er lebte in einem kleinen Appartement oben in einem abblätternden Gebäude in der rue Lucrèce, hinter dem Panthéon. Um dort hinzukommen, ging man durch die dunkle, enge rue Saint Julien und stieg die steile Stufenflucht hinauf, die einen direkt gegenüber dem Gebäude anlangen ließ. Natürlich gab es auch andere Wege, dort hinzukommen, aber das war der, den er normalerweise ging. Es war, nach seiner Vorstellung, die Art, in der seine kleine Wohnung mit der Welt draußen verbunden war.
Von seinem Schreibtisch aus konnte er, wenn er sich reckte, durch sein Dachfenster den Rand der großen Kuppel des Panthéon sehen. Jeden Morgen, ob Sommer oder Winter, stand er um sechs auf, warf einen raschen Blick, um sicher zu sein, dass das Ungeheuer noch da war, rasierte sich, zog sich an, machte sich ein kleines Frühstück und setzte sich um etwa sieben Uhr fünfzehn zur Arbeit. Bis elf blieb er dabei, dann nahm er Hut und Mantel und stieg hinab zur Welt unten. An der Ecke hielt er für eine Tasse Kaffee, kaufte das Nötige ein, dazu eine Zeitung, und aß dann ein Sandwich zu einem Glas Bier in einem Café in der Nähe. Um ein Uhr dreißig saß er wieder am Schreibtisch, arbeitete bis vier und machte dann Schluss für den Tag.
Das war der Moment, den er am meisten herbeisehnte. Er bewahrte einen Vorrat von langblättrigem, extra importiertem Ceylon-Orange-Pekoe-Tee in einer Holzdose mit aufgedrucktem rotem Drachen und nahm es mit dem Erhitzen der Kanne sehr genau, um den Blättern eine Chance zu geben, sich in der Wärme ihres Bauches zu entfalten, und auch damit, wie lange er sie ziehen ließ, nachdem das kochende Wasser einmal eingegossen war. Nach dem Tee erlaubte er sich im Frühling und im Sommer einen Spaziergang durch die Stadt. Manchmal brachte ihn das hinunter zum Fluss, dann wieder zum Jardin du Luxembourg oder sogar bis zum Friedhof von Montparnasse, früher bekannt als Cimetière du sud, wo Baudelaire begraben ist. Wenn er sich besonders wohl fühlte oder gar abenteuerlustig, überquerte er den Fluss und spazierte die rue du Temple hinauf und durch das Judenviertel oder er nahm einen Bus nach Pigalle und ging die rue des Martyrs und den Boulevard de Montmartre entlang, durch die überdachten Passagen und in die Gärten des Palais Royal und so zum Louvre und zurück zum Fluss. An Sonntagen pflegte er bei Gelegenheit mit der Métro zum Flohmarkt an der Porte de Clignancourt zu fahren und in dem wunderlichen Elendsviertel herumzugehen, wo man alles Mögliche kaufen konnte, von Lederjacken bis zu Artdéco-Lampenschirmen, von riesigen Küchentischen, die jahrhundertelang in Bauernhäusern der Normandie gestanden waren, bis zu Festgewändern vergangener afrikanischer Könige, und wo er einmal Benjamin Britten und Peter Pears dabei beobachtet hatte, wie sie gerade ein großes grünes Lingam aus Kalkstein begutachteten.
Gegen sieben Uhr dreißig war er immer zurück, rechtzeitig für seinen reservierten Platz in einem Bistro in der Nähe. Er aß dann, was auch immer ihm hingestellt wurde, und zahlte einmal im Monat, ohne die Rechnung zu diskutieren. Nach dem Abendessen pflegte er in seine Wohnung zurückzukehren, ein wenig zu lesen oder Musik zu hören. Er hatte eine gute Sammlung Alter Musik, und seine einzige Schwäche war es, sie gelegentlich zu ergänzen – Harnoncourt und den Concentus Musicus aus Wien bewunderte er besonders, und oft legte er sich ihre großartige Aufnahme von Monteverdis Orfeo mit der umwerfenden Jeanne Deroubaix als Botin auf:
A te ne vengo Orfeo,
Messagiera infelice,
Di caso più infelice e più funesto:
La tua bella Euridice …
Zu dir komme ich, Orpheus,
Unglückliche Botin
Schrecklichsten Vorkommnisses.
Deine schöne Eurydike …
Manchmal bist du auch in Konzerte gegangen, unterbrach seine Frau – seine zweite Frau – ihn dann. Und er schien diese Unterbrechungen zu brauchen, er war ein Meister darin, sie in sein Gerede einzuflechten, indem er sie als Sprungbrett zur Entwicklung seines Themas nutzte.
Durchaus, fuhr er dann fort, aber nicht oft; Konzerte waren teuer und außerdem, nach London waren Konzerte in Paris fast immer eine Enttäuschung.
Wir hören auch hier sehr viele, sagte seine Frau dann und verwies auf die Reihen von LPs in den Regalen. Freunde, die das Wochenende mit ihnen verbrachten, und Nachbarn, die in ihrem umgebauten Bauernhaus in den Black Mountains hoch über Abergavenny bisweilen dazukamen, wurden für einen Abend mit Barockmusik aus ihrer ausgezeichneten Hi-Fi-Anlage unterhalten. Seine Frau, eine hübsche Dame mit üppigem rotem Haar, das sich auf ihrem Kopf türmte, pflegte ihm die Schallplatten ehrfürchtig zu reichen, nachdem sie sie mit einem speziellen Staubtuch abgewischt hatte, überließ die abschließenden Gesten – das Auflegen der Platte auf die Drehscheibe, das Ingangsetzen des Apparates, das Aufsetzen der Nadel, das Schließen des Deckels – ihm.
Ich bin so ungebildet, sagte sie immer. Als ich ihn kennenlernte, dachte ich, eine Sarabande sei etwas, was man um den Bauch trägt.
Du hattest andere Vorzüge, sagte er dann mit einem Lächeln.
Aber Verständnis für klassische Musik gehörte nicht dazu, sagte sie dann immer.
Zwischen den Platten erzählte er oft von seinen Pariser Jahren. Was er nach dem Tod seiner ersten Frau am meisten brauchte, war Einsamkeit, sagte er. Nicht dass er darüber brüten wollte, was passiert war, er wollte einfach allein sein. Ich vermute, ich habe mehr Arbeit angenommen, als unbedingt nötig war, sagte er dann, aber ich denke, ich brauchte das Gefühl, dass, wenn ein Buch zu Ende gebracht war, immer ein anderes auf mich wartete, und dann wieder eines.
Bisweilen, frühmorgens im Frühling oder Sommer, wenn das Licht überaus sanft den runden Bauch seiner glasierten Steingutteekanne erreichte, war er erfüllt von einem Empfinden außerordentlichen Friedens und Wohlgefühls.
Ich hätte nie solche Augenblicke erlebt, wenn ich nicht allein gewesen wäre, sagte er dann. Und letztlich sind es doch gerade diese Augenblicke, die man liebt und nicht vergisst.
Wenn er an späten Nachmittagen nach getaner Arbeit durch die Stadt spazierte, überkamen ihn gelegentlich Einbildungen vom Ertrinken, ein lebhaftes Gefühl bestürzter Gesichter am Ufer oder auf der Brücke über ihm oder vielleicht an Deck eines vorüberziehenden Bootes, und dann würden die Wellen sich über ihm schließen und er würde sanft hinabsinken, nach und nach ein Fingerglied verlieren oder eine dicht gekräuselte Seele und dann auf dem sandigen Grund liegen, friedlich von der Strömung geschaukelt.
Er wusste, dass solche Gefühle etwas Neurotisches hatten, sogar etwas Gefährliches, aber er war nicht übermäßig verängstigt und spürte, dass es besser war, sie zu ertragen, als zu versuchen, sie einfach beiseite zu schieben. Schließlich hat jeder Fantasien. In dem einen Leben sind viele Leben. Andere Leben. Einige werden gelebt und andere sind eingebildet. Das ist das Absurde an Biographien, würde er sagen, an