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Nur das Geistige zählt: Vom Bauhaus in die Welt - Erinnerungen
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Nur das Geistige zählt: Vom Bauhaus in die Welt - Erinnerungen
eBook297 Seiten4 Stunden

Nur das Geistige zählt: Vom Bauhaus in die Welt - Erinnerungen

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Über dieses E-Book

Bublitz, Kolberg, Weimar, Berlin, Paris, Tunesien, Algerien, Nord-Mittel-Südamerika, New York, Basel, Paris - das sind nur einige Stationen in Ré Soupaults Leben als Bauhaus-Schülerin, Avantgarde-Filmerin, Modejournalistin, Modemacherin, Fotografin, Übersetzerin, Studentin bei Karl Jaspers, Radio-Essayistin, Schrifstellerin.
Ihre Erinnerungen verfasste sie schon in den 1970er Jahren. Sie verarbeitete darin u.a. ihre Tagebücher. Mit ihrem unbestechlichen, klaren Blick ist sie eine besondere Zeitzeugin einer durch zwei Weltkriege geprägten Welt im Umbruch. Ihre Begegnungen u.a. mit Max Ernst, Johannes Itten, Otto Umbehr, Viking Eggeling, Werner Graeff, Man Ray, Paul Poiret, Fernand Léger, Philippe Soupault, Helen Hessel, Stéphane Hessel, Gisèle Freund, Kiki vom Montparnasse, Elsa Triolet, Claire Goll, Lisa Tetzner, Lotte Lenya, Kurt Weill, Walter Mehring, Erich Maria Remarque, Mies van der Rohe, Walter Gropius, Kurt Schwitters, André Gide, vermitteln uns einen einmaligen Eindruck vom kulturellen Leben der europäischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts.
Bis kurz vor ihrem Tod arbeitete sie an der Fortschreibung ihrer Erinnerungen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum9. März 2018
ISBN9783884235898
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    Buchvorschau

    Nur das Geistige zählt - Ré Soupault

    131).

    Pommern

    Es gibt zwei Wege im Leben: der eine führt nach außen: Karriere, Geltung, Besitz… der andere nach innen: Arbeit, aber ohne Rücksicht auf äußeren Erfolg, schöpferische Arbeit, die ihren Lohn in sich selbst findet. Der Gedanke richtet sich auf die geistigen Errungenschaften des Menschen, dem Forschen nach dem Sinn des Lebens. Beispiele dafür sind die Philosophen der Antike, vor allem die Griechen. Es gehören dazu auch die sogenannten Religions-gründer wie Jesus und Buddha.

    Eine solche Lebenshaltung bestimmt zugleich den Umgang mit anderen Menschen: niemandem die eigene Erkenntnis aufdrängen, die Persönlichkeit des anderen anerkennen, ihm mit Toleranz und Sympathie begegnen.

    Es gibt kein anderes Glück für den Menschen als das, was er in sich selbst findet. Der Schriftsteller Nicolas Chamfort, der sich 1794 (während des Terrors) das Leben nahm, hat es richtig gesagt: »Le bonheur n’est pas chose aisée: il est très difficile de le trouver en nous, et impossible de le trouver ailleurs«. (»Das Glück ist kein leichtes Ding: sehr schwer, es in uns zu finden, und unmöglich, es anderswo zu finden.«)

    Dieses Wort stellt Schopenhauer seinen »Aphorismen zur Lebensweisheit« voran.

    Die anderen Menschen ändern zu wollen, ist vergebliche Mühe. Uns selbst aber können wir bis zu einem gewissen Grade ändern. Dabei hilft das Unterscheidenlernen zwischen vergänglichen und unvergänglichen Dingen. Spinoza begann ein Philosoph zu werden, als er erkannte, daß es sich nicht lohne, vergängliches Gut zu erwerben. »Ich suchte nach dem unvergänglichen Gut«, schrieb er.

    Aber genug von allgemeinen Betrachtungen. Ich glaube, ich hörte zum ersten Mal von Schopenhauer durch Walter Ebach. Meine Zeichenlehrerin – sie hieß Fräulein Wimmer – am Kolberger Lyzeum, nahm bei ihm Privatstunden in Philosophie. Aber damals kannte ich ihn noch nicht persönlich.

    Fräulein Wimmer war vielleicht die einzige vernünftige Person unter allen Professoren der Schule. Auch hieß es, sie sei Sozialistin, was man damals nicht laut sagen durfte. Wir lebten in einer Zeit (zwischen 1918 und 1920 hat sich dies alles zugetragen), wo es den Begriff »Kommunismus« noch gar nicht gab. Der Sozialismus war noch der Bürgerschreck.

    Also mit Fräulein Wimmer ließ es sich gut reden. Sie gab Privatstunden im Zeichnen und da ich immer eine Eins im Zeichnen hatte, beteiligte ich mich an ihren Privatstunden. Wir bildeten eine kleine Gruppe. Es ging mir weniger ums Zeichnen, als um Gespräche mit einer vernünftigen Person. Wir zeichneten am Hafen oder draußen in der Natur. Jeder hatte seinen kleinen Klappschemel und diese Stunden waren Lichtblicke in einer sehr düsteren Welt. Denn es war das Ende des Ersten Weltkrieges. Die Blockade, Mangel an allem. Wenigstens hatte mit der Niederlage das tägliche Morden aufgehört. Aber wie sah die Zukunft aus? Mein Ziel war damals – denn ein Ziel mußte man ja haben – Lyzeumslehrerin zu werden.

    Nachdem 1917 mein Bruder Werner gefallen war, kam meine Schwester für einige Zeit nach Kolberg, »damit ich nicht allein war«. Sie wohnte in einer Familienpension, deren Besitzerin ein Fräulein Röpke (oder so ähnlich) war. Diese Pension lag am Viktoriaplatz und ich wohnte nahe davon, Viktoriastraße 9. Meine »Pensionsmutter« hieß Frau Dietz. Sie war die Witwe eines sehr wohlhabenden Kaufmanns, mußte aber jetzt Zimmer an Lyzeumsschülerinnen vermieten, weil sie offenbar ganz verarmt war. Es hieß, daß ein ungeratener Sohn, der in Südafrika das Weite gesucht hatte, an dem Ruin der Familie Schuld hatte. Aber Frau Dietz hatte auch eine Tochter, die der Mutter in rührender Weise beistand. Fräulein Dietz – sie war unsympathisch und unschön, aber der Schein trügt manchmal – arbeitete in einem Lazarett, und zwar in leitender Stellung. So half sie ihrer Mutter mit Lebensmitteln, die das große Problem (neben Kleidung und Heizung) jener Zeit waren. Wir waren drei in einem Zimmer. Mit mir zusammen waren Käte Plack und Edith Engel.

    In der Pension Röpke waren viele Gäste. Jedenfalls erinnere ich mich an einen großen Eßtisch. Da war zum Beispiel ein Geschwisterpaar – vielleicht aus Berlin, aber ich bin nicht sicher – : Fräulein Jung und ihr Bruder, ein Biologe, glaube ich. Der Direktor des einzigen Warenhauses in Kolberg. Er hieß Seitz. In diesem Warenhaus war auch eine Schneiderwerkstatt, die »Haute couture« von Kolberg. Meine Schwester ließ sich dort ein sogenanntes »Schneiderkostüm« arbeiten. Ein großes Ereignis in solchen Mangelzeiten. Ich erinnere mich, daß es mausgrau war, mit enger Taille und – wie es damals Mode war – mit langem Rock.

    In dieser Pension wohnte auch der Studienassessor Walter Ebach. Vielleicht aß er auch nur dort, dessen bin ich nicht ganz sicher. Jedenfalls sah ich ihn hier zum ersten Mal, nachdem ich schon von ihm gehört hatte. Er galt als ungewöhnlich intelligent. Seine philosophischen Schlußfolgerungen waren immer von höchster Überzeugungskraft. Außerdem war er entschieden sozialistisch angehaucht, also seine Denkweise sehr fortschrittlich. Das Niveau der meisten Professoren – jedenfalls was das Lyzeum betraf – war katastrophal. Ich will hier nicht von meinem Englischlehrer sprechen – er hieß Tiemens – der sich durch einen anrüchigen Konformismus auszeichnete. Z. B. verlangte er von den Schülerinnen, daß er auf der Straße mit einem »Knicks« gegrüßt wurde. Heute ist sicher sogar die Erinnerung an solche vorsintflutlichen Vorschriften verschwunden. Die meisten von uns wichen dem »Knicks« aus (es ist richtig, daß nur Herr Tiemens ihn verlangte), indem sie die Straße überquerten oder sich umwandten, wenn dieser Englischlehrer auftauchte. Was der dann in der nächsten Stunde erwähnte. Wirklich ein großer Dummkopf. Er hatte feuchte Froschhände und bestand darauf, daß vor den Ferien jede ihm die Hand geben mußte.

    Der Direktor, Professor Roedtke, war der einzige Lichtblick in dieser Schule. Mit ihm konnte man reden. Er hatte Verständnis für junge Menschen, die in der allgemeinen Not ja nicht das geringste Vergnügen kannten. Siegesfeiern, Vaterlandslieder, Klappern mit den Holzsandalen (lederne Schuhe gab es schon längst nicht mehr), ungeheizte Zimmer, Schlange stehen nach ein paar Bonbons, die sofort an die Front geschickt wurden: das waren die Zerstreuungen damals. Allerdings gab es den »Wandervogel«¹. Unsere Turnlehrerin, namens Katherin, war die Führerin. Ob man wollte oder nicht: jeder mußte dem »Wandervogel« beitreten. Ich wollte übrigens gern, wenn nur nicht die weiten Märsche am Sonntag gewesen wären. Katherin war sehr groß und mager und hatte lange Beine; ihr Tempo war dem entsprechend. Mit Rucksack, Kochtopf und Gitarre ging es bei Morgengrauen los. Man atmete auf, wenn das Wetter manchmal diese Sonntagsmärsche verhinderte. Aber an einen sehr schönen Ausflug erinnere ich mich. Es war Sommer und die Sonne schien. Auf den Dünen von Horst – einem kleinen Fischerdorf an der Ostsee – machten wir Rast und die Arbeit für die Kocherei wurde eingeteilt: die einen machten Feuer, die andern sammelten Holz; einige suchten nach etwas Essbarem. Meistens waren es Kartoffeln, vielleicht, wenn wir Glück hatten, rückten die Bäuerinnen ein Stückchen Speck und ein paar Eier heraus. Meistens ging es mit Kartoffeln. Und dann wurde gesungen mit Gitarrebegleitung. Aber wenn man abends nach Hause kam, fiel man vor Müdigkeit um. Katherin übertrieb: sie wollte uns abhärten.

    Einmal fragte mich Fräulein Wimmer, was ich nach dem Reifezeugnis machen wollte. Ich sagte ihr, vielleicht ohne besondere Begeisterung, daß ich wohl Lehrerin werden würde. Sie fand, das sei keine sehr gute Idee. Ob ich nicht lieber meine Zeichenbegabung ausbilden wollte? In Wirklichkeit war es mir gleich, was ich machen würde, nur frei wollte ich sein. In der Hoffnungslosigkeit dieses Kriegsendes war alles grau: nirgends ein Lichtblick. Da zeigte mir Fräulein Wimmer das Manifest von Gropius. Das Bauhaus. Da war eine Idee, mehr noch ein Ideal: keinen Unterschied mehr zwischen Handwerkern und Künstlern. Alle zusammen, in einer neuen Gemeinschaft, wollten die »Kathedrale« der Zukunft bauen. Da wollte ich mitmachen.

    Aber Fräulein Wimmer war vielleicht ein wenig erschrocken über meine Begeisterung, denn sie sagte, sie hätte das Bauhaus in Weimar besucht und ihr schien, daß die Idee von Gropius eine Utopie sei. Sie fand, eine Kunstschule in Berlin wäre geeigneter. Außerdem wäre in Weimar nur Platz für höchstens 100 Schüler und es würde sicher schwer sein, aufgenommen zu werden.

    Nun, ich versuchte es trotzdem. Man mußte Arbeiten einreichen und einige Fragen beantworten. Und dann kam die Antwort. Sie war positiv. Mir lag mehr an der neuen Gemeinschaft als an der Ausbildung meines Maltalentes. Aber meine Eltern sahen sicher nur die Aussicht auf eine Karriere als Malerin. Im Frühjahr, zum Sommersemester 1921, brachte meine Mutter mich nach Weimar. Ich weiß nicht, woher sie die Adresse des Martha-und Marien-Heimes² hatte, wo sie mich einmietete.

    Aber ich muß noch einmal auf Kolberg zurückkommen. Während der Sommerferien – ich erinnere mich nicht mehr, welches Jahr es war – starb die unglückliche Frau Dietz und ihr folgte in kurzem Abstand die Tochter. Ich kam in eine andere Pension, an die ich keine gute Erinnerung habe. Mutter und Tochter, die in kleinen Verhältnissen lebten, wirtschafteten dort. Das Haus lag Roonstraße 7, ein ganz hübsches Villenviertel. Ich erinnere mich an den Winter mit Kältegraden, die bis zu 20 bis 30 Grad unter Null lagen. Und keine Heizung. Da bekam ich eine Angina, lag im Bett mit Fieber und die einzige Wärme war meine Körperwärme. Die Schluckbeschwerden waren so schlimm, daß ich vor jedem Schlucken meinen ganzen Mut zusammennehmen mußte. Es fehlte an jeder Pflege. Aber ans Sterben dachte ich nicht, obwohl ich damals sicher sehr nahe am Tode vorbeigegangen bin. Es war dieser Winter, als die Ostsee bis zum Horizont zugefroren war, als die Grippe anfing zu wüten und 800.000 Kinder in Deutschland starben. Weil sie physisch ohne Widerstand waren. Als ich die Angina überstanden hatte und in die Schule zurückkam, waren zwei von meinen Klassenkameradinnen gestorben. Besonders um eine trauerte ich, denn ich traf sie immer auf dem Schulweg und ich mochte sie. Sie hieß, wie ich, Erna, Erna Kutschera (vielleicht ist der Name nicht richtig geschrieben, aber so wurde er ausgesprochen).

    Es gelang mir, die Pension zu wechseln. Von den Schwestern Firus, Ziegelschanze 1, wurde nur gut gesprochen. Und hier fand ich bei »Tante Liesbeth und Tante Martha« wirklich ein Heim. Tante Martha gab Klavierunterricht – bis dahin war ich Schülerin bei Fräulein Kummerow, hinter dem Dom, gewesen und jetzt wurde mit Tante Martha musiziert. Meine Zimmergenossin sang und ich begleitete. Am schönsten aber war es, wenn Tante Liesbeth mir ihre Photos aus China zeigte, wo eine ihrer Schwestern mit einem Konsul verheiratet gewesen war. Bei dieser Schwester hatte sie viele Jahre verbracht. Sie war also weit gereist und man merkte es ihr an. Sie machte mir zwei Geschenke: einen Mondstein und einen Pfirsichkern, in den ein chinesischer Künstler einen Buddhatempel geschnitzt hatte. Aber in meinem späteren sehr bewegten Leben sind mir diese kostbaren kleinen Geschenke verloren gegangen. Ich bewahre Tante Liesbeth und Tante Martha große Dankbarkeit. Leider hatten wir nicht Gelegenheit, uns wiederzusehen, und ich weiß nicht, wie das Ende ihres Lebens war.

    Am Ende ihres Aufenthaltes in der Pension Röpke sagte mir meine Schwester, daß sie mit Walter Ebach heimlich verlobt wäre. Ich erinnere mich nur sehr dunkel an ihre Hochzeit, wo auch Freunde von Dr. Ebach eingeladen waren. Einer dieser Freunde, Hanns Grütters, hatte mich sehr beeindruckt, durch seine Intelligenz und Weltoffenheit. Für mich begann nun die erste Etappe meines Lebens in der Freiheit.

    Hinzufügen möchte ich hier aber noch ein kurzes Porträt von Walter Ebach. Je näher man ihn kannte, desto mehr faszinierte er durch seine Intelligenz, die sich nicht nur in seiner gründlichen Kenntnis der Philosophie vom Altertum bis zur Neuzeit äußerte, sondern vor allem durch eigenes Denken. Er war antimilitaristisch und antiimperialistisch. Zugleich war er ein genialer Pianist. Er spielte Beethoven, Mozart, Chopin und andere wie ein Virtuose. Das konnte ich ganz gut beurteilen, da ich selbst von Kind auf Klavierstunden hatte und zu jener Zeit eine Mozart- oder Beethoven-Sonate einigermaßen zustande brachte. Aber ich konnte nie auswendig spielen. Dagegen las ich leicht vom Blatt. Was mich nun bei Walter erstaunte, war die Tatsache, daß er alles – und das Repertoire war sehr reich – auswendig spielte. Wir haben ausführlich darüber gesprochen. Wie arbeitete sein Gedächtnis? War es rein musikalisch oder beruhte es auf einem optischen Erinnerungsvermögen? Nun, es war optisch bedingt. Er hat es mir erklärt. Er las eine Partitur, und die Seiten prägten sich seinem »inneren Blick« so genau ein, daß er quasi die Noten las ohne sie zu sehen. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich eine solche Fähigkeit bewunderte. Einmal, in Claras Höhe während der Sommerferien, kam ich über den Hof, der sehr groß war und hörte durch die offenen Fenster Klavierspielen: es waren die »Spanischen Tänze« von Moritz Moszkowski. Die Erinnerung an diesen Sommertag und an die Musik ist so präzise in meiner Erinnerung lebendig, daß ich nur die Augen zu schließen brauche und ich höre die Melodien.

    Ich weiß, man hat Walter vorgeworfen, daß er seine großen Begabungen nicht ausgenutzt hätte. Ich glaube, daß er einerseits zu sehr Philosoph war, um sich auf den »Jahrmarkt der Eitelkeiten« zu begeben; andererseits vermute ich, daß seine Arbeit als Studienrat ihn zu sehr beanspruchte. Der Durchschnitt der Schüler hatte ein ziemlich niedriges Niveau und das muß ihn sehr angestrengt haben. Ich verdanke ihm viel. Dabei darf ich nicht das Schachspiel vergessen. Auch darin war er genial. Ich habe ihn gesehen, wie er simultan gegen zwanzig und mehr Partner spielte und gewann. Mit einem Blick erfaßte er die Lage der Partie und zog entsprechend. Von ihm habe ich Schachspielen gelernt, was mir heute zur Entspannung nach den Mühen des Tages dient.

    Unter normalen – oder relativ normalen – Lebensbedingungen (denn es war schon die Nazizeit) sah ich Walter zum letzten Mal in Schneidemühl³, wo ich auf einer Durchreise Station machte. Er hatte in seinem Zimmer eine Menge Aquarien, sammelte Fische aus allen Ländern der Welt. Darunter waren seltene Arten, wunderschön und oft winzig klein. Er kannte alle ihre Namen. Diese Sammlerbegeisterung war sicher eine Art von Flucht vor den politischen Zuständen in Deutschland, die seine Arbeit im Gymnasium erheblich erschwert haben müssen. Aber der Flügel war noch da, nur erinnere ich mich nicht, ihn spielen gehört zu haben. Dann sah ich ihn nach dem Zusammenbruch 1947 in Berlin. Er war auf der Insel Rügen, wo er, glaube ich, ein Internat leitete. Wir trafen uns in Berlin, wo ich ihn mit einer jungen Amerikanerin – Barbara Johnson – bekannt machte. Barbara war in Uniform. Ich kannte sie vom Swarthmore-College, USA, wo sie im letzten Kriegsjahr Philippes Schülerin gewesen war. Jetzt gehörte sie zu der amerikanischen Organisation, die die Deutschen zu »Demokraten« nach amerikanischem Muster »umerziehen« sollten. Sie und ihre Kollegen hielten sich für sehr wichtig, und ich muß sagen, daß ich erstaunt war über so viel Naivität. Sieger spielen meistens eine sehr undankbare Rolle in der Geschichte. Sie werden später nicht gern an ihr Verhalten den Besiegten gegenüber erinnert. Nun, da war gerade ein Meeting von diesen »Erziehern zur Demokratie«, und ich machte Walter mit Barbara bekannt, die ihm vorschlug, bei diesem Meeting zu sprechen. Er tat es und sprach über »Freiheit«. Es herrschte totale Stille in dem Raum, wo sich Amerikaner, Deutsche und sicher auch eine Anzahl von russischen Spionen befanden. In seinen Ausführungen über Freiheit übertraf Walter sich selbst und gab in sehr treffenden Andeutungen den Amerikanern sowie allen Anwesenden eine Lehre, die jedem hätte nützen können, und vielleicht auch manch einen zum Nachdenken angeregt hat.

    Zum letzten Mal sah ich Walter in Wittlich bei Trier. Er, Oma Leni und Peter waren aus der Ostzone geflüchtet, längere Zeit im Auffanglager zurückgehalten – durch diese Lager mußte jeder Flüchtling gehen, was gewiss ein schwerer seelischer Schock war. Endlich hatte man in Wittlich, da er ja geborener Rheinländer war, einen Platz für ihn gefunden. Ich glaube, er unterrichtete Geschichte am dortigen Gymnasium. Sie hausten in einer ungeheizten Wohnung des kleinen Ortes, spärlich möbliert. Die bitteren Erlebnisse der letzten Jahre hatten ihn schwer mitgenommen. Da war kein Flügel mehr, also auch keine Musik, und die beginnende Krankheit machte ihm zu schaffen. Ich selbst hatte schwere Jahre, ohne festen Wohnsitz, war ich heute hier, morgen da, wo ich Arbeit fand. So hatten wir uns aus den Augen verloren und ich erhielt die Nachricht von seinem Tode eine ganze Zeitlang später.

    Anmerkungen des Herausgebers:

    ¹Wandervogel, Jugendbewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts am Gymnasium Steglitz entstanden war und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erhebliche Impulse in der Reformpädagogik und Lebensreformbewegung setzte.

    ²Martha-und Marien-Heim, heute das Hotel Amalienhof, Amalienstraße 2 in Weimar.

    ³Schneidemühl: heute Pila (Polen)

    Weimar

    Zum ersten Mal begegnete ich einer Welt, die mir im Vergleich mit Pommern-Preußen menschlicher erschien. In Weimar lebte noch etwas von der alten Zeit. Heute ist mir klar, daß hundert Jahre in der Geschichte, sofern der Krieg nicht alles zerstört hat, nicht viel sind. Da war das Goethe-Haus, genau so erhalten, wie zu Goethes Lebzeiten. Sein Gartenhaus in dem wunderschönen Park mit den alten Bäumen und dem kleinen Fluß, der Ilm, das Schloß, das Haus von Liszt, wo seine Haushälterin – jetzt alt, zu seinen Lebzeiten ein junges Mädchen – noch von dem täglichen Leben des bewunderten Mannes erzählte, als wäre es gestern gewesen. Sie wußte von jedem Gegenstand etwas zu erzählen. Und man ging überall aus und ein, wie man wollte. Nach dem Martha-und Marien-Heim, wo ich etwa 6 Monate wohnte, zog ich zu einer alten Dame, die in ihrer Jugend Schülerin von Liszt gewesen war. Sie hatte gewiß zu dem wohlhabenden Bürgerstand gehört – Fräulein Sälzer hieß sie. Jetzt, durch die Not, vor allem durch die Inflation, verarmt, vermietete sie Zimmer.

    Aber zuerst war ich also im Martha-und Marien-Heim. Die Osterferien waren noch nicht zu Ende und ich durchstreifte gleich einmal die Gegend. Meine Mutter war schon am nächsten Tag wieder nach Hause gefahren. Und nun war ich ganz mir selbst überlassen. Ich war schon damals gern allein. Langeweile ist mir immer fremd gewesen. Es gab immer etwas zu denken, zu lesen, zu arbeiten. Mein erster Weg war in die Kunstschulstraße, um mir die Gebäude meiner künftigen Schule näher anzusehen. Entfernungen gab es nicht in Weimar. Man brauchte nur die Straße hinaufzugehen – wie sie hieß, habe ich vergessen, und schon befand man sich in der Kunstschulstraße. Eine kurze Straße, die nur wenige Wohnhäuser hatte. Die großen Gebäude rechts und links waren das Bauhaus. Bevor ich aber den Haupteingang erreichte, sah ich ein Schild, auf dem in großer weißer Schrift auf schwarzem Grund ›Kantine‹ geschrieben stand. Es war zwar schon etwa drei Uhr nachmittags, aber ich dachte, vielleicht gibt es doch noch etwas zu essen. Denn man hatte immer Hunger. Ich fand den Eingang zur Kantine, eine Art von Baracke. Die Eingangstür öffnete sich direkt auf einen großen Raum, in dem Tische und Bänke standen. Aber er war leer. Nur hinten in einer Ecke links saß ein junger Mann – er konnte um Mitte dreißig sein. Er trug eine sogenannte Russenbluse, wie sie damals beliebt war, als Zeichen einer antibürgerlichen Gesinnung. Er las, glaube ich oder vielleicht zeichnete er auch. Als er mich in der offenen Tür stehen sah, redete er mich an: »Mädchen, bist du neu?« Etwas schüchtern sagte ich »ja.« »Hast du Hunger?« fragte er gleich weiter in einem vielversprechenden Ton, worauf ich gleich »ja« sagte. Darauf stand er auf, schritt diagonal durch den Raum und klopfte an einen Schalter, der sich auch gleich öffnete. »Habt ihr noch was zu essen?« fragte er. »Da ist ’ne neue.« Ich bekam einen Teller mit gebratenen Kartoffelschalen und Quark. Das war sehr gut und ich aß mit bestem Appetit. Es war nicht nur die Lebensmittelknappheit, die die Kartoffelschalen in der Bauhausküche verwenden ließ, sondern der Mazdaznan-Einfluß von Itten und Muche, die proklamierten, daß die eigentliche Nährkraft der Kartoffel in der Schale liege. Dieser hilfsbereite Bauhäusler hieß Josef Albers. Er brachte es später in den USA zu großem Ruhm als Kunstpädagoge und Maler. Von Itten inspiriert, hatte er seine eigene Vorkurs-Methode ausgearbeitet, die Erfolg hatte. Albers war ein guter Kamerad, sehr aktiv und begabt. Wenn im Herbst das sogenannte »Drachenfest« stattfand, bei dem jeder aus Papier, Draht und Hölzern seinen Drachen produzierte, die wir dann, sobald der Wind günstig war, steigen ließen, hatte er immer die größten und buntesten, wahre Kunstwerke. Dieses Drachenfest fand außerhalb der Stadt, auf einem Hügel statt und war wirklich eine Sehenswürdigkeit.

    Erna Niemeyer um 1924

    Aber was war denn eigentlich so Besonderes an diesem Bauhaus, daß Kinder sich mit ihren Eltern entzweiten, um in dieser Gemeinschaft zu leben? Es war unter uns ein Geist lebendig: einer für alle, alle für einen. Ein Ideal hatte uns zusammengeführt: weg von den Vorurteilen einer bürgerlichen Welt, die von dem preußischen Militarismus beherrscht wurde und den Menschen erstickte. Der verlorene Krieg, die materielle und seelische Not wurde diesem Militarismus und diesem Bürgertum angekreidet. Nicht, daß man viel darüber sprach, aber unsere ganze Lebens- und Denkweise war darauf gegründet: neu anfangen, alles, was gewesen war, über

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