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Die Bühne unter meinen Füßen
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eBook157 Seiten2 Stunden

Die Bühne unter meinen Füßen

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Über dieses E-Book

In "Die Bühne unter meinen Füßen" erzählt die Sängerin Mélinée von den prägenden Momenten ihres Lebens. Mit Intensität und Humor schildert sie ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Liebe für die Cevennen oder ihre Reisen mit einem Bus und andere Abenteuer auf der ganzen Welt.

Sie erzählt auch von der Kraft ihrer Freundschaften und Liebesgeschichten und von ihrer schwankenden Existenz, die von den depressiven und manischen Phasen ihrer bipolaren Störung geprägt ist.

Berlin ist eine wichtige Figur in dieser autobiografischen Erzählung, ebenso wie der französische Sänger Renaud. Mélinée gibt auch dem Theater und dem Chanson Raum, die ihrer turbulenten Geschichte Farbe geben.
SpracheDeutsch
HerausgeberHirnkost
Erscheinungsdatum7. Juli 2022
ISBN9783988571007
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    Buchvorschau

    Die Bühne unter meinen Füßen - Mélinée Benamou

    Berlin

    Berlin, ich trage dich unter meiner Haut,

    den Tiergarten in meinen Knochen ¹

    18. Juni 2010. Ich komme nach Berlin. Der „Ruf des 18. Juni", so würde ich später scherzen. Dies ist mein dritter Besuch in der deutschen Hauptstadt. Das erste Mal kam ich vor ein paar Jahren, mit meiner großen Tasche auf dem Rücken. Ich begann damals meine deutsche Interrail-Tour. Ich war von Jana, einer hübschen deutschen Frau, empfangen worden, die mir für ein paar Nächte ihr abgewetztes Sofa in ihrer Lichtenberger Wohnung geliehen hatte. Mein erster Eindruck von Berlin: der graue, traurige, zubetonierte Osten, in dem die Spuren des jahrzehntelangen Kalten Krieges noch sichtbar waren, weit entfernt von der brummenden Gentrifizierung, die die Stadt bald heimsuchen würde. Ich entdeckte abgeblätterte Fassaden, die noch nicht in den Pastelltönen gestrichen waren, die die neuen bunten Bonbons des Prenzlauer Bergs überziehen würden.

    Lange Spaziergänge durch die Straßen Berlins führten mich manchmal an der Mauer entlang, diesem ursprünglichen Riss, der mich immer wieder bewegt. Manchmal ging ich die Karl-Marx-Allee mit ihrer noch intakten sowjetischen Architektur entlang und landete auf der Esplanade des Alexanderplatzes, wo es außer Shops mit Fashionklamotten und nichtigen Souvenirs nichts zu sehen gab. Das einzig Bedeutsame des Ortes war der majestätische Fernsehturm, der mich eines Tages zu einem Song inspirieren sollte. Er würde mein Kompass werden, derjenige, der nie den Kopf verlor, und der, im Gegensatz zu mir, nie neben sich stand. Er durchbohrte den Himmel mit seiner Spitze und stach in die Wolken, als wolle er seiner doppelten Identität entkommen. In seiner silbernen Kugel reflektierte das Sonnenlicht zwei geometrische Linien. Die Wessis sahen darin ein Kreuz, die Ossis ein Plus-Zeichen. Da oben schnitt der geteilte Himmel, der Christa Wolf lieb und teuer und nun wieder geeint war, Grimassen zu den Symbolen des deutschen Liberalismus. Die Kugel des Fernsehturms drehte sich unmerklich und der Himmel über Berlin offenbarte mir seine Engel, die wie unbewegliche Wächter ein Auge auf die Straßen hatten. Berlin, du würdest mein Schutzengel werden, die Stadt meines Lebens, und ich wusste es noch nicht.

    Jorge hatte mich gewarnt: „Du wirst sehen, Berlin ist voller Engel."

    Jorge ist ein reizender Portugiese, was wahrscheinlich ein Pleonasmus ist. Er hatte mir bei meinem zweiten Aufenthalt die Schlüssel zu seiner Wohnung in Steglitz geliehen. Ich saß neben ihm im Flugzeug, das zum Flughafen Tegel flog. Ich hatte mich gerade von meinem Freund Baptiste getrennt, mit dem ich drei Jahre lang zusammen gewesen war. Als er sah, wie traurig und neben der Spur ich aussah, hatte Jorge mir sehr nett geschildert, wie gut Berlin mir tun würde. Er wollte auf Offshore-Plattformen in einem Meer arbeiten, dessen Namen ich vergessen habe, und bot mir während seiner Abwesenheit seine Bleibe an. Ein Wohltäter, auch ein Engel. Leider habe ich ihn nie wiedergesehen.

    An diesem 18. Juni 2010 folge ich dem unbekümmerten und immer noch unvermuteten Ruf von Berlin. Ich begleite Studierende aus Toulouse, was mir eine deutsche Freundin, Lektorin an der Universität Mirail, angeboten hatte. Da weiß ich noch nicht, dass dieser Aufenthalt den ganzen Sommer und vielleicht mein ganzes Leben dauern wird.

    Ich wohne in einem Zimmer in der Jugendherberge Pfefferberg mit einer jungen, freundlichen Deutschlehrerin. Tagsüber machen wir Sightseeing, besuchen den Reichstag, das DDR-Museum und andere ostdeutsche Sehenswürdigkeiten wie die East Side Gallery. Eine Schifffahrt auf der Spree, die Biere gut unter den T-Shirts versteckt, zeigt uns bald die Gebäude der Stadt, von der Museumsinsel bis zu den Konturen Charlottenburgs. Hätte man mir gesagt, dass ich ein paar Jahre später in der Nähe des Pergamonmuseums in einer Strandbar, die mein Tummelplatz werden sollte, Tango tanzen würde, und dass ich dort eines Abends in einem noch zögerlichen Deutsch die Strophen meines Liedes „Berline" kritzeln würde, hätte ich es nicht geglaubt.

    Ich wusste nicht, dass ich die ersten Jahre meines Lebens in Berlin in einer WG in Mitte wohnen würde und erst recht nicht, dass ich dort am 3. September 2010 mit meinem Koffer und meinen Kisten auf dem Arm einziehen würde. Ich wusste noch nicht, dass ich in Berlin bleiben und vielleicht dort sterben würde. Berlin die Zerrissene, Berlin die Bipolare. Wie ich. Meine Schutzblase, meine Aufmüpfige, meine Lässige, meine Freie, meine Verletzte. Das ist das Schönste, was ich in meinem Leben getan habe: zu dir zu kommen, meiner mich verzaubernden Stadt, deinem Ruf, deinem Geschrei zu folgen.

    Alles beginnt im Tacheles, oder eher beginnt dort alles wieder neu.

    Vor ein paar Jahren spielte ich auf den Straßen Berlins Akkordeon, sang meine Liedchen und bekam ein paar wohlwollende Euros von musikbegeisterten Passanten.

    Einmal sprach mich zwischen zwei Liedern ein Typ am Hackeschen Markt an. Er trug eine Mütze, sah freundlich aus, mit einem gutmütigen Lächeln, und sprach Französisch mit einem leichten Schweizer Akzent.

    „Kennst du das Tacheles? Du könntest dort spielen. Komm, ich zeige es dir."

    Mit meinem Akkordeon auf dem Rücken folgte ich ihm wie eine 1,80 Meter große Schildkröte bis in die Oranienburger Straße, wo schon die imposante grau-beige Fassade des Tacheles-Tempels zu sehen war. „HOW LONG IS NOW" stand in großen schwarzen Buchstaben auf der tragenden Wand, der Slogan dieses chimärenhaften besetzten Hauses, dessen Existenz von Beginn an bedroht war.

    Tacheles reden war angesagt. Die Menschen sprachen offen und ohne Umschweife in diesem neuen Turm zu Babel, in dem alle Nationalitäten des Planeten bunt gemischt ein- und ausgingen. Das Gebäude war ein altes Einkaufszentrum aus den 20er-Jahren, von dem nur noch ein Teil erhalten war.

    Davor verkauften Künstler aus aller Welt Schmuck, verrückte Halsketten, ausgefallene Ohrringe, Silbergabeln als Armbänder.

    Rechts war die Bar Zapata, in der die Band Rammstein ihre ersten Konzerte gegeben hatte, eine finstere Kaschemme, in deren feuchter Luft Rauchschwaden schwebten.

    Im zweiten Stock herrschte im Kino und seiner Bar, die mein Wohnzimmer und mein erster Proberaum werden sollte, eine helle, leise und gedämpfte Atmosphäre. Die bordeauxroten Samtvorhänge umschmeichelten das schwarz-rote Leder der Sofas, die Bar war mit bunten Flaschen bestückt, das Klirren der Shaker kündigte neue vielversprechende Cocktails an. Die Kunden lagen träge auf den weichen Sofas, Kippe im Mund, ein Getränk in der Hand. Fetzen von Englisch, Deutsch, Französisch, Türkisch und anderen Sprachen formten ein Stimmengewirr, das von Rockmusik der 70er überdeckt wurde. Betrunkenes Gelächter und kindliches Gekicher begleiteten lautstark das Kreischen einer E-Gitarre oder das Brummen einer Basslinie.

    Auf der linken Seite war ein kleines Dorf, die verrückte, scharfe Welt der Metallbildhauer. Bronzefarbene Tiere standen neben großen rostigen Buchstaben, Männer und sogar eine Frau, Aurélie, meine zukünftige französische Freundin, schlugen auf Bleche oder erhitzten Metallstücke mit einer Lötlampe.

    Im Obergeschoss gab es weitere Künstlerateliers, darunter das des Holocaust-Zeichners Roman Kroke, in den ich mich einige Jahre später leidenschaftlich verlieben sollte.

    Im Erdgeschoss befand sich ein eher spartanischer, aber recht großer Saal, in dem Theater- oder Bildkreationen, Konzerte oder Happenings stattfanden.

    Die Treppen waren alle mit Graffiti besprüht und rochen nach Urin. Das gehörte zum schäbigen Charme des Ortes.

    Ich fühlte mich wie Alice im Wunderland angesichts all der Schätze, die sich mir boten. Es gab hier auch einen verrückten Hutmacher, diesen Roman Kroke mit seiner ewigen schwarzen Melone, und gestreifte Katzen, die von irgendeiner Droge angetrieben wurden. Das Tacheles war ein Paradies für Drogendealer, die hierherkamen, um ihren Stoff an Touristen aus aller Welt zu verkaufen.

    Im Hof war ein alternativer Punk-und-Beatnik-Strand. Sand, Barwagen, Hütten. Unter dem Pflaster liegt der Strand. Das Tacheles war keine Utopie geblieben. Ich, das Mädchen aus Toulouse, bestaunte das künstlerische Universum dieses mythischen, weltweit bekannten besetzten Ortes.

    Gegenüber von uns war eine Hütte in einem Garten mit sandigem Boden und einem Teich als einzigem Meer gebaut worden. Dort gab es eine grüne Oase, die von Wänden mit riesigen Fresken überragt wurde. „La maison près de la fontaine" ², sang Nino Ferrer, dessen deutsch-französischen Botschafter ich treffen sollte, Franck, Cowboy der modernen Zeiten, Musiker, Sänger, Gründer der Beat-Organisation, Liebhaber von Schmetterlingen, Fröschen, Reptilien … ein Verteidiger der Natur und ihrer Bewohner, mehr als der menschlichen Spezies. Er zeigte mir sein Biotop. Ich ging zu einem der Beat-Konzerte, mit seinen Rhythmus- und Bluesklängen und dem zitronigen Duft des Cuba Libre. Eines Nachts küsste er mich wild, und der Mond war der einzige Zeuge.

    Dieser Cowboy war es, den ich im Juni 2010 wieder im Tacheles besuchen kam. An diesem Abend feierte Jenny, sein Cowgirl, Geburtstag. Eine schöne braunhaarige Deutsche mit Revolveraugen und einem 70er-Jahre-Look wie ihr Cowboy.

    Er lud mich ein, mich an den Grill zu setzen, ein Lagerfeuer, das nach Fisch roch.

    „Willst du ein paar calmar³?", sagte er mit seiner tiefen, von Zigaretten und Rum gebrochenen Stimme.

    Franck sprach mit mir auf Französisch, seine Mutter stammte aus Tourcoing. Zu dieser Zeit konnte ich nur ein paar Brocken Deutsch. Wie ich es bereut habe, statt dieser Sprache lieber Italienisch in der Mittelstufe gewählt zu haben.

    „Man sagt calamar", erwiderte ich amüsiert.

    „Nein, man sagt calmar", beharrte er.

    Um dieses linguistische Streitgespräch abzukürzen, rief er in einem Grölen, an das ich mich für den Rest meines Lebens erinnern werde: „Nathaaaaaaaaaan!"

    Und da trat dann Nathan, ganz unauffällig daherkommend, in mein Leben. Wie ein Glücksfall, oder eher wie ein Wink des Schicksals. Ich glaube gerne an das Schicksal und erinnere mich oft an diesen Satz von Zafon in Der Schatten des Windes : „Zufälle sind nur die Narben des Schicksals, aus dem später in meinem Lied „Héroïne wurde: „Die Narben des Zufalls im Schicksal unserer Erinnerungen."

    Nathan. Mein erster Bassist, mein Freund, mein Beschützer, mein Geliebter. Der Hüter dieses magischen Ortes, der mich neben anderen Liedern zu „Tares Laisse" inspirieren würde.

    Nathan war ein kleiner bärtiger Mann mit langen lockigen braunen Haaren. Er trug eine Brille und Kleidung, die ihm zu groß war. Er war Informatiker, aber seit ein paar Jahren arbeitete er an der Bar des Tacheles-Kinos. Das Kino, mein neues Hauptquartier.

    Anton, der Filmvorführer, spielte Filme auf die altmodische Art mit Filmrollen ab, brauchte dazu keinen Computer. Er war ein Norddeutscher, groß, witzig, ein bisschen wild und asi. Er hatte Dreadlocks, die ihm bis unter den Po gingen und roch wie eine Ziege. Ein echter Rastamann, Vegetarier und Kiffer. Er spielte Gitarre, Nathan spielte Bass.

    „Wir können dich begleiten, wenn du willst, sagte Nathan an diesem Abend im Biotop zu mir, während er mich mit kostenlosem Cuba Libre, „mit Liebe gemacht, versorgte.

    Von da an habe ich nie wieder für ein Getränk im Tacheles bezahlt. Mit Nathan hatte ich meinen Stamm-Barkeeper kennengelernt. Ich wusste so wenig über das Nachtleben und die Welt der Bars, trotz meiner sechsundzwanzig Jahre in Toulouse.

    In diesem Sommer 2010 würde ich zum ersten Mal in meinem Leben tagsüber schlafen, nachts leben, viele Cocktails trinken, Joints rauchen und zwei Monate lang die Liebe mit Nathan erleben.

    Anton und ich schliefen bei Nathan, frühstückten nachmittags mit ein paar Gläsern Fruchtsaft im Tacheles-Kino, zu dem meine beiden Freunde die Schlüssel hatten, und dann gingen wir los, um in den Straßen von Mitte oder Friedrichshain meine Lieder zu spielen.

    Die B. B. Band war geboren. Die Berliner Biker

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