Geliebte Ukraine: Auf literarischer Spurensuche zwischen Donezk und Anatevka
Von Dietmar Grieser
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Über dieses E-Book
In dreizehn Reisereportagen und Porträts erzählt der begnadete literarische Spurensucher berührend und eindringlich von persönlichen Erlebnissen in der Ukraine, von berühmten Ukrainern und was aus ihnen wurde – und ihren Verbindungen zu Österreich.
Aus dem Inhalt:
Am Originalschauplatz des Musicals »Anatevka«
Mit Georg Trakl bei der Schlacht von Grodek
Zu Besuch bei Paul Celans Witwe Gisèle
Auf den Spuren von Scholem Alejchem
Das erschütternde Schicksal des Startenors Joseph Schmidt
Im Bergwerk des Donezker »Arbeitshelden« Alexej Stachanow
Die Wiener Jahre des Leo Bronstein alias Trotzki
Begegnung mit der österreichisch-ukrainischen Mezzosopranistin Zoryana Kushpler
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Buchvorschau
Geliebte Ukraine - Dietmar Grieser
Ein Reitpferd für Stachanow
Donezk 1979, 43 Jahre vor dem Großen Krieg
Ich bin schlecht ausgerüstet, in der Eile des Aufbruchs habe ich nur den Kleinen Polyglott in den Handkoffer gepackt, er erwähnt das Ziel meiner Reise mit keinem Wort. Dabei ist Donezk eine Stadt von über einer Million Einwohnern, die zwölftgrößte der Sowjetunion. Aber unsere westlichen Reiseführer entscheiden nach anderen Kriterien: Ohne Kremlmauer und Holzkirche, ohne Potemkin-Treppe und Goldenes Tor kommst du da nicht hinein, Fördertürme und Kohlenhalden lassen sich schwer als touristische Fünfsternattraktionen verkaufen. Und trotzdem: eine Stadt von einer Million Menschen einfach so unterschlagen, einfach so mir nichts dir nichts auf der Landkarte ausradieren?
Ich weiß, auch die andere Seite macht Fehler. Natürlich ist es lächerlich, den Begleittext des offiziellen Donezk-Bildbandes mit einem Satz wie diesem zu eröffnen: »Jeder, der in diese Stadt kommt, verliebt sich in sie auf den ersten Blick.« Den möchte ich sehen, dem solches widerfährt. Da kann er aus dem tiefsten Sibirien anreisen: Donezk bleibt Donezk. Kohlenschächte und Wohnblocks. Und die Kohlenschächte sind das Schönere von beidem.
Ich will nur sagen: Hochjubeln ist ebenso töricht wie Ignorieren, mit dem Trotz der Verzweiflung ist dem Phänomen Donezk ebenso wenig beizukommen wie mit der Arroganz der touristischen Testtrupps. Donezk ist ein Fall für sich und will als solcher behandelt werden. Donezk ist eine Stadt mit Titel.
In der Sowjetunion, wo es bekanntlich an manchen anderen Vergünstigungen mangelt, wird umso reichlicher mit Titeln hantiert: mit Titeln, Verdienstmedaillen, Orden. Nicht nur der einzelne Staatsbürger kann sich im Laufe eines arbeitsreichen Lebens die Brust damit vollpflastern, auch ganze Kollektive kämpfen um das Prädikat »Held der sozialistischen Arbeit«, ganze Betriebe, ganze Städte. Donezk, die Millionenstadt in der Südost-Ukraine, in zaristischer Zeit Jusowka, bis 1961 Stalino genannt, ist ein solches Exemplar. Ihr hat man den Titel »Stadt des Arbeitsruhms« verliehen. Es erinnert ein wenig an die Praktiken mancher Gemeinwesen, ausdrücklich solche Künstler mit Preisen zu überhäufen, deren Œuvre unscheinbar, deren Publikumserfolg gering und deren Einkünfte bescheiden sind. Hat er schon nichts, so soll er sich die Wände mit Diplomen tapezieren können. Ausgleichende Gerechtigkeit.
Übrigens stimmt der Vergleich nicht ganz. Er stimmt nur, soweit es das Äußere betrifft: den Glamour einer Stadt. Da ist Donezk natürlich auf total verlorenem Posten – allen Grünanlagen und Kulturparks, allen Museen und Theatern zum Trotz. Und auch die Lebensqualität kann bei so verpesteter Industrieluft unmöglich Spitzenwerte erreichen. Anders sieht es mit dem materiellen Ertrag aus: Eine Stadt, deren 72 000 Kumpel in 24 Bergwerken täglich 70 000 Tonnen Kohle fördern, wird man wohl nicht als quantité négligeable abtun dürfen.
Was also tun?
Man verleiht ihr die Auszeichnung »Stadt des Arbeitsruhms«. Macht sie zum Aushängeschild marxistisch-leninistischen Leistungskults. Mit dem Bergmann Alexej Grigorjewitsch Stachanow als Hauptdarsteller, der Traktorführerin Gaganowa und der Spinnerin Proskurina in den Nebenrollen und der übrigen Bevölkerung als Komparserie.
Ich glaube, es ist die Sache wert, sich auch an einer solchen Kultstätte umzusehen.
Ich bin einmal, bei anderer Gelegenheit, von Moskau nach Leningrad geflogen – noch heute habe ich die Bordlautsprecherstimme der Aeroflot-Stewardess im Ohr: »Unsere Maschine fliegt in einer Höhe von 8000 Metern und mit einer Geschwindigkeit von 750 Stundenkilometern. Die Mannschaft dieses Flugzeuges kämpft um den Titel der sozialistischen Arbeit.« Die Sache befremdete mich damals, irgendwie war sie wohl auch außerhalb meiner Vorstellungskraft, zudem fühlte ich mich durch die Verlautbarung belästigt: Was gehen mich, den Passagier aus dem Westen, diese östlichen Wettbewerbsrituale an? Sie sollen mich sicher ans Ziel bringen, auch gegen ein Kaviarbrötchen und ein Glas Krimsekt habe ich nichts einzuwenden – aber alles andere ist ihre Sache. Bitte keine Propaganda – nicht auch noch in der Luft. So ungefähr denken wir doch alle, stimmt’s?
Dieses Mal will ich es mir nicht so leicht machen. In Donezk will ich versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen.
Ein Intourist-Wagen bringt mich von Scheremetjewo, Moskaus internationalem Flughafen, zum Binnenflughafen Wnukowo. Die Fahrt dauert fast eine Stunde, aber ich habe keinen Grund zur Eile: Die Maschine nach Donezk, auf die ich gebucht bin, startet erst nach Mitternacht. Ich richte mich also auf einen langen Abend in der Ausländerwartehalle ein. Russischer Brandy, kubanischer Tabak, Anti-China-Material in den Bücherstellagen – irgendwie werde ich schon über die Runden kommen. Reval, Lemberg, Odessa – Donezk ist die letzte Maschine heute Nacht, ich der letzte Passagier. Die Putzfrauenbrigade sorgt für Bewegung, mehrere Male muss ich den Platz vorm Fernseher wechseln. Dabei interessiert mich die Nachtsendung: Es ist ein Jewtuschenko-Programm, Russlands Paradelyriker bei einem seiner berühmten Auftritte. Ein dicht gefüllter moderner Saal mit im Halbrund angeordnetem Auditorium, ausschließlich junge Leute, ungeheuer aufmerksam, fast andächtig. So manchen westlichen Autor würde der Neid packen: Nach jedem Gedicht orkanartige Zustimmung, ein Ende der Darbietung ist nicht abzusehen. Ich habe versäumt, auf die Uhr zu schauen: Sind es nun schon anderthalb Stunden? Oder zwei? Am Ende drei? Man darf zwischendurch aufstehen, nach vorn gehen und auf einem Tischchen neben dem Mikrofon seine Wünsche deponieren: Zettel, auf denen man das Gedicht seiner Wahl notiert hat. Jewgeni Jewtuschenko, groß gewachsen, kurzer Haarschnitt auf dem asketischen Kopf, Kittelhemd über der Hose, pathetisch selbst noch in der Entgegennahme der Hörerwünsche, rollt die »r« und rollt die Augen, schwingt die Stimme und die Arme, schwelgt in Reimen und in Rhythmen, appelliert und leidet, und sein Auditorium leidet mit ihm – ich habe niemals eine Dichterlesung wie diese erlebt, und es ist nur folgerichtig, dass das Finale in einem Berg von Blumen untergeht. Thema Kult – ich bin im richtigen