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Ein deutsches Tagebuch
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Ein deutsches Tagebuch

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Über dieses E-Book

Immer wieder hat sich der Danziger Schriftsteller Stefan Chwin in seinem Werk mit Deutschland und den Deutschen auseinandergesetzt - nicht zuletzt in seinem preisgekrönten Roman Tod in Danzig. Und doch: "Ich war nie ein Schriftsteller der polnischdeutschen Versöhnung", schreibt Chwin in seinen Tagebüchern: "Allein die Formulierung polnisch-deutsche Versöhnung ist mir zuwider, weil ich einfach nicht weiß, worin diese Versöhnung zwischen uns und den Deutschen bestehen sollte. Ich habe, versucht antideutsche Stereotypen und Vorurteile zu relativieren. Aber jenseits von tereotypen schreiben ist doch nicht dasselbe wie nach Versöhnung streben ..." Chwins Deutsches Tagebuch, hier vorgelegt in der Auswahl von Krystyna Turkowska-Chwin und Marta Kijowska, setzt diesen Weg fort.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum4. Dez. 2015
ISBN9783940524447
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    Buchvorschau

    Ein deutsches Tagebuch - Stefan Chwin

    Deutschen

    MEIN DANZIG

    Die Stadt

    Meine Mutter kam in die Stadt am 30. September 1945. Eigentlich hätte sie sich nach dem, was sie im Warschauer Aufstand erlebt hatte, über gar nichts mehr wundern sollen. Doch als sie aus dem Warschauer Zug auf einem Gleis des niedergebrannten Bahnhofs mit der von Granatsplittern durchlöcherten Tafel „Danzig" stieg, schreckte sie beim Anblick des Trümmerfeldes, das sich bis zum Horizont hinzog, richtig zurück. Im herbstlichen Nebel schimmerten die Ruinen der Marienkirche und der von einem Artilleriegeschoss geköpfte Rathausturm.

    Dabei hatte es hier noch vor kurzem einige schöne Straßen gegeben. Dann aber kamen die Russen vom Süden und Osten her, bombardierten das Zentrum, Hitler erklärte die Stadt zu einer Festung, und die SS-Patrouillen machten in den Straßen Jagd auf junge Wehrmacht-Deserteure und hängten sie in der Großen Allee an den Straßenlaternen auf. Wie von einem überbelichteten Fotonegativ verschwanden im Gedonner der Artilleriekanonade, im Feuer und Rauch eines nach dem anderen die um die Jahrhundertwende errichteten Prachtbauten: das Hotel „Deutscher Hof, das „Grandhotel Reichshof oder das „Continental, und von dem ganzen Hotel „Danziger Hof war nur eine einzige verkohlte Wand übrig geblieben, in der jetzt durchgefrorene Spatzen wohnten. Vor dem Hohen Tor fiel auf die von Bomben durchlöcherte Fahrbahn das von seinem Sockel gestoßene Denkmal von Wilhelm I., vor dem am 27. September 1914 Paul von Hindenburg persönlich ein Soldatendefilee abgenommen hatte; es fand während der feierlichen Präsentation der russischen Kanonen statt, die von den deutschen Truppen in Ostpreußen erbeutet worden waren. Die Gebäude des Senats der Freien Stadt und der Provinzverwaltung gab es nicht mehr.

    Meine Mutter verließ den Bahnhof, bestieg einen Pferdewagen und fuhr über die Große Allee zur Medizinischen Akademie. Hinter den Bäumen zogen die stillstehenden Kräne der zerstörten „Schichau-Werft" vorbei, in der sie später viele Jahre arbeiten sollte.

    Ich kann mich gut an die Landschaft jener Stadt erinnern. Es war die Landschaft meiner Kindheit. An heißen August- oder Septembertagen stieg über den Straßen der rote Staub zerbröckelter Ziegelsteine auf. Ich ging mit meinen Eltern in die Altstadt – oder besser: in das, was von der Altstadt übrig geblieben war – und schaute in die leeren Fenster ausgebrannter Häuser, in denen Gras, Moos und kleine Birken wuchsen. Die Innenstadt war leer. Im Januar 1945, im Schein des großen Feuers flohen von hier auf den Schiffen, die die Russen beschossen, Tausende Frauen, Männer und Kinder, von denen kaum jemand zurückkehren sollte.

    Und während ich so mit meinen Eltern durch die abgebrannten Straßen ging, offenbarte sich mir der ganze geologische Querschnitt der Stadt – wie die Jahresringe am Stamm eines gefällten Mammutbaums, die ich viele Jahre später im Londoner „Natural History Museum" sehen sollte. Unter den Ruinen der Häuser aus den dreißiger Jahren dämmerten ganze Haufen mittelalterlicher Backsteine, über den umgeworfenen barocken Portalen lagen zertrümmerte gotische Säulen, aus den mit schwarzem Wasser gefüllten Bombentrichtern ragten die Steinbalken hölzerner Häuser – Spuren einer urslawischen Siedlung, von der die Stadt ihren Anfang genommen hatte. Wie der Archäologe Schliemann, der das in der Illias beschriebene Troja finden wollte, spähte ich nach einer Stadt, die es nicht mehr gab, und ich wusste nicht, welches dieser Trojas, die ich zu sehen bekam, das wahre Troja war. Denn in dem Gemisch aus Backstein, Holz, Metall und Glas konnte man immer auf noch frühere Schichten stoßen. Die Zeit hatte die Stadt hart rangenommen und die Spielkarten durchgemischt.

    Wir gingen an dem ausgebrannten Theater am Kohlenmarkt mit dem leeren, eisernen Turmskelett vorbei, an den rußschwarzen Ruinen des Kaufhauses der Brüder Freymann neben dem Hof der St. Georg-Bruderschaft, dann bogen wir in Richtung Langgasser Tor ab und erreichten die Mottlau. Das Wasser des langsam dahinfließenden Flusses, in dem sich die vom Westen herziehenden Wolken spiegelten, war dunkel und schmutzig wie das Wasser aller Flachlandflüsse Europas. Jenseits des Wassers ragten die abgebrannten Bauten der Speicherinsel empor. Ich kniff die Augen vor dem Ziegelstaub zusammen, der vom anderen Ufer herbeiwehte, und betrachtete die schwarzen Mauern der mittelalterlichen, vom wilden Flieder bewachsenen Gebäude. Ich registrierte jedes Detail. Wieder zu Hause, versuchte ich all das, was ich hinter dem schwarzen Wasser gesehen hatte, auf das Firmenpapier des Kohlendepots „Anthrazit", in dem mein Vater arbeitete, zu zeichnen.

    Meine Eltern waren nach Danzig von weit her gekommen. Meine Mutter – zusammen mit der ehemaligen Krankenschwesterschule der Rockefeller-Stiftung, die von Warschau nach Langfuhr verlegt worden war. Mein Vater, der die Warschauer Handelsschule absolviert hatte und dem – wie der gesamten polnischen Intelligenz – die Verhaftung durch die Rote Armee und die Verbannung nach Sibirien gedroht hatte, war mit dem letzten Zug gekommen, der aus Wilna in den Westen fuhr. Er war nach mehrtägiger Reise in der Stadt ausgestiegen, deren seltsamer (wie er nach Jahren sagte) Name „Danzig" an der Front des abgebrannten und mit weiß-roten Fahnen geschmückten Bahnhofs prangte.

    Meine Eltern ließen sich nicht direkt in Danzig nieder. Sie fanden eine Wohnung in dem nördlich gelegenen Vorort Oliva, in der mit schönen, alten Lindenbäumen bewachsenen Lützowstraße, die im Jahre 1945, sobald die russischen Panzer in die Adolf-Hitler-Straße eingefahren waren, innerhalb einer Stunde in Ulica Poznańska umbenannt wurde. In diesem Haus – es stand in einem Garten ganz am Ende der Stadt, einige Schritte von dem sandigen Ufer der Bucht entfernt – kam ich zur Welt und verbrachte meine Jugendjahre. Meine Eltern zogen in die Wohnung in der Lützowstraße ein, weil sie von Deutschen und Russen aus ihren Heimatstädten vertrieben worden waren – Mutter aus Warschau, Vater aus Wilna –, doch die Danziger Familie, die hier vor uns gewohnt hatte, musste in einer Januarnacht vor der Roten Armee fliehen und, wer weiß, vielleicht ertrank sie auf dem verdunkelten Verwundetentransporter „Wilhelm Gustloff" an der Stolpe-Bank, als dieser von drei Torpedos getroffen wurde, abgeschossen von dem U-Boot S-13, das der sowjetische Kommandant Marinesko befehligte.

    Danziger Paläontologie

    Ich habe meine Kindheit als eine ziemlich dramatische „Einweihung in Erinnerung. Meine Eltern hatten den Warschauer Aufstand, das Durchgangslager Pruszków und die Vertreibung aus Wilna hinter sich, und sie erzählten schreckliche Sachen über die Deutschen. Im Alter von ein paar Jahren sah ich Auschwitz aus der Nähe, in den schwarz-weißen Wochenschauen. Auschwitz erstmals in jungem Alter zu sehen, ist etwas ganz anderes, als wenn man in diesem Moment zwanzig oder älter ist. Doch das war nur eine Seite der Medaille. Denn beim Anblick der herrlichen Häuser und Wohnungen, die von den Deutschen übrig geblieben waren, fragte ich mich, wie diese faszinierende „deutsche Schönheit mit der Grausamkeit der Deutschen zu vereinbaren sei. Das Geheimnis dessen, wie sich das Schöne und das Böse zueinander verhalten, beunruhigt mich übrigens bis heute.

    Thomas Mann hatte den Verdacht, dass es wirklich eine Verbindung zwischen dem künstlerischen Talent und dem Hang zum Bösen gebe. Er meinte, der Künstler solle zu dem, was er schreibe, eine kühle Distanz bewahren, doch diese Distanz sei vom moralischen Standpunkt her recht suspekt, vor allem wenn man über Dinge wie das menschliche Leid schreibe. Und da ist leider was dran.

    Mein autobiographischer Text Kurze Geschichte eines Scherzes¹ ist viel „kühler" als der Roman Tod in Danzig, weil er in essayistischer Sprache davon erzählt, wie ein kleiner Junge in den 1950er Jahren mit der Welt der Erwachsenen einen heftigen Kampf um seine Souveränität führte und sich dabei allmählich – wenn auch nicht ganz – von den antideutschen Vorstellungen befreite. Es war ein sehr komplizierter und schmerzhafter Prozess, denn während ich um mich selbst kämpfte, musste ich andere verletzen, manchmal auch die, die mir am nächsten standen und denen die Deutschen viel Leid zugefügt hatten.

    Bis heute sind wir uns dessen nicht bewusst, wie oft sich der Generationenkonflikt in Polen an dem deutschen Thema entzündete. Man spricht gewöhnlich von der antideutschen Propaganda der kommunistischen Behörden, aber sie war doch nicht das Einzige, was über unser Verhältnis zu den Deutschen entschied. Zu Hause versuchte man, uns mit Geschichten über den westlichen Nachbarn Angst einzujagen, um die Macht über unsere kindlichen Seelen zu behalten. Die Geheimnisse der deutschen Welt lernte ich aber nicht nur durch die Erzählungen der Eltern oder die Wochenschauen kennen, sondern auch persönlich – bei meinen Wanderungen auf den deutschen Spuren, die in Danzig geblieben waren. Und diese Spuren stimmten gar nicht mit dem überein, was ich von den Erwachsenen hörte.

    Die Kunstschule in Orlowo (dem früheren Adlershorst), die ich als Jugendlicher besuchte, war eine ganz besondere Schule. Dort lernte ich die gotische Schrift, die Schwabacher und die Fraktur kennen – Buchstabenmuster, die mich begeisterten. Kaum jemand weiß, wie viel eine so intime Kenntnis fremder Schrift in einem Menschen bewirken kann.

    Einige Pavillons, in denen sich vor dem Krieg ein berühmtes Restaurant befand, ein paar Schritte von dem kleinen Seehaus entfernt, in dem der Schriftsteller Zeromski seinen Roman Meereswind schrieb und sich mit dem jungen Dichter Lechoń traf. Vor den Fenstern des halbkreisförmigen Saals die hohe Ostsee, die Wellen zerfallen an den Stützbalken der Mole, ein eisiger Wind weht vom Norden her. Und wir – junge Menschen in Ärmelschonern aus Satin – sitzen an unseren Holzpulten und kalligraphieren stundenlang in gotischer Schrift auf weißen Kartonblättern: „Pünktlichkeit und Verbindlichkeit soll immer und überall unsere Devise sein", radieren fleißig mit einem Stahlmeißel auf Gipstafeln lateinische Cicero-Zitate in der monumentalen capitalis quadrata, versuchen, die Geheimnisse der englischen Schrift des späten 18. Jahrhunderts zu ergründen, lernen die Rundungen der italienischen rotunda kennen, imitieren die Schärfen der germanischen Fraktur aus einer alten Ausgabe von Luthers Bibel, kopieren die figurativen Initialen aus der Bibel der Königin Sophie – in Dunkelrot, Blau, Rot.

    Diese Momente waren wirklich sehr wichtig. Der Hass auf die Deutschen stieß mit der intimen Einweihung in die gotische Schrift und in die Welt der Dinge zusammen, die in Danzig von den Deutschen übrig geblieben waren. Es waren manchmal sehr schöne Dinge. Und da ich keine lebendigen Deutschen kannte, musste ich ihren Geist aufgrund der Spuren, die sie hinterlassen hatten, rekonstruieren. So wie die Paläontologen die Form der früheren Welt aufgrund der Fragmente ausgegrabener tierischer Knochen rekonstruieren, ließ ich auf eine ähnliche Weise die mir unbekannte deutsche Welt wieder lebendig werden. Meine Kindheit, die ich in Kurze Geschichte eines Scherzes beschreibe, war eine wahre „private Archäologie der Danziger Speicher, Keller und unterirdischen Räume. Denn das Danzig der Speicher und Keller war über viele Jahre unglaublich deutsch! „Zivilisiert auf polnische Art waren nur die Wohnungen. Ganze Stapel deutscher Bücher, Zeitungen, Landkarten, Noten und Plakate lagen in der Dunkelheit unter dem Fußboden.

    Einerseits hörte ich also die Familiengeschichten über SS-Männer und Auschwitz, und andererseits schaute ich verblüfft auf die weißen Villen der Danziger Honoratioren aus den 1930er Jahren, in denen meine Schulfreunde wohnten. Ein deutsches Haus war für mich immer ein Rätsel. Seit jener Zeit habe ich viele deutsche Städte kennengelernt, doch ich werde den Eindruck nicht los, dass ich das wahre „Deutschtum" eben damals, in meiner Kindheit, berührte. Denn das heutige Deutschland wird immer weniger deutsch. Der Einfluss der amerikanischen Kultur ist riesig. Paradoxerweise sind also im polnischen Pommern, dank unserer begrenzten Mittel für Renovierungsarbeiten, die meisten Spuren des früheren deutschen Geistes geblieben, und vermutlich deswegen kommen auch die Deutschen so gern hierher. Wenn ich mit ihnen spreche, habe ich manchmal das Gefühl, dass ich – ein Danziger, der nach dem Krieg im polnischen Gdańsk geboren wurde – viel genauer den deutschen Geist spüre als sie!

    Es hat mich immer sehr interessiert, wie die Menschen mit Dingen umgehen. Ich beobachte aufmerksam, wie sie eine Tasse in die Hand nehmen, einen kleinen Löffel, einen Füller, ein Blatt Papier. Das Verhältnis zu den Gegenständen sagt nämlich viel nicht nur über den einzelnen Menschen aus, sondern auch über das Niveau der Zivilisation. Es gibt solche, die mit Dingen rücksichtslos umgehen, es gibt solche, die eine Berührung fürchten, und noch andere haben für Dinge viel Zärtlichkeit übrig. Ich kann mich erinnern, wie unterschiedlich man in der Zeit meiner Kindheit mit den deutschen Dingen umging, die in Danzig den Krieg überdauert hatten. Nicht viele sahen darin ein zivilisatorisches Erbe, das zu retten sich lohnte. Zweifellos spielten damals der Hass und die Rache eine große Rolle, eine Art magischer Rache an den Gegenständen. Leider war es aber nicht der einzige Grund. In den herrlichen Gärten des alten Oliva, die ich in Kurze Geschichte beschrieben habe, wuchsen exotische Bäume und Sträucher, die noch im 19. Jahrhundert gepflanzt und von mehreren Generationen sorgfältig gepflegt worden waren. Ich weiß noch, wie einer unserer Nachbarn einen kleinen japanischen Ginkgobaum mit einem Axtschlag fällte, weil er etwas Kleinholz für ein Gartenfeuer brauchte, in dem er Abfall verbrannte. Am schmerzvollsten war, dass er sich dessen überhaupt nicht bewusst war, was er getan hatte. Auf ähnliche Weise wurden die schönen Bürgerhäuser aus dem 19. Jahrhundert behandelt, in denen sich die sogenannte „Einwanderungsbevölkerung" eingerichtet hatte. Diese Menschen identifizierten sich nicht mit dem Ort, an dem sie nun lebten.

    Heute werden die Häuser aus den schönen Stadtteilen, von denen ich schreibe, zu einem neuen Leben erweckt. Sie werden als etwas sehr Wertvolles behandelt, und es freut mich, dass ich meinen kleinen Anteil daran habe. Nach dem Erscheinen von Tod in Danzig hatte ich einige Erlebnisse, die das wohl bestätigen. Ich habe zum Beispiel erfahren, dass Menschen in die ehemalige Lessingstraße kommen und mit Tod in Danzig in der Hand nach dem Haus suchen, das ich beschrieben habe. Und eine Familie hat sogar in ihrem Garten wahre archäologische Arbeiten durchgeführt, um Sachen aus Hannemanns Zeiten zu finden. Sie wurden auch fündig, und der Fund hat für mich einen symbolischen Sinn: ein versiegeltes altes Danziger Tintenfass mit Tinte, die man noch benutzen konnte.

    Nach dem Krieg war die Multikonfessionalität Danzigs weniger deutlich sichtbar als früher. Ich schaute mit Erstaunen und Unruhe zu, wie die protestantischen Kirchen zu Kinos umfunktioniert wurden, in denen übrigens bis heute Filme gezeigt werden. Als kleiner Junge spürte ich den Unterschied zwischen den protestantischen und den katholischen Kirchen sehr stark. Als ich während eines Aufenthalts in Deutschland eine Lesung in der evangelischen Kathedrale in Cottbus hatte, kamen diese Kindheitserinnerungen mit großer Kraft zurück. Ich meine die Unterschiede zwischen der evangelischen Neogotik und der slawischen Gotik. In der riesigen, weißen Kirche in Cottbus gibt es nicht ein Bild Christi am Kreuz, auf dem Altar sieht man nicht ein Abbild Gottes, nur die Aufschrift „Jahwe", die an schwarzem Marmor golden leuchtet. Die Kühle der protestantischen Gefühlswelt, die so anders ist als der sinnliche, warme, familiär-weibliche Farbton des polnischen Katholizismus, fasziniert mich seit langem. Aber in manchen Danziger Kirchen, die in der Vergangenheit von Hand zu Hand gingen, stehen neben den Altären der Katholiken die der Protestanten. Gebetet wurde dort gemeinsam.

    Wenn ich über den Postmodernismus nachdenke, komme ich zu dem Schluss, dass er aus dem Bewusstsein erwächst, dass unsere europäisch-amerikanische Kultur langsam stirbt. In diesem Sinne kann man gewiss von einer postmodernen Melancholie reden. Doch die postmoderne Einbildungskraft hat nichts Melancholisches an sich. Dazu ist der kreative Impetus der Postmodernisten zu groß und die volksnahe Energie – die man sogar bei einem so noblen Postmodernisten wie Umberto Eco sieht – zu stark. Einerseits ist die postmoderne Kultur von der Verzweiflung über das nahende Ende durchsetzt, andererseits spricht aber aus ihr die Freude eines Bastlers, der einen Haufen zivilisatorischer Abfälle betritt und eine riesige Lust verspürt, daraus etwas Neues zu machen.

    Geistig viel reicher erscheint mir die romantische Melancholie. Vor allem interessiert mich dabei das deutsche Verhältnis zum Tod. Die deutschen Romantiker haben etwas erfunden, was es in der polnischen Kultur eigentlich gar nicht gibt: die Melancholie des Sterbens. Es gibt wohl nur einen polnischen Schriftsteller, der sich das ein wenig zu Herzen nahm, vielleicht deswegen, weil er Kierkegaard las und übersetzte – Jaroslaw Iwaszkiewicz. Vielleicht auch noch Andrzej Kusniewicz. Mich fasziniert aber seit langem der philosophische Gehalt der deutschen romantischen Malerei, die ich in meiner Jugend kennenlernte. Es war sehr interessant zu sehen, auf welche Weise die deutschen Künstler jener Zeit nach den gedanklichen Exzessen der Aufklärung die metaphysische Dimension des menschlichen Lebens und des Todes rekonstruieren konnten. Diese neue, nicht unbedingt religiöse Sensibilität, die sie hervorzubringen vermochten, brachte dem Menschen der Neuzeit eine besondere Art Trost, obwohl sie gleichzeitig, durch den Kult des Todes, eine Bedrohung für das normale Funktionieren des Einzelnen in der Gesellschaft darstellte. Ähnliche philosophische Inhalte kommen auch bei Kleist vor. Damit meine ich Gedanken mystischer Art, eine melancholische Milderung des Schreckens des Todes, der den Menschen besonders schmerzvoll trifft, wenn er in einer Welt ohne Gott lebt.

    Der deutsche Geist ist voller Widersprüche. Aber ich bin überzeugt, dass die deutsche Kultur – oder zumindest der Teil von ihr, mit dem ich in meinen Jugendjahren in Berührung kam – im Grunde in sich sehr stimmig ist.

    Man sagt manchmal, dass die deutsche Kultur mit der Zeit von einer Obsession der Ordnung und Sauberkeit beherrscht wurde. Ich denke aber, dass es um mehr ging. Über Jahrzehnte wurden die Deutschen von einem fanatischen, obsessiven Verlangen nach Schönheit zerfressen. Die Grundlage der Grausamkeiten, die dieses Volk im 20. Jahrhundert beging, war der Traum, eine Welt schöner, gesunder Menschen zu erschaffen, in der es keine Behinderten und Wahnsinnigen gäbe. Der Faschismus war in gewissem Maße eine Bewegung, die eine ästhetische Passion verfolgte. Er vernichtete nicht nur Juden und Slawen. Er zielte auch auf Deutsche ab, sobald sie seinem idealen Menschenbild nicht entsprachen. Es ist kein Zufall, dass die deutsche Kunst der 1930er Jahre, von allem die Bildhauerei, davon besessen war, ein perfektes anthropologisches Muster zu schaffen. In diesem Sinne handelten die Faschisten so, wie viele Künstler handeln, deren Ziel es ist, eine ideale Schönheit zu finden.

    Deshalb ist die Kunst eine zweideutige Beschäftigung. Sie schürt in den Menschen den Wunsch, ausschließlich damit umzugehen, was schön ist, und lehrt sie die Abneigung gegen das, was unförmig ist. Sie tut es sogar dann, wenn sie Antikunst ist.

    Blick aus dem Fenster

    Aus meinem Fenster im zehnten Stock sehe ich jeden Tag einen Hafen, der einst Neufahrwasser hieß und heute Nowy Port heißt, eine Halbinsel, die ihren Namen nicht geändert hat und nach wie vor Westerplatte heißt, und neben der Halbinsel einen Hafenkanal mit der berühmten Biegung an der Festung Weichselmünde, die jetzt Wisloujscie heißt. Genau an dieser Stelle begann am 1. September 1939 in der Früh mit einer Salve, die der Panzerkreuzer „Schleswig-Holstein" in Richtung des Polnischen Munitionsdepots abgab, der größte Krieg aller Zeiten.

    Jedes Mal, wenn ich Deutsche in Danzig herumführe, werden sie hier, am Hafenkanal, sehr lebhaft. Die Linsen der Fotoapparate klicken, alle schauen in Richtung der Ruinen auf der Halbinsel, ältere Männer tauschen Fachbemerkungen aus dem Bereich Militärwesen aus. Die Messinghülse des Geschosses, das an jenem Tag von dem Panzerkreuzer abgefeuert wurde, war so groß, dass ich darin als Kind – ich hatte sie mir aus der Nähe angeschaut – ohne weiteres Platz fand.

    Wanderers Haus

    „Gehst du mit uns zu Wanderer?", riefen mir die Brüder Stremski zu, während sie in Richtung der Siedlung finnischer Häuser an der Brzozowa-Straße liefen.

    „Gleich! Wartet auf mich!", rief ich aus dem Fenster zurück, zog mir schnell einen Pullover über und lief die Treppe hinunter.

    Als Wanderers Haus wurde ein Luftschutzbunker auf der Wiese neben den Ruinen des Roten Hofes bezeichnet. Wanderer lebte unten, in einem Betontunnel des Bunkers. Man kam dorthin über schmale Stufen, die zwischen den mit grauem Moos bewachsenen Betonwänden hinunterführten. Um den Bunker herum gab es einen verlassenen Kirschgarten, leere Apfelkisten, Flaschen, Lumpen. Wanderer saß über einem mit Wasser gefüllten Eimer und schälte Kartoffeln.

    Es war ein seltsamer Anblick: Er sitzt über dem Eimer, immer in demselben schmutzigen Mantel mit einem schmutzigen Schal um den Hals, und schält mit einem schwarzen Messer die Kartoffeln. Unsere Äpfel treffen ihn am Kopf und an den Schultern, und er bewegt sich nicht einmal. Er unterbricht nur kurz das Schälen und sieht uns mit zusammengekniffenen Augen an. Wartet auf den nächsten Schlag. Also

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