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Mein unglaubliches Leben
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eBook269 Seiten4 Stunden

Mein unglaubliches Leben

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Über dieses E-Book

Jack Whites Leben ist die deutsche Erfolgsgeschichte schlechthin. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen in den Ruinen des zerbombten Köln wurde er zunächst als außergewöhnliches Fußball-Talent entdeckt und startete eine Profi-Karriere, die ihn bis zum PSV Eindhoven führte. Doch das war ihm nicht genug, seine Leidenschaft gehörte der Musik. Zunächst versuchte er sein Glück als Sänger, bis er sich schließlich auf das Komponieren und Produzieren verlegte.
SpracheDeutsch
HerausgeberRiva
Erscheinungsdatum16. Aug. 2010
ISBN9783864130571
Mein unglaubliches Leben

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    Buchvorschau

    Mein unglaubliches Leben - Jack White

    Verlagsprogramm.

    1. Meine Kindheit fernab des Krieges und der Albtraum zur Wirtschaftswunderzeit

    Als Horst Nußbaum, zu meinem tiefen Entsetzen ohne jeden weiteren Vornamen als Alternative für den Alltagsgebrauch, wurde ich am 2. September 1940 – just ein Jahr und einen Tag nach Kriegsbeginn mit Hitlers Einmarsch in Polen – mitten in Köln in der Altenburger Straße im Wöchnerinnenheim geboren. Adolf Hitler sprach sich an meinem Geburtstag für den Einmarsch deutscher Truppen in Rumänien aus, und trotz der Bomben, die einschlugen, glaubt meine Mutter bis heute, dass sie die Uhr schlagen hörte: 11.03 Uhr war ich da, im Zeichen der Jungfrau mit dem Aszendenten Waage, wie ich heute weiß.

    Ganze neun Monate wohnten Käthe Nußbaum, geborene Etzenbach, und mein Erzeuger, Richard Paul Karl Bernhard Nußbaum, mit mir in der Domstadt in einer kleinen Dachgeschosswohnung in der Aachener Straße 12, ehe meine Mutter erneut bemerkte, dass sie in anderen Umständen war. Nachdem sie mit mir als Baby auf dem Arm so manchen Bombenregen in den dunklen Luftschutzkellern hatte durchzittern müssen, beschlossen meine Eltern, nach Thüringen zu ziehen, das weniger unter Beschuss stand. Mit dem zweiten Kind im Bauch fanden sie bei meinem Großvater Nußbaum in Merxleben, einem verschlafenen Ort bei Bad Langensalza, sicheren Unterschlupf. Meine Schwester Brigitte kam, zeitverzögert um sechs Tage ein Jahr nach mir in Erfurt zur Welt – was sie bis heute noch ärgert, aber wir beide sind Ossis und Wessis in einem.

    Unsere Kindheit war anfänglich ganz unbeschwert. Wir spielten unbekümmert im Garten, stolz sitze ich auf einem Bild am Steuer von Großvaters Auto, und wir mussten in dieser Zeit nie hungern, denn mein Opa war Großviehhändler, ein Beruf, der allein schon eine jüdische Herkunft suggerierte. Wir waren mit allem Nötigen versorgt – trotz des Krieges. Allerdings mussten wir aufgrund unseres Familiennamens einen Ariernachweis erbringen. Jüdischer als Nußbaum konnte ein Nachname wohl kaum klingen. Meinen Großeltern väterlicherseits gelang es jedoch, dem nationalsozialistischen Deutschen Reich bis in die vorletzte Generation zu beweisen, dass die Familie Nußbaum evangelischen Ursprungs und der Name notgedrungen aus einem gleichnamigen Gewächs im Familiengarten entstanden war. Bis heute glaubt mir natürlich keiner meiner semitischen Freunde, dass ich nicht einer von ihnen bin, aber Nomen ist nicht immer Omen. Denn weder bin ich Jude noch kann ich mit irgendeinem jüdischen Verwandtschaftsverhältnis des soundsovielten Grades aufwarten – leider noch nicht einmal mit einem legendären Urgroßvater, den manche Deutsche gern aufführen, wenn sie akzentuieren wollen, sie seien schon aufgrund ihrer Herkunft über jeden Verdacht des Antisemitismus erhaben. Dass mir dieser jüdisch anmutende Nachname in meinem späteren Leben sogar mal Tür und Tor öffnen würde, zeichnete sich damals jedenfalls noch nicht ab.

    Unsere Ahnenforschung war so glaubwürdig, dass mein Vater als Soldat eingezogen wurde. Und wann immer er zwischen 1939 und 1945 auf Urlaub war, stellte meine Mutter kurze Zeit später fest, dass sie schwanger war. Ich weiß nicht, wie viele Geschwister Brigitte und ich bekommen hätten, wenn sie die Babys nicht alle verloren hätte, bis Kriegsende wären es bestimmt vier weitere gewesen.

    Als der Krieg am 8. Mai 1945 zu Ende ging, blieben wir noch drei Jahre in der sowjetischen Besatzungszone. Aber ehe die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands mit ihrer Gründung 1946 ihr sozialistisches System auch in dem letzten trotzigen Freigeist durchzusetzen versuchte, entschieden sich meine Eltern zur Flucht in den Westen. Wir schrieben das Jahr 1948, als es die sogenannte Grüne Grenze gab, die zunächst relativ einfach gesichert, dennoch nicht ohne Gefahr war. Mein Vater ging mit mir und einem einzigen Koffer in der Hand im Dunkeln vor, wir orientierten uns an den Sternen. Ich fand das Ganze aufregend, habe es aber eher als ein Abenteuer angesehen. Auf jeden Fall: Es gelang. Mein Vater brachte mich schließlich zu Oma und Opa in die Kölner Paulstraße. Er ging ein paar Tage später zurück in den Osten, um noch Mutter, Schwester und Mischlingshündin Dina rüberzuschleusen. Meine Schwester, so erzählte meine Mutter später, ist wohl in der kalten Stille der Nacht auf Dinas Bein getreten, doch die Hündin hat nicht einen Mucks von sich gegeben. Diese Flucht muss unheimlich gewesen sein. Und sie blieb die einzige tapfere Tat in meiner Erinnerung an meinen Vater.

    Alle Möbel, alles, was unser Eigen war, war im Osten zurückgeblieben. Wir fingen bei null wieder an. Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn wir regimetreu und der ostdeutschen Herkunft meines Vaters gebührend drüben geblieben wären. Doch wir waren entschlossen, nicht in den Fängen der Kommunisten zu verharren, die von Einheit und Gleichheit schwadronierten. Wir waren willens, dank eigener Kraft aus dem Nichts wieder etwas zu schaffen, und so zogen wir vier zurück nach Köln, in die Heimat meiner Mutter.

    Wir wohnten erst mal bei den Großeltern Etzenbach. Meine Geburtsstadt war zu drei Vierteln zerstört, die alliierten Truppen aus England, Frankreich und Amerika hatten den Westen besetzt. Die einst schöne Stadt am Rhein war mehr oder weniger unter britischer Hand. Die US-Soldaten schienen mir allgegenwärtig, sie waren bereits am 6. März 1945 als Befreier in Köln eingerückt. Die Franzosen hatten sich hingegen südlich von Köln niedergelassen.

    Mein Onkel Harry, der große Bruder meiner Mutter und ein ausgesprochener Lebemann, war nach Kriegsende nach Westberlin gezogen, das seit Juni 1948 auf dem Landweg von der sowjetischen Besatzungsmacht total abgeriegelt wurde. Westberlin sollte ausgehungert werden, aber die angloamerikanischen Siegermächte schufen eine Luftbrücke, die Onkel Harry und mit ihm alle Berliner im Westteil am Leben erhielt. »Rosinenbomber« ließen ein ganzes Jahr lang alles Notwendige vom Himmel runterfallen – in sogenannten CARE-Paketen fanden sich Kartoffeln, Getreide und Mehl für die Notversorgung und Kohle als Brennstoff, bis die Blockade von den Russen wieder aufgehoben wurde. Westberlin hatte sich seine Freiheit erkämpft. Mein Onkel Harry war voller Stolz und ab sofort ein »Berliner«. Etwas später allerdings kam auch Onkel Harry wieder zurück nach Köln und zog in eine Wohnung im fünften Stock ohne Fahrstuhl.

    Wir hingegen hatten uns – nach insgesamt fünf Umzügen – im Stadtteil Köln-Longerich niedergelassen, wo mein Vater als Metzger eine Anstellung fand. Er nahm nicht an einem der vielen Programme für heimkehrende Soldaten teil, er hatte seinen Beruf, und den wollte er wieder ausüben. So eröffnete er voller Tatendrang seine eigene Metzgerei, die uns später allerdings ruinieren sollte. Denn zu dieser Zeit kam Dosenfleisch in Mode. Alles, was aus der Konserve kam, verdarb nicht so leicht, galt als amerikanisch und war somit der »letzte Schrei«. Die Dosenkultur der Besserverdiener auf der einen Seite und der Boom der neu entstehenden Warenhäuser brachen meinem Vater mit seinem Einzelhandel am Ende das Genick.

    Vor Vaters wirtschaftlichem Ruin, noch ganz am Anfang seiner Selbstständigkeit, verbrachten wir Kinder unsere überschaubaren Tage mit dem Ergattern der Lebensmittelkarten der britischen Besatzungszone, mit Schlangestehen für klumpiges Maisbrot und natürlich unseren Spielen in den verlockenden, aber höchst gefährlichen Trümmerlandschaften. Nie vergesse ich den Moment, als mir mein Vater an einem Karren eine Apfelsine kaufte und ich zum ersten Mal in meinem Leben eine solche Südfrucht aß. Ich erinnere mich auch noch an die Schulspeisungsschokolade (die gab es nur in der Lehranstalt) und Kaugummis als US-Glückseligkeit – und an die amerikanische Musik, die man abfällig »Negermusik« nannte. Ich mochte diesen Rhythmus, der von den britischen Soldaten und den GIs in die Kölner Stadt getragen wurde. Unterschwellig half mir diese Zeit sicher auch, ein Gespür für die englische Musik zu entwickeln, für Texte in einer Sprache, die mir völlig fremd war, einem Kauderwelsch ähnlich. Einfach durch die Attraktivität des Neuen, das mich magisch anzog, gepaart mit der Freundlichkeit der US-Soldaten, spürte ich die Sehnsucht, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in dem man scheinbar keinen Krieg kannte, kennenzulernen. Dass ich diese Sehnsucht irgendwann stillen würde, ja Amerika musikalisch sogar erobern würde, fast so, wie es einst Kolumbus geografisch getan hatte, das hätte ich damals nicht mal zu träumen gewagt.

    Als 1952 das deutsche Wirtschaftswunder begann, erlebten wir unseren persönlichen Krieg. Meine Eltern waren abgearbeitet, beide Kriege steckten ihnen in den Knochen und im Herzen. Gebeutelt und geschwächt vom Leben verließ mein Vater Bernhard Nußbaum die Familie, als ich zwölf Jahre alt war. Das Einzige, was von ihm blieb, waren sein Name und seine Schulden. Meine um ein Jahr jüngere Schwester Brigitte, meine Mutter Käthe und ich, wir waren allein unserem Schicksal überlassen. Er ist mitten in der Nacht abgehauen, hat sich von mir und meiner Schwester verabschiedet, von meiner Mutter nicht. Selbst mein Großvater Nußbaum aus Thüringen tauchte ab. Gegen diesen Schmerz des Verlassenwerdens blieb das Dröhnen der Bomber im Krieg nur eine Fußnote. Vater gab mir beim Abschied mit auf den Weg: »Werd Fußballer, mein Sohn, lass die Finger weg von Zigaretten, Alkohol und Mädchen, die Mädchen kommen später ganz von allein …« Damit hatte er recht, aber es ist traurig, dass dies die letzten Worte meines Vaters waren, der es nach den Wirren des verheerenden Krieges fertigbrachte, einfach so komplett von der Bildfläche zu verschwinden. Meine Mutter hat jahrelang nach ihm gesucht – vergeblich.

    Von 250 000 Wohnungen, die es vor dem Schrecken des Krieges in Köln gab, waren nach der Nazi-Katastrophe gerade noch 50 000 bewohnbar. Für uns gab es nicht eine. Wir fanden zuerst in einer feuchten Gartenlaube eines Schrebergartens in Longerich Unterschlupf. Doch bald wurde unsere finanzielle Lage derart schlimm, dass wir für 15 lange, nicht enden wollende Monate in den Bunker in der Elsassstraße 4 in Köln-Süd ziehen mussten. Nur 500 Meter von der Altenburger Straße entfernt, wo mein Leben begonnen hatte, hausten wir, auf sechs spärlich beleuchteten Quadratmetern mit einem Drei-Etagen-Stockbett, einem Tisch und einem Stuhl, ohne Tageslicht. Meine Mutter schlief unten, Brigitte in der Mitte und ich ganz oben, wo die Luft zum Atmen noch dünner war. Zähneputzen, Waschen und Toilette erledigten wir in einem Gemeinschaftsraum. Einmal in der Woche wurden wir, nach einem Plan, in einer Gemeinschaftsbadewanne für etwa 200 Familien ordentlich von Kopf bis Fuß gereinigt – der einzige Lichtblick in dieser dunklen Grube. Die Bunkerzeit war, als alle längst vom Aufschwung sprachen und Deutschland – trotz des Schwarzmarkthandels – zum Wunderland mutierte, mein bewusst erlebter Albtraum.

    Bevor meine Mutter eine Arbeit als Metzgereiverkäuferin fand und wir jahrelang zu dritt von 25 D-Mark in der Woche existieren mussten, ging es uns richtig schlecht. In dieser Zeit habe ich den schlimmsten Tag meines ganzen Lebens erlebt, den ich nie mehr vergessen werde. Es war der 13. Tag im Bunker, an dem Brigitte und ich nichts zu essen hatten. Total geschwächt konnte meine Schwester nicht mal mehr aufstehen. Ich habe mich schließlich herausgequält und zu einer Bäckerei geschleppt. Unvergesslich die Auslage hinter der großen Glasscheibe mit den Köstlichkeiten, all den frischen, leckeren Brötchen – ich habe mir an der Fensterfront die Nase plattgedrückt. Dann überwand ich mich: Ich ging hinein und bettelte zum ersten Mal in meinem Leben, ich bat um ein Brötchen. Die beiden Verkäuferinnen schauten sich und mich verdutzt an. Die Sekunden kamen mir wie eine Ewigkeit vor, als eine von ihnen an den frischen duftenden Semmeln vorbeiging und mir dann ein trockenes Brötchen vom Vortag in die Hand gab. Ich teilte es brüderlich mit meiner Schwester. Bis heute habe ich diese Semmel vor Augen!

    Einmal kam Brigitte mit einem belegten Käsebrot in unsere finstere Höhle, weil unsere Mutter von irgendeinem Verwandten Geld geschenkt bekommen hatte. Nie mehr hat mir ein Käsebrot auch nur annähernd so gut geschmeckt wie dieses. Im Bunker erlebten wir auch Weihnachten. Es war für uns alle klar, dass es am Heiligen Abend keine Geschenke geben würde, dafür aber etwas für den allzeit knurrenden Bauch. Wir Kinder hatten uns damit abgefunden. Auch in den Jahren danach gab es zu Weihnachten nichts. Allerdings kamen irgendwann einmal, nachdem mein Vater über das Einwohnermeldeamt in Bochum gefunden werden konnte, überraschend an einem Heiligabend 100 D-Mark Unterhalt von ihm. Da hatten die Geschäfte allerdings längst schon zu. Doch wir konnten unser Glück kaum fassen! Meine Mutter entdeckte dann noch einen Laden, der geöffnet war. Brigitte und ich bekamen je ein paar Socken geschenkt. Es war unser schönstes Christkind!

    Es sind diese Bilder, die sich derart in meine Erinnerung eingefressen haben, dass ich sie nicht verdrängen kann und auch nicht möchte. Sie halten mich auf dem Boden, lehren mich bis heute Demut vor dem Leben und bewahren in mir einen großen Respekt für die Generation, die bewusst den Zweiten Weltkrieg erleben musste und dennoch – wie meine Mutter – das Lachen nicht verlernte. Sie arbeitete bald in der Metzgerei und stand sich dort die Füße platt. Es war eiskalt in den Räumen, ihre Knochen hielten aber noch viel mehr aus als diese Starre, denn um zu dieser Arbeit zu kommen, lief sie täglich vier Kilometer zur Straßenbahn, um die zehn Pfennig für den Bus, der sie bis dahin hätte bringen können, zu sparen. Abends ging sie dann dieselbe Strecke wieder zurück, mit schweren Tüten, damit sie uns hungrige Mäuler irgendwie durchbekam. Sie kämpfte wie eine Löwin. Jeder Groschen wurde bei uns dreimal umgedreht. Sie hat uns später erzählt, dass sie in dieser Zeit über Selbstmord nachgedacht habe, wir Kinder ihr jedoch die Kraft gegeben hätten, es nicht zu tun.

    Meine Schwester und ich waren tagsüber uns selbst überlassen. Vom Vater in all den Jahren keine Spur. Einfach weg, einfach so! Ich habe mich immer gefragt, warum er das getan hat. Keiner konnte mir eine Antwort geben. War er vom Krieg traumatisiert? Hatte er sich in eine andere Frau, in eine der starken Trümmerfrauen verliebt, die keine Kinder am Hals hatte? Oder wollte er einfach nur weg von uns, dem Elend, den Schulden? Ich weiß es bis heute nicht. Wir sahen meine Mutter oft weinen, für mich ein unvergessliches, schmerzhaftes Bild. Ich weiß nicht, woher sie die Motivation nahm, uns aus dem Bunker zu befreien. Noch heute, mit 90 Jahren, füllen sich ihre Augen mit Tränen, wenn ich sie danach frage. Aber damals wie heute sagt sie nicht viel dazu. Ihr Schweigen zieht sich wie ein roter Faden durch ihr und mein Leben. Vieles blieb und bleibt unausgesprochen. Der Krieg und vor allen Dingen ihr persönliches Schicksal nach den Kriegsjahren haben sie derart gebrandmarkt, dass sie all das bis heute nicht verwunden hat.

    Meine Schwester ist hingegen eine Meisterin im Verdrängen geworden. Ganz im Gegensatz zu mir will sie die Vergangenheit ruhen lassen, sie will sie für immer vergessen. Brigitte will das alles nicht mehr hören, während ich in Interviews von unserer schlimmen Kindheit erzähle. Jeder verarbeitet sein Schicksal auf seine Weise. Ich kann nichts vergessen, auch wenn es mehr als ein halbes Menschenleben zurückliegt. Unser Vater hatte uns emotional und finanziell ruiniert. Ich habe bis heute noch die Bilder vor Augen, wie er immer wieder auf meine Mutter einschlug. Das war für mich ein solcher Schock, dass mich diese Erinnerung niemals loslassen wird. Dies miterleben zu müssen, das war letztlich auch das Ende meiner Kindheit. Ich könnte nie die Hand gegen eine Frau heben, ganz gleich, wie sie mich auch reizen und provozieren würde. Es ist für ein Kind nicht zu ertragen, wenn die Mutter vom Vater verprügelt wird. Als Sohn konnte ich nur zuschauen, ohne der eigenen Mutter helfen zu können, weil ich noch zu klein, weil ich wehr- und machtlos war. Er war mir ja mehr als überlegen, wir Kinder trauten uns nicht dazwischenzugehen. Der Mensch verdrängt das Böse, heißt es, aber ich kann mich an alle negativen Erlebnisse aus meiner Kindheit eher erinnern als beispielsweise an meine Einschulung, die ja sehr positiv war, damals in Thüringen, als meine Welt noch intakt war.

    Erst als ich Anfang der 70er meinen ersten Millionenhit hatte, stand mein Erzeuger plötzlich vor der Tür meines Lichterfelder Mietshauses in Berlin und meinte: »Ich bin doch dein Vater!« Er wollte nur eins von mir: Geld! Keine Reue, keine Entschuldigung! Da habe ich ihn aus meinem Haus hinausgeworfen. Ich hatte nur noch Abscheu als Gefühl für ihn übrig! Ich konnte ihm, trotz meiner christlichen Prägung, nicht verzeihen geschweige denn mich mit ihm aussöhnen. Als er 1995 starb, stand meine älteste Tochter Pia an seinem Grab. Ich blieb seiner Beerdigung fern, denn für mich war er schon seit 1952 tot. Keinerlei Regung in mir, kein Mitleid, keine Trauer! Ich hätte das meiner Mutter auch nicht antun können. Ich wollte zu dem Mann, der uns so herzlos im Stich gelassen und meine Mutter vor unseren Augen geschlagen hatte, nie mehr Papa sagen geschweige denn ihn auf seinem letzten Weg die Ehre erweisen. Zu stark pulsierten noch die vernarbten Wunden, die sein Verhalten in mir hinterlassen haben. Natürlich habe ich heute aus der Sicht eines fünffachen Vaters die Erkenntnis, dass jedes Elternteil Fehler machen kann. Ich selbst bin ein Paradebeispiel dafür, dass ich als Papa bei meinen ersten drei Kindern weitgehend versagt habe, aber eines habe ich besser gemacht: Auch wenn diese Kinder nicht die gebührende Liebe von mir erhielten, war ich ihnen zumindest finanziell immer eine gesunde Stütze. Denn zumindest dafür muss ein Vater die Verantwortung übernehmen können. Hier habe ich mir jedenfalls nichts vorzuwerfen. Hätte mein Vater dies in unserem Fall so gehandhabt, wäre ich am Ende wahrscheinlich versöhnlicher mit ihm gewesen. Aber neben dem Verlust des Vaters auch noch lebensbedrohliche Ängste durchstehen zu müssen, hungern zu müssen, in einem Bunker wohnen zu müssen, betteln zu müssen – das sind zu harte, prägende Erfahrungen für ein Kind! Für meine Gefühlswelt war es deshalb auch schlichtweg nicht möglich, ihm verzeihen und mich mit ihm aussöhnen zu können. Objektiv würde ich heute verstehen, wenn es Leute gibt, die das anders sehen – doch emotional ist es so, wie es eben ist.

    Ich habe erfahren, was Hungern und Kämpfen heißt. Wenn ich heute Bettler Müllkörbe durchstöbern sehe, habe ich Déjà-vu-Erlebnisse. Um unsere Mutter zu unterstützen, haben Brigitte und ich von meinem 14. bis zum 20. Lebensjahr für eine D-Mark pro Tag, die wir natürlich unserer Mutter gegeben haben, Brötchen ausgetragen. »Sehr geehrter Herr Lehrer!«, schrieb meine Mutter am 3. Dezember 1956. »Bitte entschuldigen Sie, dass Horst verspätet zur Schule kommt. Er musste seinen Personalausweis zur Polizei bringen, weil er für eine Bäckerei Brötchen austrägt und dieselbe die Boten zu früh zur Kundschaft schickt.« Diesen Brief hat sie ungern geschrieben, aber so war unser Leben. Nebenher trug ich Zeitschriften aus und arbeitete an Samstagen an diversen Marktständen. Ich habe das Wechselgeld dabei oft in meine eigene Tasche gesteckt und hier und da eine Frucht vom Stand geklaut. Butter hingegen war mindestens sechs Jahre lang für uns ein Fremdwort. Es gab Graupensuppe, Erbsmehlsuppe und noch mal Graupensuppe. Mit großen Augen schauten wir immer in Mutters Kochtopf, aber viel Abwechslung gab es nicht.

    Dass es uns dreckig ging, war nicht zu übersehen, denn Brigitte und ich liefen lang und dürr auf der Straße herum. Für einen Groschen (zehn Pfennige) kauften sich andere Kinder eine Stange mit fünf Karamellbonbons, »Riesen überall gepriesen« hieß es am Automaten. Und keines der Kinder wäre je auf die Idee gekommen, uns auch nur eine der Leckereien abzugeben. Unser Trost war am Ende, dass wir dann wohl auch keine Plomben und losen Zähne bekommen würden, so klebrig wie diese Begehrlichkeiten waren. Während diese Bonbons schmatzenden Kinder mit Rollern und Lederhosen bestückt wurden, sahen meine Schwester und ich dagegen nur blass aus. Zünftige Lederhosen, die man damals landauf, landab und nicht nur in Bayern sah, waren für uns zu teuer. Aber in meiner zerschlissenen Stoffhose konnte ich nicht punkten und Anführer werden. Dass ich den anderen mit meinem Fußballgeschick imponieren könnte, kam mir damals noch nicht in den Sinn.

    Ich erlebte viele Kinder auf den Straßen Kölns, aber keinem ging es in meinen Augen auch nur annähernd so schlecht wie uns. Und wie war ich neidisch auf meine Mitschüler, die ein Fahrrad bekamen! Meine Mutter schickte mich zum Schrotthändler, wo ich mir dann in wochenlanger Arbeit selbst eins zurechtbastelte. Es fuhr, und das war am Ende das Wichtigste.

    In dieser Zeit, wo ich Kaiser war, wenn ich beim Austragen der »Hör zu« zusätzlich zu den 5 Pfennig Zustellgebühr 5 Pfennig Trinkgeld bekam, ging es mit Deutschland bergauf. Während einige unserer Schulfreunde sichtbar im Wohlstand lebten, wurden mein Hass und meine Aversion auf die reichen Söhne mit der Son-nenbrille auf der Nase immer größer. Dieses Gefühl ist im Übrigen leider bis heute unterschwellig geblieben. Denn ich bekam nie etwas geschenkt, habe nichts geerbt, ich musste mir immer alles selbst erarbeiten. Und das ist bis heute so geblieben. Ich musste mir alles erkämpfen, mein Vorbild dabei war und ist immer meine Mutter geblieben. Sie hat es aus eigener Kraft geschafft, ohne putzen gehen zu müssen – wie sie heute noch stolz betont –, unser Bunkerleben zu beenden.

    Wir zogen im April 1954 in eine Sozialwohnung nach Buchforst, in die Wildunger Straße 4, auf die sogenannte schäle Sick.

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