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Kartoffelsalat und Würstchen - Meine Lebensgeschichte - Buch I
Kartoffelsalat und Würstchen - Meine Lebensgeschichte - Buch I
Kartoffelsalat und Würstchen - Meine Lebensgeschichte - Buch I
eBook704 Seiten9 Stunden

Kartoffelsalat und Würstchen - Meine Lebensgeschichte - Buch I

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Über dieses E-Book

Paul Gojny, 1940 in Groß Wartenberg, Niederschlesien, geboren, schildert in seinem ersten Buch seine spannende Lebensgeschichte, die mit der erschütternden und gefährlichen Flucht aus Schlesien ohne den geliebten Vater beginnt. Der lange und kräftezehrende Weg der Flucht in den sicheren Westen, ohne zu wissen, ob der Vater noch lebt, führt die Familie über mehrere Stationen, bis sie letztendlich in Minden Fuß fassen, wo Paul Gojny im
dritten Anlauf seine Ausbildung zum Maschinenschlosser absolviert.

Doch es zieht ihn zur Marine, die sich Anfang der 60er Jahre noch im Aufbau befindet, wo seine Karriere ihren Lauf nimmt. Dort verbringt er einige schöne und spannende Jahre, lernt seine große Liebe kennen und heiratet sie. Mit der Karriere geht es steil bergauf. Schließlich lässt er sich mit seiner Frau in Cuxhaven nieder, wo er nach der Ausbildung zum Marineflieger in Nordholz stationiert wird. Ausführlich schildert er die gefährlichen Luftnotlagen, die ihm dabei widerfahren.

Das Glück scheint ihm hold und er könnte mit den erreichten Zielen zufrieden sein, doch es zieht den strebsamen Mann immer weiter, getreu dem Spruch seiner geliebten Großmutter: "Man kann im Leben alles erreichen, man muss nur es fest genug wollen".
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum22. Nov. 2019
ISBN9783750255425
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    Buchvorschau

    Kartoffelsalat und Würstchen - Meine Lebensgeschichte - Buch I - Paul Gojny

    Kartoffelsalat und Würstchen

    Titel Seite

    Impressum

    Vorwort

    Kapitel 1 - Flucht aus Schlesien

    Kapitel 2 - Kindheit und Schulzeit im Emsland

    Kapitel 3: Rühlertwist und das Warten auf Vater

    Kapitel 4 - Minden und Lehre in drei Versuchen

    Lehre in drei Versuchen

    Kapital 5 - Die Jahre bei der Marine

    Kapitel 6 - Meine Jutta

    Kapitel 7 - Die Ausbildung zum Marineflieger

    Kapitel 8 - Erlebnisse in der Luft

    Kapitel 9: „Häusle bauen"

    Titel Seite

    Kartoffelsalat und Würstchen

    Meine Lebensgeschichte

    Buch I

    Paul Gojny

    Impressum

    Texte:                                       © Copyright by Paul Gojny

    Umschlag & Foto:                   © Copyright by Paul Gojny

    Coveridee und -gestaltung:      Jagpal Singh

    Korrektorat:                              Bettina Singh

    Verfasser:                                  Paul Gojny

                                                      Mecklenburger Str. 46

                                                      27478 Cuxhaven

                                                      Paul.Gojny@t-online.de

    Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit schriftlicher Zustimmung des Autors zulässig.

    ISBN 978-3-****-***-*

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Vorwort

    Dieses Buch zu schreiben, ist der Versuch, mein Leben, welches ein äußerst bewegtes, interessantes, aber auch in so mancher Hinsicht gewagtes Leben war und ist, niederzuschreiben. Ich möchte mir damit alles, was mir in meinem Leben widerfahren ist, von der Seele schreiben. Aber auch, um Vieles mit dem nunmehr nötigen Abstand besser verarbeiten zu können. Es gab viele bewegende Momente, die mein Leben für immer geprägt haben.

    Ich habe alles so niedergeschrieben, wie es sich meiner Erinnerung nach zugetragen hat. Ich glaube, dass mein Leben bisher so interessant war, dass es sich lohnt, niedergeschrieben zu werden. Der/die LeserIn möge darüber aber nach dem Lesen der Lektüre selber entscheiden. Für meine Nachkommen wünsche ich mir, dass sie diese Lektüre lesen werden. Dass sie vor allem aus dem, was ich getan oder auch unterlassen habe und aus dem, was mir widerfahren ist, ihre Lehren ziehen mögen, um nicht alle Fehler, die ich gemacht habe, zu wiederholen.

    Kapitel 4: Minden und Lehre in drei Versuchen

    Kapitel 1 - Flucht aus Schlesien

    Am 7. März 1940 wurde ich an einem strahlenden Sonntagmorgen um 10.32 Uhr in Groß Wartenberg, Niederschlesien, geboren. Laut Aussage meiner Mutter Helene wog ich bei meiner Geburt zehneinhalb Pfund. Da ich ihr viertes Kind war, erhielt sie dafür von den damaligen NS-Machthabern das Mutterkreuz in Gold. Zudem war ich, nach Mutters Aussage, das schwerste Baby des Jahres.

    Obwohl sie nie etwas mit den Nationalsozialisten zu tun haben wollte, war sie doch irgendwie stolz auf diese Auszeichnung. Aufgrund dieser Auszeichnung und meines außerordentlichen Geburtsgewichtes, war ich schon bei meiner Geburt etwas Besonderes. Mein Vater, Gerhard Gojny, war Zollbeamter und verrichtete an der nahe gelegenen polnischen Grenze seinen Dienst. Bei meiner Geburt hatte ich bereits drei Geschwister. Es waren dies meine älteste Schwester Brigitte, geb. 1935, und meine Brüder Hans und Heinrich, geb. 1937, die als Zwillinge auf die Welt kamen. Nach mir kamen dann noch meine Schwester Rita und unser jüngster Bruder Gerhard zur Welt.

    Von meinen ersten vier Kindheitsjahren ist mir nichts Besonderes in Erinnerung geblieben. Ich wuchs wohlbehütet zusammen mit meiner Mutter, meiner Großmutter (mütterlicherseits), meinen drei älteren Geschwistern und meiner jüngeren Schwester in der Dienstwohnung meines Vaters auf. Es war ein alleinstehendes Zollhaus, direkt an der deutsch-polnischen Grenze. Hinter dem Haus befand sich ein großer Hundezwinger mit einem großen Schäferhund darin. Es war Vaters Diensthund Harras. Neben der Hundeanlage gab es noch ein Gebäude, in dem Geflügel gehalten wurde. Vornehmlich Hühner, aber auch Enten und Gänse waren dort untergebracht. An eine kleine Episode kann ich mich noch entsinnen: Als ich gerade Laufen gelernt hatte, bin ich meiner Mutter gerne ausgebüchst und so sperrte sie mich eines Tages in den Laufstall zu frisch ausgebrüteten Entenküken. Heute weiß ich natürlich nicht mehr, wie oder warum ich es tat. Als meine Mutter mich aus dem Laufstall herausholte, waren alle Entenküken tot und ich war gerade dabei, sie sauber übereinander zu stapeln. Nach Omas Erzählungen bekam ich von Mutter dafür kräftig den Hintern versohlt. Für jedes Wort, das sie dabei sprach, gab es einen Klaps auf den Allerwertesten. Es waren derer sechs, denn sie sprach den Satz: „Man quält und tötet keine Tiere!"

    Sonntagmorgens herrschte bei uns immer große Aufregung. Nachdem sich die Eltern und Oma ordentlich angekleidet hatten, wurden auch wir Kinder hübsch angezogen. Es folgte der gemeinsame Sonntagsgottesdienst in der römisch-katholischen Kirche. Wie fast alle Schlesier, waren auch wir katholisch. Wir saßen jedes Mal vorn in der ersten Reihe, und es war immer sehr laut und sehr kalt. Das Kirchengebäude war innen wie außen aus roten Klinkersteinen gemauert. Diese Tatsache alleine verstärkte auf mich den Eindruck der Kälte. Dieser Eindruck ist so intensiv in meinem Gedächtnis hängen geblieben, dass ich bis zum heutigen Tag keine Klinkergebäude mag.

    Eines frühen Morgens wurde ich durch furchtbare Geräusche und Erschütterungen wach. Alle paar Minuten erschütterte das ganze Haus und zwar so fest, dass die Bilder an der Wand hin- und herschaukelten. Dann knallte es wieder so laut, dass ich vor lauter Angst anfing zu heulen. Als meine Großmutter in unser Kinderzimmer kam, um mich sofort in den Arm zu nehmen, zitterte ich bereits am ganzen Körper. Sie versuchte mich zu beruhigen, indem sie mich an sich drückte, streichelte und küsste. Sie sagte: „Ich muss dich jetzt schnell anziehen, die Russen stehen schon vor Groß Wartenberg und wir müssen ganz schnell hier weg!" Weil wir nur das mitnahmen, was wir am Körper tragen konnten, zog Oma mir viel mehr Kleidung als üblich an. Während Oma mich ankleidete, hatte ich Gelegenheit, einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Da es mittlerweile hell geworden war, konnte ich sehen, wie meine Mutter ein großes Paket in ein wohl vorher gegrabenes Erdloch warf und dieses dann zuschaufelte. Später erfuhr ich, dass sie all unsere Familienkostbarkeiten, wie Schmuck, teures Porzellan, wertvolle Bilder, Vasen usw. in einen Kasten, den sie wohl vorher mit Wachspapier und Gummimatten ausgelegt hatte, zusammengepackt hatte, um diese Kostbarkeiten vor den Russen zu verstecken. Dies tat sie in der Hoffnung, diese sehr bald wieder ausgraben zu können, um sie wieder in Besitz zu nehmen. Natürlich ist dies bis zum heutigen Tage nicht geschehen.

    Als Mutter die Schaufel wieder in die Garage gestellt hatte, kam sie ins Haus zurück und rief aufgeregt: „Los schnell, wir müssen weg!"

    Oma verfrachtete uns auf unsere beiden Fahrzeuge, einen Bollerwagen und einen Kinderwagen. Die vier Großen kamen auf den Bollerwagen, vorne saßen die Zwillinge Hans und Heinrich, hinten saß meine große Schwester Brigitte und ich wurde neben sie gesetzt. In den Kinderwagen kam meine kleine Schwester Rita. Dann ging es los. Die Flucht vor den Russen begann.

    Wir hatten gerade das Gartentor erreicht, da hörte ich ein lautes Zischen, das plötzlich mit einem unerhört lauten Knall endete. Die Erde bebte. Dreck, Steine und vieles mehr flogen durch die Luft. Links von uns sah ich eine riesige Feuerwand zum Himmel aufsteigen. Brigitte, die links neben mir saß, schrie laut auf. Sie war von einem Gegenstand getroffen worden. Ihr Mantel und die darunter gezogene Jacke waren zerrissen. Sie blieb jedoch, bis auf einen blauen Fleck am linken Oberarm, unverletzt. Hier schon hätte die Flucht tragisch enden können. Wir hatten einen außergewöhnlich wachsamen Schutzengel, der schützend seine Hand über uns hielt. Ohne diesen hätten wir alle die Flucht und auch die folgenden schweren Jahre nicht überstanden.

    Aber was war geschehen? Etwa zweihundert Meter entfernt von unserem Wohnhaus stand ein großes Bauerngehöft. Wie ich später erfuhr, war dieses der Gutshof der Familie von Wartenberg. Der Gutshof, genau gesagt das Hauptgebäude, war von einer schweren Granate getroffen worden. Die Seite, die von unserem Haus sichtbar war, stürzte unter furchtbarem Getöse zusammen. Wir waren also viel zu spät aufgebrochen.

    Erstens hatten die Russen die deutschen „Verteidigungslinien" viel schneller durchbrochen als erwartet wurde, und zweitens hatte meine Mutter immer noch gehofft, dass mein Vater nach Hause kommen würde, um mit uns gemeinsam die Flucht anzutreten. Während Mutter noch auf ihn wartete, war Vater am selben Tage während der Ausübung seines Dienstes als Zöllner bereits in russische Gefangenschaft geraten. Was wir alle nicht ahnen konnten, war die Tatsache, dass wir unseren Vater erst viele Jahre später wiedersehen sollten.

    Mutter und Großmutter waren nun wohl auch in Panik geraten, denn sie begannen, mit uns im Schlepp zu rennen. Oma zog den Bollerwagen mit der rechten Hand, also links der Deichsel, während unsere Mutter mit der linken Hand rechts der Deichsel zog. Gleichzeitig schob sie mit der rechten Hand den Kinderwagen, in dem meine jüngere Schwester Rita saß. Sie rannten mit uns so schnell Richtung Bahnhof, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war.

    Endlich kamen wir am Bahnhof an. Dort stand ein sehr langer Zug. Das Problem war, dass dieser Zug schon über und übervoll mit Flüchtlingen war. Unglaubliche Szenen spielten sich auf dem Bahnsteig ab. Vor den Türen eines jeden Wagens hatten sich mehr oder weniger große Menschentrauben gebildet. Jeder kämpfte gegen jeden, um noch einen Platz in einem der Eisenbahnwagen zu ergattern. Es herrschte ein großes Durcheinander und es war unglaublich laut. Schreie, Kommandos, Trillerpfeifen und immer wieder lautes Einschlagen von Granaten und Bomben. Manchmal zitterte der ganze Bahnsteig. Vor lauter Angst hatte ich mich eng an meine ältere Schwester Brigitte gepresst. Dabei merkte ich, dass auch sie am ganzen Körper zitterte. Meine beiden Brüder Hans und Heinrich, die vor uns saßen, hatten ebenfalls angefangen zu schreien. Nur von meiner kleinen Schwester Rita hörte und sah ich nichts. Sie hatte sich wohl in ihrem Kinderwagen unter ihrer Bettdecke verkrochen. Großmutter und Mutter zogen uns im Laufschritt von Wagen zu Wagen, aber an jeder Tür hörten wir: „Der Wagen ist voll. In der Zwischenzeit hatten wir fast den gesamten Zug von hinten nach vorn abgeschritten, besser ausgedrückt, „abgerannt. Mutter hatte wohl auch keine Hoffnung mehr, mit diesem Zug mitzukommen. Als sie sich einmal zu uns umdrehte, sah ich, dass auch sie weinte. Als wir fast am vorderen Ende des Zuges angekommen waren, es muss der vorletzte oder der letzte Wagen vor der Lok gewesen sein, wurde plötzlich direkt neben uns eine Zugtür aufgestoßen. In der Tür stand ein uniformierter Mann und rief sehr laut den Namen meiner Mutter: „Lene! Meine Mutter blieb wie angewurzelt stehen, wandte sich dem Soldaten zu und rief: „Hans? Der Soldat drehte sich sofort wieder um und sagte ins Wageninnere gerichtet: „Da draußen ist eine Mutter mit fünf Kindern, die müssen noch mit, und im Befehlston weiter, „helft den Frauen und Kindern reinzukommen.

    Sofort sprangen ein paar hilfsbereite Soldaten aus dem Abteil, packten zuerst den Kinderwagen, dann den Leiterwagen, auf dem ich mich mit meinen Geschwistern befand und im Handumdrehen standen wir auf der Plattform des Abteils, also innerhalb des Eisenbahnwagens. Zwei Soldaten zogen dann noch unsere Mutter und Großmutter durch die Tür. Keine Sekunde zu früh, denn im selben Augenblick, setzte sich der Zug in Bewegung. Der Soldat Hans war neben der Tür stehen geblieben. Nachdem meine Mutter von den Soldaten durch die Tür in den Zug gehoben worden war und sich beide gegenüberstanden, fiel Mutter diesem Hans um den Hals. Als der Soldat nun auch meine Mutter in die Arme nahm, sah ich, dass sein linker Arm verbunden war und sich in einer Armschlinge unter dem Uniformmantel befand.

    Meine Mutter fand wohl zuerst ihre Sprache wieder. Ich hörte sie sagen: „Mein Gott, Hans, dich schickt der Himmel! Wo kommst du denn her und was tust du hier? Hans drückte Mutter noch einmal mit seinem rechten Arm an sich, ehe er antwortete: „Lenchen, das ist eine lange Geschichte, die ich dir später erzählen werde. Aber zunächst bin ich froh, dass ich euch helfen konnte, noch mit diesem Zug mitzukommen, denn dieser Zug ist mit Sicherheit der allerletzte, der noch Richtung Westen herauskommt. Die Russen stehen bereits vor den Toren der Stadt, die sie sicherlich heute noch einnehmen werden. Dann werden sie gleich weiter nach Breslau ziehen, um auch diese Stadt schnellstmöglich einzunehmen, was ihnen auch gelingen wird, denn wir haben ihnen ja fast nichts mehr entgegenzustellen. Letzteres hatte er Mutter mit gesenkter Stimme gesagt und hatte sich dabei ängstlich umgeschaut, wohl aus Angst vor den auch jetzt noch allgegenwärtigen NS-Spitzeln. Etwas lauter sagte er dann: „Wenn wir gleich in Breslau einfahren werden, bleibt um Himmels willen bloß in diesem Zug und fahrt so weit es irgendwie geht in Richtung Westen. Ich selber werde in Breslau aussteigen. Ich bin abkommandiert mit zu helfen, um in Breslau einen Verteidigungsring aufzubauen. Der Führer hat befohlen: „Breslau wird gehalten, koste es was es wolle!"

    Dann senkte er wieder seine Stimme und flüsterte meiner Mutter ins Ohr: „Wie das gehen soll, hat dieser Volli..... aber nicht gesagt. Sieh dich doch bloß einmal um. Mit mir sind hier nur Verwundete, Greise und halbe Kinder in diesem Zug. Mit diesem Haufen sollen wir Breslau verteidigen! Hier wird nur noch unnötig Blut vergossen. Welch ein Wahnsinn, wie der ganze Krieg von Anfang an ein Wahnsinn war!"

    Dann fragte er: „Wo ist eigentlich dein Mann Gerhard abgeblieben? Ist er etwa gefallen? Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen oder von ihm gehört? Mutter antwortete: „Gerhard ging am Montagmorgen, also vor drei Tagen, mit seinem Hund zum Dienst. Er ist dann nicht mehr nach Hause gekommen. Ich habe auch nichts mehr von ihm gehört. Ich hoffe und bete zu Gott, dass ihm nichts passiert ist. Dies ist auch der Grund, warum wir hier nicht eher vor den Russen abgehauen sind. Ich habe halt bis heute Morgen gehofft, dass Gerhard zurückkommt und uns bei der Flucht hilft.

    Während Mutter Hans dies mitteilte, liefen ihr die Tränen heftig über das Gesicht. Hans hatte unterdessen mit seinem gesunden Arm ein Taschentuch aus seiner Hosentasche geholt und trocknete meiner Mutter liebevoll die Tränen von den Wangen. Mutter nahm daraufhin seine rechte Hand, drückte sie an ihre Lippen und küsste sie. Danach sagte sie: „Hans, ohne deine Hilfe wären wir sicher hier nicht mehr rausgekommen. Dir und dem Himmel sei Dank! Weiter sagte sie: „Pass bitte auf dich auf, denn wenn dieser ganze Schlamassel vorbei ist, möchten Gerhard und ich dich gesund und munter wiedersehen – wo und wann auch immer.

    Während sich unsere Mutter mit Hans unterhielt, hatte meine Großmutter alle Hände voll zu tun, meine Geschwister und mich ruhig zu stellen. Weiß der Himmel, wie sie das schaffte. Vielleicht war es auch das leichte Schaukeln des Zuges. Auf alle Fälle hatten wir Kinder aufgehört zu weinen. Im Übrigen war es in unserem Abteil ohnehin sehr ruhig geworden. Alle lauschten wohl auf den nächsten Einschlag. Diese Einschläge waren unserem Zug, während er noch in Groß Wartenberg auf dem Bahnsteig stand, gefährlich nahe gekommen. Nun aber hatte der Zug Fahrt aufgenommen und tatsächlich wurden diese furchtbaren Einschlaggeräusche, dieses ohrenbetäubende Krachen und Wummern leiser und blieben mit zunehmender Geschwindigkeit unseres Zuges hinter uns zurück.

    Das wirkte wohl nicht nur auf uns Kinder beruhigend, sondern auch auf alle anderen in unserem Abteil, in welchem ausschließlich Soldaten waren, zumindest steckten die Männer alle in Uniform. Wäre das nicht so gewesen, hätten wir, das heißt, meine Mutter und Großmutter mit uns fünf Kindern, niemals einen Platz in dem Abteil bekommen. Natürlich hat die Befehlsgewalt von Hans das möglich gemacht. Wie ich viel später erfuhr, war Hans ein entfernter Verwandter und Freund meines Vaters. Beide hatten zusammen die Schule besucht und zusammen ein paar Semester Jura studiert. Mein Vater wurde aber von seinen Eltern zu Gunsten seines jüngeren Bruders, unserem Onkel Hubert, nach dem vierten Semester wieder von der Universität geholt. Meine Großeltern konnten wohl nicht beiden Söhnen zugleich das Studium bezahlen. Da sie sich von Onkel Hubert aufgrund seines besseren Abiturs mehr erhofften, musste mein Vater die Universität verlassen. Ein Umstand, den mein Vater sein Leben lang nicht vergessen konnte und den er auch bis zu seinem Tod nie richtig verarbeitet hatte. Er fühlte sich durch diese Begebenheit vom Leben betrogen. Onkel Hubert hat aber sein Studium, aufgrund eines allzu flotten Studentenlebens, nie abgeschlossen und ist dann nach dem Krieg Lehrer geworden. Mein Vater ist, nach dem abgebrochenen Jurastudium, zur Zollbehörde gegangen und wurde Zolloberinspektor. Irgendwann wurde er an die deutsch-polnische Grenze nach Groß Wartenberg versetzt, wo er Zollgrenzkommissar wurde.

    Als solcher und bei der Ausübung seines Dienstes, ist er dann von den Russen in Kriegsgefangenschaft genommen worden. Gemäß seinen viel späteren Erzählungen hatte sich das folgendermaßen zugetragen: Dicht neben ihm war eine schwere Granate eingeschlagen. Die Druckwelle warf ihn samt seines schweren Motorrades mit Seitenwagen, in dem sein Diensthund Harras saß, um. Er wurde dann von den aufgewühlten Erdmassen verschüttet und hatte zudem wohl die Besinnung verloren. Als er das Bewusstsein wieder erlangte, befand er sich schon auf einem russischen Militärlastwagen in die russische Kriegsgefangenschaft. Er hatte keinerlei Erinnerungen mehr, wer ihn gefunden und ausgebuddelt hatte und ihm wahrscheinlich das Leben gerettet hatte.

    Am wahrscheinlichsten ist es, dass er von den in Groß Wartenberg einmarschierenden Russen gefunden worden war. Sie hatten ihn dann wohl erstversorgt und sofort in Kriegsgefangenschaft genommen. Dass das der Beginn eines achtjährigen Martyriums, sprich Kriegsgefangenschaft, war, konnte er zu dem Zeitpunkt sicher nicht ahnen. Gott sei es gedankt, hatten die Russen ihm aber sehr wahrscheinlich das Leben gerettet.

    Es sollten vierzig Jahre vergehen, bis er mir diese schrecklichen Erlebnisse und vieles andere, was er in Sibirien während seiner Gefangenschaft erlebt hatte, erzählen konnte.

    Onkel Hans hatte sein Studium beendet und ging direkt danach als Offiziersanwärter zum Militär. Genauer gesagt, ging er zur Luftwaffe. Sicher war er als junger Mann auch irgendwie von dem damaligen NS-System, wie so viele andere auch, begeistert gewesen. Er wollte unbedingt fliegen. Das war nach Lage der Dinge nur beim Militär möglich.

    Nach seiner Ausbildung zum Kampfpiloten wurde er ziemlich früh mit seiner Einheit an die Ostfront verlegt. Hier wurde er aufgrund seiner großen fliegerischen und kämpferischen Erfolge sehr schnell Stabsoffizier und Kommandeur einer Kampfeinheit. Bei einem der letzten Einsätze, über oder um Stalingrad, wurde er abgeschossen. Hans konnte seine stark qualmende „Mühle" gerade noch hinter die deutsche Frontlinie zurückbringen, ehe er auf einem Sturzacker eine Bruchlandung hinlegte. Wie er viele Jahre später erzählte, hat er nie erfahren, wer ihn gefunden und aus dem Wrack seiner Maschine befreit hat. Als er aus der Ohnmacht erwachte, lag er in einem Notlazarett, das sich aber auf polnischem Gebiet befand. Wie er dahin gekommen war, wusste er nicht. Hier wurden seine zahlreichen Verletzungen, die Gott sei es gedankt, alle, bis auf den mehrfachen Armbruch, nicht sehr schwer waren, behandelt. In diesem Feldlazarett erhielt Major Hans Kukla auch den Marschbefehl, sich sofort nach Breslau zu begeben, um die schlesische Hauptstadt zu verteidigen.

    Mein Vater hatte meine Mutter, zusammen mit seinem Freund und entfernten Verwandten Hans, in Oberschlesien auf einem Postball kennengelernt. Beide Großväter waren Postbeamte. Hans und mein Vater Gerhard hatten sich wohl beide gleichermaßen in die damals noch junge und bildhübsche Helene (Lenchen) Babatz verliebt. Mein Vater muss wohl das Rennen gemacht haben, denn er hat Lenchen geheiratet und mit ihr sechs Kinder bekommen. Zur damaligen Zeit in Schlesien nichts Besonderes. Meine Mutter war also bei Antritt der Flucht aus dem Osten hochschwanger und gebar noch während der Flucht meinen jüngsten Bruder Gerhard in Klingenthal in Sachsen. Von da an waren wir also sechs Geschwister.

    Während unser Zug langsam der schlesischen Hauptstadt Breslau entgegenrollte, unterhielt sich meine Mutter weiterhin sehr angeregt, jedoch im Flüsterton.

    Alle Kinder waren wohl eingeschlafen, als plötzlich eine laute Männerstimme ertönte: „Wir laufen in wenigen Minuten in Breslau ein. Der Zug wird aber etwa einen Kilometer über den Bahnhof hinaus fahren. Es besteht die Gefahr, dass auch der Breslauer Bahnhof schon unter Beschuss steht. Sobald der Zug hält, steigen alle Soldaten aus, die Zivilisten bleiben im Zug. Dieser Zug fährt sofort weiter in Richtung Westen, zunächst bis Dresden. Nach einer sehr kleinen Pause fügte die Stimme noch hinzu: „Heil Hitler.

    Als der Lautsprecher verstummte, hörte ich, wie Hans meiner Mutter mit gesenkter Stimme sagte: „Das Letzte hätte der Affe sich sparen können! Er hatte es zwar leise gesagt, jedoch nicht leise genug, denn plötzlich drehte sich ein älterer Soldat, der hinter Hans saß, um und sagte: „Herr Major, das können Sie ruhig lauter sagen, hier drinnen ist sowieso keiner mehr, der an den Führer glaubt oder gar an den Endsieg.

    Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „Wir haben viel zu lange die Schnauze gehalten und dafür sind Tausende von uns verreckt. Was wir jetzt tun sollen, ist genau so ein Wahnsinn: Mit bloßen Händen, mit Verwundeten, halben Kindern und Greisen sollen wir nun Breslau verteidigen! Und wie zur Bestätigung, hielt er seinen linken Arm hoch. An diesem fehlte die ganze Hand! Onkel Hans hatte sich zwischenzeitlich dem Soldaten zugewandt: „Um Himmels willen, Hauptfeldwebel!, raunte er ihn an. „Auch wenn Sie Recht haben, halten Sie die Schnauze. Oder wollen Sie in den letzten Tagen von diesen unverbesserlichen Idioten noch umgebracht werden?"

    Dabei zeigte er mit seinem Kopf in Richtung eines jüngeren Offiziers, der in der vorderen Hälfte des Abteils stand und seine Lauscher schon weit ausgefahren hatte.

    Der Hauptfeldwebel sah den Major irgendwie dankbar an und sagte: „Danke, Herr Major. Sie haben ja Recht. Es lohnt sich nicht, jetzt noch für dieses braune Pack zu sterben, aber es tut gut zu wissen, dass man mit seiner Meinung nicht allein da steht."

    Onkel Hans nickte nur mit dem Kopf. Daraufhin war dieser sehr kurze, aber sehr interessante Gedankenaustausch beendet. Hans wandte sich wieder meiner Mutter zu: „Lenchen, ich, wir müssen gleich hier aussteigen. Ihr bleibt in dem Zug und fahrt so weit ihr irgendwie könnt nach Westen. Die Russen werden sich bestimmt von uns nicht aufhalten lassen. Wenn dieser ganze Schlamassel vorbei ist und wir ihn überleben, werden wir uns bestimmt wiedersehen."

    Während er zu meiner Mutter sprach, rollte der Zug durch den Breslauer Bahnhof. Der größte Teil des Zuges musste das Bahnhofsgebäude schon wieder verlassen haben, als plötzlich wieder dieses furchtbare pfeifende und zischende Geräusch zu hören war. Aus der Erfahrung des heutigen Morgens wusste ich, dass gleich ein ohrenbetäubender Knall folgen würde. Schutzsuchend drückte ich mich an meine große Schwester Brigitte und gleichzeitig zog ich mir die auf unseren Beinen liegende Decke über den Kopf. Doch geholfen hat es nicht. Das Explosionsgeräusch, das jetzt folgte, war so schrecklich, dass ich es für mein Leben nicht mehr vergessen sollte. Die Wucht der Explosion war so gewaltig, dass die Erde bebte. Der ganze Zug oder besser gesagt, das was von ihm übrig war, wurde hin- und hergeschaukelt. Ich hatte Angst, dass der Zug umstürzen würde. Dann war es für einen kurzen Moment still. Hans hatte meine Mutter an sich gerissen und sich mit ihr über den Kinderwagen, in dem meine kleine Schwester Rita lag, geworfen. Unsere Großmutter hatte sich, wohl um auch uns zu schützen, über uns, das heißt, über den Bollerwagen, geworfen. Dann begann ein furchtbares Durcheinander. Von draußen drangen furchtbare Schreie in unser Abteil. Kommandostimmen, Trillerpfeifen, lautes Sirenengeheul, ein Krachen und Bersten vermischte sich zu einem unbeschreiblichen Geräuschszenario. Dann fingen meine Geschwister und ich wie auf Kommando an, furchtbar zu schreien. Vergeblich versuchten Großmutter und Mutter uns zu beruhigen. Ich glaube, es war wohl Onkel Hans, der von allen Abteilinsassen als erster die Fassung wieder gewann. Er sprang auf und brüllte ins Abteil: „Alle Soldaten sofort raus hier! Verteilt euch entlang des Bahndamms, damit wir nicht alle auf einmal im Falle eines erneuten Einschlags erwischt werden. Dann drückte er Mutter und Großmutter an seine Brust, streichelte uns Kindern über den Kopf und wandte sich noch einmal kurz meiner Mutter zu und sagte: „Viel Glück und behüte euch Gott.

    Ich glaubte, Tränen in seinen Augen zu sehen. Dann stieg er über unseren Bollerwagen hinweg, ging in Richtung Tür und sprang hinaus. Ein paar Minuten später tauchte er noch einmal mit seinem Kopf in der Tür wieder auf und rief ins Abteil: „Lenchen, dieser Zug ist von einer schweren Bombe getroffen worden, das hintere Drittel ist komplett zerstört, es gibt viele Verletzte und Tote. Auch der Bahndamm und das Gleis sind zerstört worden, aber der vordere Teil des Zuges wird gleich weiterfahren. Und dann: „Macht's gut!

    Onkel Hans, den ich eigentlich an diesem Morgen das erste Mal richtig wahrgenommen hatte, verschwand irgendwo dort draußen in dem Chaos. Es vergingen Jahre, bis wir ihn wiedersehen sollten. Aber wir haben ihn wiedergesehen!

    Mit einem plötzlichen Ruck setzte sich der Zug, nun ein ganzes Stück kürzer, wieder in Bewegung. Jetzt, wo alle Soldaten ausgestiegen waren, war es merkwürdig still in unserem Abteil. Das hatte zur Folge, dass ich Mutter und Großmutter weinen hören konnte, während wir Kinder uns wieder beruhigt hatten.

    Haben wir an unserem ersten Fluchttag nur mehrfach großes Glück gehabt oder besaßen wir außergewöhnliche Schutzengel? Wir waren ja nicht nur bei den äußerst gefährlichen, nahen Bomben- und Granateinschlägen unverletzt und mit dem Leben davon gekommen, sondern hatten doch tatsächlich den allerletzten Zug, der Niederschlesien verlassen konnte, erwischt. Immer wieder hörte ich Mutter mit weinender Stimme fragen: „Wo ist Gerhard, was ist mit ihm nur passiert? Hoffentlich ist er noch am Leben!" Er war noch am Leben und wir sollten ihn auch wiedersehen! Unser Zug rollte weiter gen Westen.

    Wie lange unsere Flucht vor den Russen eigentlich dauerte, weiß ich nicht mehr zu sagen. Der Zug stoppte mehrmals, nur um dann wieder anzufahren und erneut stehen zu bleiben. Immer wieder schlugen in der Nähe des Zuges Bomben oder Granaten ein, ohne ihn aber noch einmal zu treffen. Noch heute spüre ich die Kälte, die in diesem Zug herrschte. Alle Augenblicke beugte sich entweder unsere Mutter oder unsere Großmutter über uns, um uns mit einer der über uns ausgebreiteten Decken einzupacken und uns so vor der grimmigen Kälte zu schützen. Einmal fiel dabei meiner Mutter eine Träne aus ihrem Auge. Diese traf mein Gesicht, und weil diese Träne so kalt war, hatte ich mich so sehr erschrocken, dass auch ich zu weinen begann.

    Wenn der Zug anhielt, und das war sehr oft, ging immer ein lautes Gebrüll los, das sich wie Kommandos anhörte. Oft stand der Zug auch mehrere Stunden irgendwo auf freier Strecke. Dann hörte man die Waggontüren auf- und zuschlagen und zwar so laut, dass es mich immer mit einem furchtbaren Schrecken aus dem Schlaf riss. Jedes Mal streichelte mir dann entweder Mutter oder Oma liebevoll über den Kopf, so dass ich wieder einschlief, um mit dem nächsten Krachen wieder aufgeschreckt zu werden. Irgendwann bekamen wir alle Hunger. Meine Oma fasste unter die Matratze des Kinderwagens und holte dort irgendwo Brot hervor. Sie schnitt mit einem Brotmesser, das sie ebenfalls aus dem Kinderwagen hervorholte, ein paar Scheiben ab, teilte diese und gab jedem von uns eine halbe Scheibe. Wie lange das Brot reichte, weiß ich heute nicht mehr. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass wir auf der Flucht in den Westen unter ganz großem Hunger gelitten haben. Auch diese Tatsache hat mich für mein Leben geprägt. Bis zum heutigen Tage konnte und kann ich keine brauchbaren Lebensmittel wegwerfen.

    Irgendwann wurde das furchterregende Grollen und Donnern, das wir vom Beginn unserer Flucht schon kannten, wieder lauter. Sofort spürte ich, wie in unserem Abteil, das sich bei den vielen Stopps längst wieder aufgefüllt hatte, Panik ausbrach. Meine Geschwister und ich fingen lauthals an zu schreien. Als dieses entsetzliche Grollen, Donnern und Pfeifen schier unerträglich schien, warfen sich Mutter und Großmutter wieder über uns Kinder, um uns mit ihren Körpern zu schützen. Diesmal lag Mutter mit ihrem Gesicht direkt über meinem Kopf und so hörte ich sie beten: „Lieber Gott, hilf uns bitte, lass uns das alles hier und später gesund überstehen und bringe uns möglichst bald in Sicherheit. Der liebe Gott muss Mutters Stoßgebet erhört haben, denn schlagartig hörte dieses unbeschreibliche Getöse auf. Es folgte eine beinahe beängstigende Stille. In diese Stille hinein hörte ich Mutter sagen: „Lieber Gott, ich danke dir. Eine Begebenheit, die für mein späteres Leben sehr wichtig war und mich prägte. So verankerte sich in mir ein unerschütterliches Gottvertrauen, das ich mir mein ganzes Leben erhalten habe. Ohne dieses hätte ich mein späteres Leben niemals so aufbauen können, wie ich es getan habe. Alle Risiken, alle Gefahren, alle Krankheiten hätte ich ohne Gottes Hilfe niemals überstanden.

    Mit einem kräftigen Ruck setzte sich unser Zug wieder in Bewegung. Wie lange wir in diesem Zug verweilten, weiß ich heute nicht mehr zu sagen. Waren es Stunden, Tage oder gar Wochen? Irgendwann wurde ich wieder einmal aus dem Schlaf gerissen. Mit lauter Stimme, wenn auch krächzend und stotternd, meldete sich wieder einmal der Zuglautsprecher: „Vor uns liegt jetzt Dresden, es liegt bereits unter Beschuss. Wir haben aber noch freie Fahrt. Wir werden daher versuchen, noch durchzukommen."

    Plötzlich zuckten grelle Blitze durch die Nacht. Sofort fing ich wieder lauthals an zu heulen. Wohl deshalb nahm mich meine Oma aus dem Bollerwagen. Als ich dann auf Omas Knien saß, konnte ich aus dem Fenster schauen. Die Bilder, die ich dann zu sehen bekam, haben sich für immer in mein Gehirn eingebrannt. Soweit das Auge reichte, sah ich nur brennende Häuser. Immer wieder schien es mir, als fiele das Feuer vom Himmel. Dieses Inferno wurde von starken Explosionen unterbrochen. Alles in allem ein nicht zu beschreibendes, furchtbares Szenario. Als es endlich wieder ruhig wurde, nahm ich wahr, dass auch meine Geschwister lautstark heulten. Oma und Mutter bemühten sich, uns wieder zu beruhigen, obwohl sie selber am ganzen Körper zitterten.

    Das Brot, das Oma im Kinderwagen mitgenommen hatte, war irgendwann aufgegessen. Die Versuche meiner Mutter, uns etwas Essbares zu besorgen, hatten wohl nur sehr geringen Erfolg. Als der Hunger fast unerträglich schien, stoppte der Zug wieder einmal. Ob nun das Stoppen des Zuges, das plötzlich laut einsetzende Stimmengewirr oder der plärrende Zuglautsprecher es waren, was mich aus dem Schlaf riss, ich weiß es nicht. Wahrscheinlich war es alles zusammen. Aber an das, was die Lautsprecherstimme sagte, erinnere ich mich noch sehr genau: „Wir haben soeben erfahren, dass die Strecke vor uns frei ist und nicht unter Beschuss liegt. Wir werden daher versuchen, noch heute Leipzig zu erreichen."

    Ich war ja damals noch ein ziemlich kleiner Steppke, aber dennoch glaube ich, mich daran erinnern zu können, dass in unserem Abteil so etwas wie Erleichterung aufkam, insbesondere nach der nächsten Lautsprecheransage: „Wie wir eben in Erfahrung gebracht haben, sind von Westen her die Amerikaner in Leipzig eingerückt."

    Was nun zu einer schlagartig besseren Stimmung in unserem Abteil führte, kann ich nicht sagen. War es das langsame Abebben des furchtbaren Bombardements auf unseren Zug von Breslau bis Leipzig, welches alle in unserem Abteil trotz wahnsinniger Angst und Schrecken und trotz des starken Hungers unversehrt überstanden hatten oder die Nachricht, dass die Amerikaner in Leipzig einmarschiert waren? Die Erleichterung, die durch unseren Zug ging, war für mich deutlich fühlbar.

    Die Fahrt mit diesem Zug zwischen Dresden und Leipzig dauerte noch einige Stunden. Aufgrund der Tatsache, dass mich Oma wieder auf ihren Schoß genommen hatte, konnte ich wieder aus dem Fenster schauen. Immer wieder tauchten brennende Gebäude oder gar ganze Ortschaften auf, die lichterloh brannten. Auf einmal fuhr der Zug so dicht an einem brennenden Gehöft vorbei, dass der beißende Rauch in unser Abteil eindringen konnte. Dieser Rauch stank so bestialisch, dass alle Menschen in unserem Abteil anfingen, zu würgen und zu husten. Eine Bombe hatte die Stallungen getroffen, die daraufhin in Flammen aufgingen, mitsamt den darin befindlichen Tieren. Da aber die Fenster unseres Zuges durch die Bomben zum Teil zerbrochen waren, zog der Qualm recht schnell wieder ab.

    Ohne weitere mit Schrecken behaftete Ereignisse erreichten wir dann Leipzig. Als der Zug zum Stehen kam, war es in unserem Abteil merkwürdig still. Niemand riss die Türen auf, niemand sprang auf den Bahnsteig und alle blieben auf ihren Plätzen.

    Die Anspannung und Entbehrungen der letzten Tage (oder waren es gar Wochen?) waren so groß, dass sich keiner der Geflohenen bewegen konnte oder mochte. Aber selbst wenn sie es gemocht oder gekonnt hätten, wohin sollte man? Wohin sollten Mutter und Großmutter mit uns fünf Kindern gehen?

    In dieser allgemeinen Stille hörte ich plötzlich die Stimme meiner Mutter: Oma, Kinder, wir leben noch und sind alle unversehrt, es wird schon irgendwie weitergehen. Der liebe Gott hat uns bis hierher gebracht, er wird uns sicher auch weiter helfen.

    Dann war es wieder still. Niemand bewegte sich. Plötzlich wurden die Türen von außen aufgerissen. Eine laute Stimme ertönte, aber nicht die aus dem krächzenden Lautsprecher: „Alle Zuginsassen steigen hier aus. Der Zug endet hier."

    Die Zuginsassen schauten sich ratlos an, auch unsere Mutter und Großmutter. Aussteigen ja, aber wohin dann? Wieder war es Mutter, die zuerst ihre schnelle Handlungsfähigkeit unter Beweis stellte, indem sie sagte: „Komm, Mutter, lass uns aussteigen. Wie es die Leute gesagt haben, die werden schon wissen, warum wir hier raus sollen." Dann stand sie auf, schnappte nach dem Kinderwagen, in dem meine jüngere Schwester Rita saß, schob ihn in Richtung Zugtür, griff dann mit der rechten Hand nach der Deichsel des Bollerwagens, in dem wir vier Älteren saßen und zog auch diesen hinter sich her in Richtung Tür. Oma hatte sich ebenfalls von ihrem Sitz hochgerappelt und schob nun den Wagen von hinten an. So erreichten wir sogar als die Ersten die offenstehende Türe. Mutter stieg als erste Person aus dem Zug, der, wie sich später herausstellen sollte, der letzte Zug war, der aus Niederschlesien herausgekommen war. Genau genommen war es ja nur ein halber Zug. Die hintere Hälfte war in Breslau wegen des Bombentreffers stehen geblieben!

    Mit vereinten Kräften hoben die beiden Frauen zunächst den Kinderwagen mit Rita auf den Bahnsteig. Dann wollten sie auf die gleiche Weise den Leiterwagen mit uns vier älteren Geschwistern aus dem Zug heben. Das Vorhaben klappte aber wegen des zu großen Gewichtes nicht. Kurz entschlossen schnappte Oma sich einen nach dem anderen von uns und reichte uns Kinder Mutter, die auf dem Bahnsteig stand, hinunter. Zuletzt wurde der Bollerwagen runter gereicht.

    Als wir alle auf dem Bahnsteig standen, auf dem ein reger Personenverkehr herrschte, wurde mir plötzlich um die Beine herum und darüber sehr kalt. Der Grund dafür war, dass wir Kinder uns wohl mehrfach in die Hosen gemacht hatten. Ob aus Angst oder aus anderen Gründen, war letztlich egal. Irgendwann hatten Oma und Mutter für uns keine Windeln oder Unterwäsche mehr, um diese zu wechseln. So hatten wir tagelang in nassen Klamotten ausharren müssen. Seltsam, niemand von uns hatte das so richtig mitbekommen. Zu groß war die Angst bei den Bombardierungen des Zuges, zu groß war wohl auch die Müdigkeit, so dass keiner von uns Kindern dieses wahrgenommen hatte. Als Oma die Decken von uns Kindern nahm, um uns Mutter, die ja schon auf dem Bahnsteig stand, herunter zu reichen, fiel mir jedoch ein beißender Geruch auf, den ich vorher niemals so wahrgenommen hatte. Dieser ekelerregende Geruch hat sich so in mein Hirn gebrannt, dass ich mich bis zum heutigen Tag vor unsauberen, nach Urin stinkenden Toiletten so ekele, dass ich mich im extremsten Fall übergeben muss.

    Egal ob stinkend und nass: Oma schnappte sich einen nach dem anderen und platzierte uns wieder in dem Bollerwagen. Anschließend legte sie die klammen Decken wieder über uns. Wie ein verlorener Haufen standen wir nun in Leipzig auf dem Bahnsteig. Weder Mutter noch Oma wussten, wie es weitergehen sollte. Hinzu kam nun noch, dass wir Kinder, wieder einer nach dem anderen, anfingen zu heulen. Wir hatten ja tagelang nichts Vernünftiges mehr gegessen. Kein Wunder, dass sich der Hunger nun schlagartig wieder meldete. So mussten wir wohl, wie wir da so standen, einen ziemlich Mitleid erregenden Eindruck gemacht haben. Vier vor Hunger weinende Kinder auf einem Bollerwagen, ein fünftes in einem Kinderwagen. Daneben eine ältere und eine jüngere Frau, die auch noch hochschwanger war, was nicht zu übersehen war. Alles in allem eine schlimme Situation! So sind wir dann auch zwei Soldaten aufgefallen. Soldaten, die aber so ganz anders aussahen als Onkel Hans und seine Kameraden, die uns zu Beginn unserer Flucht in Groß Wartenberg in den Zug geholfen hatten und die uns in Breslau nach dem furchtbaren Bombenschlag wieder verließen, um Breslau zu verteidigen.

    Die Soldaten, die jetzt auf uns zukamen, waren sehr groß und stattlich. Einer von beiden hatte eine sehr dunkle Hautfarbe. Es war der erste dunkelhäutige Mensch, den ich in meinem jungen Leben sah. Ich nehme an, dass die Soldaten durch unser von Hunger und Angst erfülltes Heulen auf uns aufmerksam geworden waren. Sie trugen weißes Koppelzeug und weiße Gamaschen. Sie steuerten direkt auf uns zu. Bei uns angekommen, blieben sie stehen, tippten kurz mit Zeige- und Mittelfinger an ihren weißen Stahlhelm, auf dem ein großes M und ein großes P geschrieben standen. Wie ich irgendwann später erfuhr, standen diese beiden großen Buchstaben für Militär-Polizei. Der weiße Soldat musterte zunächst unsere Großmutter und unsere Mutter, während der Dunkelhäutige uns Kinder näher in Augenschein nahm. Sie schauten uns so eine ganze Weile an, dabei wanderte ihr Blick von Einem zum Anderen. Was sie da sahen, war panische Angst, Hunger und Elend, gepaart mit absoluter Ratlosigkeit. Es muss Mitleid gewesen sein, was sie zu ihrer nachfolgenden Tat veranlasste. Fast gleichzeitig fassten sie in ihre Parkataschen. Als ihre Hände wieder zum Vorschein kamen, hatten sie in jeder Hand ein paar Tafeln Schokolade. Mit den Worten, die der Dunkelhäutige sprach: „Here, Mam, it’s for you and your children, legten sie die Schokolade auf die Decken unseres Bollerwagens. Nachdem sich bei Mutter und Großmutter die Sprachlosigkeit etwas gelegt hatte, fand Großmutter, die eine hochgebildete Frau war und sowohl die russische, polnische als auch die englische Sprache sicher beherrschte, die Sprache wieder. Sie ging mit zwei, drei schnellen Schritten um unsere „Fluchtfahrzeuge herum, ergriff von jedem der Soldaten eine Hand, drückte diese an sich und sagte immer wieder: „Thank you, thank you, thank you."

    Die Soldaten waren nicht auf den Gefühlsausbruch meiner Großmutter gefasst. Sie reagierten jedoch überaus freundlich, was durch ein freundliches Lächeln zum Ausdruck kam. Durch das Lachen wurden die beiden Zahnreihen des dunkelhäutigen Soldaten sichtbar. Sie leuchteten so hell, so dass sie mir wie zwei Perlenketten auf einem schwarzen Samttuch erschienen. Nach Erzählungen meiner Mutter hat mir der dunkelhäutige Soldat so gut gefallen, dass ich ihn aus vollem Herzen angestrahlt habe, woraufhin er sich zu mir herunterbeugte und mir über den Kopf streichelte. Gleichzeitig fasste er mit der linken Hand wieder in die Parkatasche, holte dort einen dicken Schokoriegel hervor und drückte mir diesen in die Hand. Obwohl ich noch sehr, sehr jung war, habe ich damals auf dem Bahnsteig in Leipzig begriffen, dass sich Freundlichkeit immer bezahlt macht und wenn es nur ein freundliches Lachen ist! Der andere Soldat hatte sich zwischenzeitlich meiner Mutter zugewandt, wohl auch, weil er gesehen hatte, dass sie hochschwanger war. Mit einem Blick auf ihren Bauch fragte er sie: „Madam, you need help. If you want I can help you. Blitzartig drehte sich Oma, die ja wusste, dass Mutter kein Englisch sprach, den beiden zu und antwortete für Mutter: „Yes, Sir, please help us. Der Amerikaner antwortete: „Yes. I will."

    Ab hier werde ich die Gespräche, die damals zwischen unserer Großmutter und den amerikanischen Soldaten geführt wurden, in deutscher Sprache wiedergeben.

    Zunächst wandte er sich seinem Kameraden zu und sagte ihm etwas, was ich natürlich nicht verstehen konnte, dann drehte er sich abrupt um und lief eiligen Schrittes davon. Der zurückgebliebene dunkelhäutige Militärpolizist wandte sich noch einmal meiner Mutter zu, sah sie irgendwie mitleidig an und sagte: „Halten Sie noch ein wenig durch, dann kommt für Sie und Ihre Familie Hilfe. Bleiben Sie aber bitte hier stehen, damit George euch auch wiederfindet."

    Dann schaute er noch einmal zu uns Kindern herunter, streichelte mir erneut über die Haare, drehte sich um und verschwand in der Menge, die sich mittlerweile auf dem Bahnsteig gebildet hatte. Mutter schaute Großmutter mit großen verwunderten Augen an. Was war das jetzt? Habe ich geträumt? Holen die wirklich Hilfe? Und ist das wirklich Schokolade, die da auf den Decken des Bollerwagens liegt? Aber auch Oma konnte wohl nicht glauben, was in den letzten Minuten geschehen war. Ihr Gesicht drückte Verwunderung, Ratlosigkeit, aber auch Freude aus.

    Lange hatte dieser eigenartige Schockzustand nicht angehalten, denn zu groß war der Hunger. Für meine Mutter bestand Handlungsbedarf, zumal meine ältere Schwester Brigitte, die von allen nur „Gitte gerufen wurde, anfing, die Tafel Schokolade, die ihr am nächsten lag, auszupacken. Mutter nahm ihr diese aus der Hand mit den Worten: „Langsam, Mädel, erstens ist die Schokolade für alle da und zweitens müssen wir diese sorgfältig einteilen, denn keiner weiß, wann wir wieder etwas Essbares bekommen werden! Fast andächtig begann sie nun die Schokolade auszupacken, jedes Kind bekam einen Riegel. Zum Schluss bekamen auch Oma und sie selber ein Stück. „Lenchen!, meldete Oma sich zu Wort. „Die Kinder sind total ausgehungert, mach doch bitte noch eine Tafel auf, damit sie wenigstens wieder ein bisschen zu Kräften kommen. Mutter folgte willig Omas Bitte. Sie öffnete eine weitere Tafel Schokolade und verteilte sie wie die erste Tafel. Dabei sagte sie: „Die anderen beiden werden wir aber auf alle Fälle noch aufheben. Wir wissen ja nicht, wann wir wieder etwas zu essen bekommen."

    Nach einer Weile des Schweigens sagte Oma: „Was nun? Sollen wir hier wirklich stehen bleiben und auf die Soldaten warten? Kommen sie wirklich wieder, um uns zu helfen? Und wenn ja, wie? „Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie uns Soldaten in unserer Situation hier helfen könnten, hörte ich Mutter sagen. „Andererseits haben sie uns Schokolade geschenkt. Warum?"

    „Weil wir ihnen leidtun. Deshalb glaube ich, dass sie wiederkommen werden, um uns weiter zu helfen. Warten wir doch noch eine Weile ab, ehe wir uns nach anderer Hilfe umsehen, sagte Oma bestimmt. „Was sollen wir denn sonst auch machen oder sollen wir uns mal nach dem Roten Kreuz oder der Bahnhofsmission umsehen? Während Mama dies fragte, sah sie sich gleichzeitig hilfesuchend um. Sie konnte aber weder jemanden vom Roten Kreuz noch von der Bahnhofsmission entdecken. Mutlosigkeit machte sich langsam auf den Gesichtern meiner Mutter und unserer Großmutter breit. Hinzu kam, dass beide Frauen völlig erschöpft waren. Hatten sie doch seit Beginn der Flucht aus Groß Wartenberg nicht mehr richtig oder gar nicht geschlafen. Dann waren da ja noch die vielen Flieger- und Bombenangriffe und die damit verbundene Angst um unser Leben. Letztlich auch die Angst um unseren Vater. All das war wohl einfach zu viel für unsere Mutter, eine hochschwangeren Frau, deren Kräfte jetzt plötzlich zusammenbrachen.

    Großmutter, die noch dabei war, nach dem Roten Kreuz, der Bahnhofsmission oder nach den amerikanischen Soldaten Ausschau zu halten, drehte sich blitzartig zu uns um. Sie schaute über mich hinweg und sah auf der anderen Seite des Bollerwagens unsere bewusstlose Mutter auf dem Bahnsteig liegen. Mit zwei, drei Schritten war sie bei Mutter, kniete neben ihr nieder, nahm ihren Kopf in den Arm und sagte: „Lenchen, Lenchen, was ist los, was ist mit dir?" Gleichzeitig gab sie Mutter zwei, drei leichte Schläge auf die Wangen.

    Ich hatte mich an der Seitenwand des Bollerwagens hochgezogen. So konnte ich über den Rand des Wagens das Geschehen um Mutter beobachten. Plötzlich flackerten ihre Augen und ich hörte sie sagen: „Was ist mit mir? Warum liege ich hier? Was ist mit den Kindern? Dann hörte ich ein leises Wimmern. Wieder hörte ich Oma fragen: „Lenchen, um Himmels willen, was ist los mit dir?

    Während sie Mutter diese Frage erneut stellte, hielt sie ihren Kopf in ihrem Arm und streichelte unserer Mutter immer wieder mit der rechten Hand über die Wange. Als ich einen Blick in Omas Augen werfen konnte, sah ich in ihnen eine Mischung aus Angst, Ratlosigkeit und blankem Entsetzen.

    Oma muss es wohl schon gewusst oder zumindest geahnt haben, was einen Augenblick später zur Gewissheit wurde! Mutter schlug die Augen wieder auf, sah Großmutter mit geweiteten Augen an und sagte, für die Situation, in der sie sich befand, ganz ruhig: „Mama, ich brauche jetzt dringend Hilfe, denn ich glaube, es geht los, das Baby kommt! Nach einem Augenblick starren Entsetzens hörte ich Großmutter sagen: „Allmächtiger im Himmel, wenn es dich gibt, dann hilf uns jetzt bitte!

    Oma hatte diesen frommen Wunsch (oder war es ein Gebet?) kaum ausgesprochen, da hörte ich ganz in unserer Nähe eine Trillerpfeife. Die Menschenmenge, die sich in kürzester Zeit um uns herum gebildet hatte, öffnete sich plötzlich und vor uns standen die beiden Militärpolizisten, welche uns die Schokolade geschenkt hatten und Hilfe holen wollten. Sie waren tatsächlich, wie versprochen, wiedergekommen. Nicht nur das, sie hatten auch Hilfe mitgebracht. Bei ihnen waren vier weitere Soldaten. Diese hatten zwar nicht so schöne weiße Helme auf ihren Köpfen, dafür trugen sie aber alle auf dem linken Oberarm eine weiße Armbinde, auf der sich ein großes rotes Kreuz befand. Zwei von ihnen trugen eine Art Paket bei sich, das sie neben meiner Mutter zu einer Liege auseinanderklappten. Die anderen beiden fassten meiner Mutter vorsichtig unter die Arme und Beine und legten sie auf die Trage.

    Ich war sicher noch zu klein, um alle Vorgänge, die sich damals um uns abspielten, zu verstehen, aber eines habe ich doch mitbekommen. Es hatte wieder jemand, diesmal war es meine Großmutter, den lieben Gott um Hilfe angerufen und prompt hatte er diese geschickt.

    Bis heute kann ich mir nicht erklären, warum uns die amerikanischen Soldaten damals auf dem Leipziger Bahnhof in dieser wundervollen Art und Weise geholfen haben. Diese Hilfe war aber noch nicht zu Ende. Sie wurde, Gott sei es gedankt, noch eine ganze Weile fortgeführt.

    Zwei der Soldaten hoben die Trage, auf der unsere Mutter lag, an und setzten sich in Richtung Bahnhofsausgang in Bewegung. Ein anderer legte einen Arm um meine Großmutter, um sie zu stützen. Mit dem weiteren Soldaten half er ihr, den Kinderwagen zu schieben, in dem meine jüngere Schwester Rita saß. Zwei weitere schnappten sich die Deichsel unseres Bollerwagens und los ging's.

    Als ich viel später selber Soldat war, habe ich mir oft vorgestellt, wie unsere Karawane wohl ausgesehen hat. Kaum vorstellbar!

    Mit schnellen Schritten ging es nun in Richtung Bahnhofsausgang. Der dunkelhäutige, freundliche Soldat ging vorne weg. Er sorgte mit freundlicher und bestimmender Stimme dafür, dass unser kleiner, seltsamer Zug überall problemlos durchkam. Willig und diszipliniert gingen die Menschen auseinander und ließen uns durch, so als ob sie wussten, in welcher Notlage wir, aber besonders unsere Mutter, sich befand.

    So erreichten wir dann sehr schnell den Bahnhofsausgang. Vor dem Bahnhof herrschte ein dichtes Menschengedränge. Direkt vor dem Portal standen zwei große Militär-Mannschaftswagen, auf deren jeweiligen Seiten ein großes rotes Kreuz auf weißem Grund unübersehbar angebracht war. Unser kleiner, von dem dunkelhäutigen Soldaten angeführte Zug steuerte direkt auf das erste der beiden Fahrzeuge zu. Als wir uns diesem bis auf wenige Schritte genähert hatten, sprangen aus dem Führerhaus zwei weitere Soldaten, gingen um ihr Fahrzeug herum und klappten die Ladeklappe herunter. Einer von ihnen sprang auf die Ladefläche. In der Zwischenzeit waren wir an dem Fahrzeug angekommen. Der dunkelhäutige Soldat, der offensichtlich der Vorgesetzte der Gruppe war, drehte sich um und gab einige Anweisungen. Innerhalb weniger Minuten waren wir alle auf dem Sanitätskraftwagen.

    Direkt hinter dem Fahrerhaus stand der Kinderwagen mit meiner kleinen Schwester Rita. Daneben standen wir, das heißt, meine ältere Schwester Brigitte, meine beiden Zwillingsbrüder Hans und Heinrich und ich. Meine Großmutter setzte sich neben Rita und hielt mit beiden Händen den Kinderwagen fest. Unserer Oma gegenüber, also neben den Bollerwagen, setzten sich zwei Soldaten, die unseren Bollerwagen festhielten. Hinter uns auf der Ladefläche wurde Mama von den beiden Sanitätssoldaten auf ihrer Trage liegend abgestellt.

    Als Letzter sprang der dunkelhäutige Corporal auf die Ladefläche, kniete sich neben Mutter nieder, strich ihr mit der Hand über den Kopf und sagte, natürlich auf Englisch: „Mam, halten Sie noch etwas durch. Wir bringen Sie jetzt in ein Hospital, dort bekommen Sie die Hilfe, die Sie jetzt in Ihrer Situation dringend benötigen. Ihre Familie bringen wir ebenfalls an einen sicheren Ort. Das Rote Kreuz ist bereits verständigt, es wird sich um Sie kümmern. Es steht unter unserem Kommando und wird durch unsere Sanitätssoldaten und unsere Ärzte verstärkt. Also, machen Sie sich keine Sorgen. Alles wird gut."

    Mutter, die immer noch leise stöhnte, was ich jetzt erst wieder wahrnahm, ergriff nun die Hand des Soldaten, drückt diese mit beiden Händen gegen ihre Wange und sagte immer wieder „Danke, danke, danke! Der Soldat antwortete nur: „Ist schon in Ordnung, Mam. Dann setzte er sich zu seinen Kameraden auf die Bank.

    Unser Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Wohl wegen der totalen Erschöpfung, aber auch wegen des jetzt einsetzenden Schaukelns unseres Fahrzeuges, fiel ich, wie auch meine Geschwister, in einen tiefen Schlaf. Bevor ich aber einschlief, hörte ich Großmutter zu dem Corporal sagen: „Der liebe Gott möge Ihnen das alles vergelten, was Sie für uns getan haben."

    Wie lange ich nun geschlafen habe oder wie lange wir auf dem „Sanka" (Sanitäts-Lastkraftwagen) zugebracht haben, kann ich beim besten Willen nicht mehr sagen. Von Großmutter habe ich später einmal erfahren, dass wir wohl noch mehrere Stunden auf dem Laster zugebracht haben. Allerdings sagte sie, hätte es auch mehrere Stopps gegeben. Einmal hätte ein amerikanischer Arzt nach Mutter gesehen. Die Wehen hatten wohl wieder nachgelassen, so dass er entschied, dass wir bis nach Klingenthal in Sachsen weiterfahren sollten. Dort sollte es noch ein intaktes Krankenhaus mit einer Entbindungsstation geben.

    Einmal stoppte unser Fahrzeug, die Ladeklappe wurde heruntergelassen und ein Soldat stellte einen kleinen Kübel mit heißer Schokolade nebst Becher auf die Ladefläche. Einer der Soldaten zog

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