Von Bombennächten und Bauernhof: Meine Kinder- und Jugendjahre
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Über dieses E-Book
Anneliese Stennecken-Schmidt
Anneliese Schmidt, geb. Stennecken, wurde 1928 als viertes von acht Kindern einer Arbeiterfamilie in Bocholt geboren. Schon früh kümmerte sie sich um Kinder, erst um ihre jüngeren Geschwister, dann nachmittags nach der Schule um die Kinder eines Geschäftshaushalts. Gerne wäre sie Kinderkrankenschwester oder Lehrerin geworden, aber dafür war ein Austritt aus der Kirche Voraussetzung, was für sie und ihre Familie nicht in Frage kam. Ihre Ausbildung als Verkäuferin wurde durch die Bombardierung Bocholts beendet. Nach dem Krieg kümmerte sie sich auf einem Bauernhof hauptsächlich um die zahlreichen Kinder der Bauernfamilie. Auf dem Hof lernte sie auch ihren Mann kennen. Sie heirateten 1953 und bekamen drei Kinder. Im Alter von 67 Jahren begann sie mit der Aquarellmalerei und begeisterte mit ihren Bildern Familie und Freunde. Die Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend schrieb sie mit der Hand in eine große Kladde. Ihre älteste Tochter gestaltete daraus dieses Buch. Anneliese Schmidt starb 2015 im Alter von 86 Jahren, ihr Mann starb 2023.
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Buchvorschau
Von Bombennächten und Bauernhof - Anneliese Stennecken-Schmidt
Kindheit und Krieg
Die Familie Stennecken im Jahre 1937Die Familie Stennecken im Jahre 1937
Am 25.Oktober 1928 wurde ich in Bocholt geboren. Ich war das vierte Kind in unserer Familie. Jedes Jahr, wenn am 24. Oktober abends die Glocken der St. Georgs-Kirche das Fest des Heiligen Chrispinus einläuteten, sagte meine Mutter zu mir: „Morgen hast du Geburtstag." Der Hl. Chrispinus ist der Schutzpatron der Schuster. Bei unseren Vorfahren mögen einige Schuster gewesen sein, denn diesen Tag nahm man sehr wichtig. Darum wurde mein Geburtstag nie vergessen.Wir wohnten auf der Dinxperloer Straße bei Tante Trücken. Sie war die Schwester der ersten Frau meines Vaters. Als ich vier Wochen alt war, zogen wir zum Yorkplatz in ein Reihenhaus. Nach dem Krieg wurde der Yorkplatz zum Beckmannplatz umbenannt.
An meine ersten Kinderjahre habe ich eigentlich nur den jährlichen Besuch meines Großvaters in Erinnerung behalten. Er konnte wunderbar mit uns spielen. Er saß im kleinen Park vor unserer Haustür auf der Bank und alle Kinder der Nachbarschaft scharrten sich um ihn.
Was wir gespielt haben, weiß ich nicht mehr, jedenfalls war es sehr lustig. Ich kann ihn mir noch gut vorstellen.
Er wohnte in Witten-Annen und hieß Josef Herbst und war der Vater meiner Mutter. Als ich fünf Jahre alt war, starb er.
Im April 1935 wurde ich eingeschult. Ich war sechseinhalb Jahre alt. Meine Mutter brachte mich in die Kreuzbergschule. Wir gingen die hohe Treppe hinauf und durch einen großen Flur. Gleich im ersten Klassenraum musste ich angemeldet werden. Es standen dort schon sehr viele Mütter mit ihren Kindern. Am Pult saß ein alter Mann. Er sollte unser Lehrer sein. Jedes Kind wurde von seiner Mutter bis zum Pult begleitet. Als wir an der Reihe waren, gab Mama das Stammbuch dem Mann am Pult in die Hand. Dieser schrieb meinen Namen und mein Geburtsdatum in ein Heft. Dann durfte ich mich zu den anderen Kindern in die Bank setzen. Als er die Namen aller Kinder eingetragen hatte, schickte er die Mütter nach Hause. Alle Kinder hatten Angst, denn kein Kind war vorher in einer Schule gewesen. Nun hatte ich das Pech, zu diesem alten Lehrer in die Klasse zu kommen, denn es waren noch zwei weitere Klassen eingeschult worden, eine Jungenklasse und eine Mädchenklasse. Die dritte Klasse wurde als gemischte Klasse eingerichtet und in diese kam ich.
Unser Klassenlehrer war gleichzeitig auch der Rektor der Schule. Er war schon 65 Jahre alt. Eigentlich war er schon ein Rentner und hatte in Münster unterrichtet. Warum er an dieser Schule noch als Rektor eingesetzt wurde, war allen rätselhaft. Jedenfalls für mich war er ein sehr alter Mann, mit einem sehr dicken Bauch und einem grauen Schnurrbart, an dem er dauernd drehte. Das Lesen und Schreiben haben wir wohl bei ihm gelernt, aber sonst nicht viel.
Er war ein begeisterter Anhänger Adolf Hitlers. Dessen Ideen versuchte er uns bei jeder Gelegenheit einzutrichtern. Er erzählte uns oft etwas über die Juden, dass diese eigentlich nichts in unserem Land zu suchen hätten. Er versuchte auch uns ständig davon zu überzeugen, dass die Kirche in unserem Leben völlig unwichtig wäre. Er meinte, im Wald könne man genau so gut beten, das hätten die alten Germanen auch getan.
Von den alten Germanen war er ganz begeistert. Er erzählte uns von den Göttern Wotan und Thor und von der Göttin Frya, von Schlachten und Gerichtsstätten.
Er erzählte uns von König Widukind und von einem schrecklichen Bischof, der in Verden an der Aller 800 Germanen töten ließ, weil sie den christlichen Glauben nicht annehmen wollten. Diese Dinge hat er uns so eingetrichtert, dass ich sie bis heute nicht vergessen habe.
Bis 1939 bin ich bei diesem Rektor gewesen. Als ich in die fünfte Klasse kam und die Schule wechseln musste, musste ich mich ganz schön anstrengen, all das bei ihm Versäumte nachzuholen.
In unserer Stadt gab es auch damals die Martinszüge, aber nur noch in den Jahren vor dem Krieg. Mein älterer Bruder Werner schnitzte für uns kleinere Geschwister schöne Laternen aus Runkelrüben.
Am Morgen des Martinszuges mussten wir die Runkel mit in die Schule bringen. Dann wurden die schönsten Runkelfackeln ausgesucht und zum Rathaus gebracht. Dort wurden sie dann unter den Rathausbögen aufgehängt und mit elektrischem Licht ausgeleuchtet.
Marias und meine Runkel hingen auch in einem Rathausbogen. Am Abend des Martinszuges gingen wir dann ohne Laterne. Dafür bekamen wir außer unserer Martinstüte noch einen großen Lebkuchen-Martin, der auf Pappe festgemacht war.
Das war ja ganz schön, aber lieber hätte ich doch beim Martinszug meine schön geschnitzte Runkel selber getragen.
An einen Martinszug erinnere ich mich ganz genau. Es muss kurz nach der so genannten Reichskristallnacht gewesen sein. In der Nobelstraße war alles so dunkel und unheimlich. Da waren an einigen Häusern die Fenster und Türen mit Brettern zugenagelt. SA-Leute hatten dort bei jüdischen Familien alles kaputt geschlagen. Die Leute hatten fluchtartig die Häuser verlassen. Ich verstehe bis heute noch nicht, warum man mit den Kindern durch diesen Stadtteil zog. Der Martinszug hätte doch auch umgeleitet werden können.
Als ich später zu Hause nachfragte, wer denn die Fenster bei den Häusern eingeschlagen hätte, bekam ich keine richtige Antwort.
Für die Eltern war es viel zu gefährlich, mit ihren Kindern über diese Dinge zu sprechen. Aber unser Rektor redete am anderen Morgen ganz frei in der Schule darüber. Er fand es ganz gut, dass man es den Juden endlich mal zeigte, wem dieses Land gehöre.
Als wir größer wurden, haben uns unsere Eltern schon davon überzeugt, dass nicht alles, was man uns in der Schule erzählte, der Wahrheit entsprach.
Am 25. Februar 1937 bekamen wir einen kleinen Bruder. Er wurde im St. Agneshospital geboren. Er ist übrigens das einzige von uns 8 Kindern, das im Krankenhaus geboren wurde.
Vor der Geburt des Kindes war unsere Mutter lange krank. Sie hatte im Anfang der Schwangerschaft einen Herzinfarkt und musste die ganze Zeit bis zur Geburt des Kindes im Bett bleiben.
Es war für uns Kinder eine harte Zeit. Immerhin waren wir noch klein, durften aber Mamas Zimmer lange nicht betreten. Es ging ihr sehr schlecht und wir hatten schreckliche Angst, dass sie sterben könnte.
Grete