Czernowitz: Stadt der Zeitenwenden
Von Helmut Böttiger
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Über dieses E-Book
Helmut Böttiger
Helmut Böttiger, geb. 1956, studierte Germanistik und Geschichte in Freiburg. Seit 2002 arbeitet er als freier Autor, Literaturkritiker und Essayist. 2013 erhielt er für sein Buch »Die Gruppe 47« den Preis der Leipziger Buchmesse im Bereich Sachbuch. Im Wallstein Verlag veröffentlichte er »Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er - eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur« (2021), »Celan am Meer« (2017) und gab »Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland« (2009) sowie »Geistesgegenwärtig. Szenen einer deutschen Kulturgeschichte« (2015) heraus.
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Buchvorschau
Czernowitz - Helmut Böttiger
Vorbemerkung
Anfang der siebziger Jahre trampten wir an den verkaufsoffenen Samstagen nach Würzburg, in die nächstgelegene größere Stadt, um im studentisch-alternativen Buchladen Colibri die dort ausliegenden Neuerscheinungen anzuschauen. Das war für uns Sechzehn-, Siebzehnjährige die wichtigste Informationsquelle. Maßgeblich waren die schwarzen Quarthefte des Wagenbach-Verlags, mit Lyrik von Erich Fried und Wolf Biermann oder den politisch-dokumentarischen Texten von F. C. Delius, aber auch die edition suhrkamp war regelmäßig vertreten. Wir blätterten immer aufs Geratewohl herum, und so geriet ich einmal an die Ausgewählten Gedichte des mir völlig unbekannten Paul Celan. Es wurde zu einem herausgehobenen Moment. Die Gedichte von Fried oder Biermann verstand ich auf Anhieb. Was mir aber bei Celan entgegenkam, war etwas völlig anderes – eine Sprache, auf die ich nicht vorbereitet war. Ich las: »Wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis, / wir schlafen wie Wein in den Muscheln, / wie das Meer im Blutstrahl des Mondes« – das war ein Sog von Bildern, ein dunkler Rhythmus, ein Rausch der Sprache. Ich begriff nichts, aber ich war vollkommen elektrisiert. Ich ahnte, dass hier etwas verborgen war, von dem ich unbedingt mehr wissen wollte, und dieses produktive Nicht-Verstehen war ein Schlüsselerlebnis.
Jenseits seiner Gedichte war über diesen Autor nicht viel zu erfahren, außer, dass er 1920 in »Czernowitz« geboren war. Das schien ebenfalls einer mir völlig unerreichbaren, imaginären Sphäre anzugehören. Czernowitz lag bis 1918 am östlichen Ende der ehemaligen, sagenhaften Habsburgermonarchie, in der Bukowina, und wurde danach dem Königreich Rumänien zugeschlagen. Jetzt gehörte die Stadt zur Sowjetunion und lag in einem militärischen Sperrbezirk an der Grenze. Das befeuerte noch das Mythische daran. Es war ein Ort, der einmal in einer unerhörten Blüte gestanden haben musste, aber jetzt jeglicher Vorstellbarkeit entzogen war. Ich wusste: Wenn sich jemals die Möglichkeit eröffnen würde, in dieses magische Czernowitz zu gelangen, würde ich das versuchen.
Ab 1991 gehörte Czernowitz zum neuen, unabhängigen Staat Ukraine, und damit war eine Reise in diese Stadt theoretisch möglich. Wie das dann im Juli 1993 vonstattenging, war zwar ein Abenteuer, aber vor allem eines dieser Erlebnisse, die man nie mehr vergisst. Ich spürte bald, dass diese Stadt auf ihre Weise frappierende Gemeinsamkeiten mit dem Lebensweg Paul Celans hat, sie zeichnet mit allen Schattierungen die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts nach. Bis 1918 war Czernowitz mehrsprachig, mit vielen kleinen ethnischen Minderheiten, und noch bis zum Zweiten Weltkrieg bildete das deutschsprachige Judentum, zu dem auch Celan gehörte, den größten Bevölkerungsanteil. Czernowitz schien außerhalb der üblichen Zeitläufte zu existieren, eine historische Insel, und im Nachhinein nahm dieses Völkergemisch mit seiner Vielfalt an Kulturen und Religionen in Büchern und Erinnerungen legendäre, oft verklärte Züge an. Im Jahr 1993 jedoch spielte sich vor den fast lückenlos erhaltenen habsburgischen Fassaden ein ganz anderes Leben ab. Die Juden, die die Atmosphäre dieser Stadt geprägt hatten, waren nahezu vollständig ermordet worden, und jetzt lebte dort eine Bevölkerung, die zumeist aus den östlichen Gebieten der Sowjetunion umgesiedelt worden war und keine Beziehung zur Geschichte von Czernowitz hatte, das auf Russisch »Tschernowzi« genannt worden war und jetzt auf Ukrainisch »Tscherniwzi« hieß. Das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Zeiten auf engstem Raum beschäftigte mich in der Folge immer mehr.
Die Faszination durch die Stadt Czernowitz, dieses lange unbekannte kultur- und zeitgeschichtliche Labor, führte auch zu einem verstärkten Interesse für die Entwicklungen in der Ukraine. Vorher hatte ich sie nur als einen Bestandteil der Sowjetunion wahrgenommen, nicht als ein von Russland deutlich zu unterscheidendes Land mit einer eigenen Sprache. Nach 1991 begann aber ein Prozess, in dem die Ukraine sich ihrer Traditionen vergewisserte und sich dem imperialen Zugriff Russlands immer selbstbewusster entzog. Das war auch für die Ukrainer selbst, denen die russische Sprache ständig, und im 20. Jahrhundert unter Stalin erst recht, als die eigentliche Hochsprache aufoktroyiert worden war, eine spannende Entwicklung. Ein Schriftsteller wie Juri Andruchowytsch erregte in den neunziger Jahren Aufsehen damit, dass er die ukrainische Sprache, die oft als Sprache der Bauern und des einfachen Volks verunglimpft worden war, plötzlich zur Sprache einer Avantgarde machte: gegen die reaktionäre Macht des Russischen, mit allen formalen Mitteln wahrhaft zeitgenössischer Literatur. Andruchowytsch wurde in Iwano-Frankiwsk geboren, dem früheren Stanislau, und er verband auf ästhetisch schillernde Weise den Staat Ukraine mit der alten galizischen Tradition. Das neue Geschichtsbewusstsein dieses Landes bezog sich auf lange verschüttete historische Schichten, und plötzlich wurde auch die Vielsprachigkeit und die Multikulturalität von Czernowitz wieder zu einem aktuellen Anknüpfungspunkt.
Als ich dann 2005, nach der Orangenen Revolution gegen die Statthalter Moskaus in Kiew, in die Ukraine reiste, gehörte die deutschjüdische Literatur der Bukowina, aus der Celan als ein Dichter von Weltrang herausgewachsen war, in gewisser Weise schon zur nationalen Identität. Die Ukraine wurde, und das war ein völlig ungeahntes und einzigartiges Phänomen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, zu einem phantastisch anmutenden Experimentierfeld. Dazu gehörten sogar solch flirrende Ereignisse wie der Sieg der Sängerin Ruslana beim European Song Contest 2004. Czernowitz suchte in diesen Nullerjahren wieder verstärkt nach seinen Wurzeln, und das Neben- und Ineinander von alten sowjetischen Prägungen, die 1993 noch übermächtig zu sein schienen, und den neuen Bewegungen auf kulturellem und gesellschaftlichem Terrain wirkte spektakulär.
Im Herbst 2022, meiner dritten Reise nach Czernowitz, hatten sich die Rahmenbedingungen dann grundsätzlich verändert. Seit Februar führte Russland einen brutalen Krieg gegen die gesamte Ukraine, die Stadt befand sich in höchster Alarmbereitschaft, es herrschte Ausnahmezustand mit einer Ausgangssperre nach 22 Uhr, Sirenenwarnungen und Wasserabstellungen. Doch Czernowitz hatte sich längst emanzipiert und beschäftigte sich mit großem Selbstbewusstsein mit seiner vielfältigen und widerspruchsvollen Geschichte. Es ist auch die Literatur, die Verankerung in einer pluralistischen europäischen Kultur, die in diesem Krieg verteidigt werden muss.