Der Bücherprinz
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Über dieses E-Book
Der Autor, der seinen ersten Joint mit Jimi Hendrix rauchte, wirft dabei ein gleißendes Licht auf die 68er-Studentenzeit.
Mit Leidenschaft und Idealismus, pfiffigen Ideen und coolen Konzepten veröffentlichte der Business-Punk die Werke von rund zehntausend Autoren, die ihn dafür zum »Bücherprinz« krönten. Im Selfpublishing gehörte er später zu den Vordenkern des neuen, verlagsfreien Veröffentlichens.
Herzerwärmend aufrichtig zeichnet der Autor seinen Lebensweg vom unangepassten Schüler, langhaarigen Beatles-Fan, trampenden Blumenkind, experimentierfreudigen Chefredakteur und Hofnarr der Kulturszene bis zum innovativen Verlagsgründer.
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Buchvorschau
Der Bücherprinz - Prinz Rupi (Ruprecht Frieling)
Der Bücherprinz
- Prinz Rupi -
Inhaltsverzeichnis
Der Bücherprinz
Buch
Echos
1. Teil
Alles Schlampen außer Mutti
Oelde, Paris und London
Freche Verse unter der Schulbank
Kirche, Krach und Katastrophen
My Baby, Baby, balla, balla!
Schamhaftigkeit und Keuschheit
Beatniks, Bands und Blumenkinder
Barbarische Friseure
Gefangen im dunklen Turm
Mit dem »Karnickelpass« durch die Welt
Im Land von König Artus
Durchs wilde Kurdistan
Make love, not war
Stahlhelm? – Nein danke!
2. Teil
Unser tägliches Brot gibt uns heute
Insulaner im Roten Meer
Auf dem Sklavenmarkt
Sex and Drugs and Rock `n` Roll
Enteignet Springer!
Wunderwelt der Triebe
Fotos sagen mehr als tausend Worte
Bunte Bilder aus Berlin
Kampftrinker im diplomatischen Dienst
Als rasender Reporter unterwegs
Frech kommt weiter
Dem Redakteur ist nichts zu schwör
Im Sündenpfuhl zu Suhl
Hofnarr der Kulturszene
3. Teil
Verkleidet euch als Blumen …
Strickleiter zum Mond
Guru mit beschränkter Haftung
Berlin, Berlin, Berlin
Mystik, Mächte und Magie
Ein Blick ins Tabu
Das Auge der Weisheit
Fällt es herab wie Schnee …
Der Bucklige von Bagdad
Träume vom eigenen Buch
4. Teil
… und die Bienen werden kommen
Im Wilden Westen
Autor sucht Verleger
Verlag sucht Autoren
Künstler, Käuze und Chaoten
Mit Herzblut in den Ruin?
Bücher im Zeichen der Eule
Im Spiegel der Presse
Die Mauer fällt
Die Balken bersten
Im Spiegelzelt der Eitelkeiten
Die beste Referenz für einen Verleger
5. Teil
Folge Deinem Stern
Back to the roots
Hurra, ich lebe noch!
Herz, was willst du mehr?
Der Mythos vom Bücherprinz
Pressestimmen zum Buch
Der Bücherprinz im Web
Printausgabe, erschienen 2023
4. Auflage
erstmals erschienen im Internet-Buchverlag 2009
ISBN: 978-3-98650-008-5
Copyright © 2022 DeWinter Waldorf Glass
im Förderkreis Literatur e.V.
Sitz des Vereins: Frankfurt/Main
Text © Prinz Rupi
Umschlaggestaltung: © TomJay – bookcover4everyone / www.tomjay.de
Umschlagmotiv: © Prinz Rupi
Druck: AKT AG, FL-9497 Triesenberg (AgenTisk Huter d.o.o)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über
https://dnb.d-nd.de abrufbar.
Die Handlung, die handelnden Personen, Orte und
Begebenheiten dieses Buchs sind frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten
des öffentlichen Lebens, ebenso wie ihre Handlungen sind rein fiktiv, nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
E-Book Distribution: XinXii
www.xinxii.com
Buch
In Erwartung des ihm ärztlich beschiedenen Tods bringt ein Mann die Geschichte seines Lebens zu Papier: »Der Bücherprinz« schildert schonungslos ehrlich, wie ein Hippie Deutschlands verrücktester Verleger wurde.
Der Autor, der seinen ersten Joint mit Jimi Hendrix rauchte, wirft dabei ein gleißendes Licht auf die 68er-Studentenzeit.
Mit Leidenschaft und Idealismus, pfiffigen Ideen und coolen Konzepten veröffentlichte der Business-Punk die Werke von rund zehntausend Autoren, die ihn dafür zum »Bücherprinz« krönten. Im Selfpublishing gehörte er später zu den Vordenkern des neuen, verlagsfreien Veröffentlichens.
Herzerwärmend aufrichtig zeichnet der Autor seinen Lebensweg vom unangepassten Schüler, langhaarigen Beatles-Fan, trampenden Blumenkind, experimentierfreudigen Chefredakteur und Hofnarr der Kulturszene bis zum innovativen Verlagsgründer.
Ruprecht Frieling wurde Deutschlands schillerndster Verleger und verführt den Leser, dem eigenen Stern zu folgen und sich dabei selbst treu zu bleiben.
Echos
Hinter einer dichten Wolkendecke
sieht er das endlose Blau des Himmels;
Unter einem Teppich von trägem Tang
findet er Grotten unheimlicher Tiefe;
Im Hitzefieber weiter Wüsten
stellt er sich dem großen Durst.
Mit den Wipfeln mächtiger Tannen
teilt er seine Einsamkeit;
Unter großen grauen Wölfen
heult er seine Sehnsucht in die Nacht;
Auf dem Rücken schneller Käfer
verfolgt er seine Feinde.
– Und seine Träume? –
Sie schenken ihm die Sterne, zu denen er flieht.
Prinz Rupi
1. Teil
Alles Schlampen außer Mutti
Alles,
was der Mensch
in der Kindheit erfährt,
erleidet,
alle Schmerzen, aller Kummer
Und alle Entdeckungen
Bleiben ihm
Für immer erhalten.
Sie sind der Nährboden
Für die Phantasie,
für Erinnerungen
Und menschliche Beziehungen,
zur eigentlichen
Wirklichkeit seines Lebens.
Tschingis Aitmatow
Oelde, Paris und London
Am Abend des 30. März 1908 ließ der Kupferschmied Hermann Hilger seinen Darmblähungen mitten auf dem Marktplatz von Oelde in Westfalen in aller Öffentlichkeit derart lustvoll und lautstark freien Lauf, dass ihm dafür eine Strafverfügung ins Haus flatterte. Dem freimütig furzenden Münsterländer wurde amtlich beschieden: »Sie haben dadurch groben Unfug verübt, dass Sie in der Nacht vom 29. auf den 30. März auf öffentlicher Straße Passanten in absichtlicher Weise belästigten. Ich setze daher gegen Sie gemäß § 360 Abs. 11 RStGB eine Geldstrafe von fünf Mark fest, an deren Stelle im Unvermögensfall eine Haftstrafe von einem Tag eintritt.«
Der »fahrlässige Kupferschmied« – auf einem Oelder Notgeldschein von 1921
Die lokale Tageszeitung »Die Glocke« berichtete über die sich dem Vorfall anschließende Gerichtsverhandlung, in welcher der Angeklagte seine geräuschvollen Wohllaute mit schlichter »Fahrlässigkeit« entschuldigte. Der humorvolle Artikel über den »fahrlässigen Kupferschmied« gelangte über diplomatische Kanäle an die kaiserlichen Hoheiten von China und Japan und ergötzte das Diplomatische Korps. Bald griff die Weltpresse die kuriose Geschichte auf; Oelde, der Ort des duftigen Feuerwerks, schuf sich damit vor über einhundert Jahren einen Namen als Sprengel, der aus einem frischen Furz gern einen kernigen Kanonenschlag macht.
Seit jenen Ereignissen halten viele Einwohner ihr Nest für den Nabel der Welt und nennen Oelde, Paris und London in einem Atemzug, wenn es um den internationalen Maßstab geht. Der typische Ackerbürger schaut indes selten über den Rand seiner Scholle. Er ist, um es im breiten westfälischen Plattdeutsch auszudrücken, ein Poahlbürger. Damit werden seit Generationen alteingesessene Familien bezeichnet, die sämtliche Fäden in der Hand halten und misstrauisch und ablehnend auf jede Veränderung reagieren.
Autofahrer auf der A 2 von Hannover Richtung Dortmund finden zwischen dem durch den Bertelsmann-Konzern bekannten Gütersloh und der seit dem Mittelalter legendären Schildbürgerstadt Beckum die Ausfahrt 21, die nach Oelde führt. Eichen, Buchen und Kastanien säumen die Wege, schattige Wallhecken, singende Wälder und saftige Streuobstwiesen bestimmen das Landschaftsbild. Aus wogenden Getreidefeldern steigen jubilierende Lerchen himmelwärts. Der Wigbold präsentiert sich dem Ankömmling mit braunroten Klinkerhäusern und graugelben Sandsteingebäuden, einem Bahnhof an der einstmals strategisch bedeutsamen Linie Moskau-Paris, Kneipen und Bierschwemmen wie Sand am Meer sowie Weihrauch, Myrrhe und andere Räucherharze atmende Kirchen.
Unmittelbar nach meiner Geburt in einer Bielefelder Klinik am 29. Mai 1952 wurde ich in das urwestfälische Nest verschleppt. Im Autoradio sang die kleine Cornelia Froboess »Pack die Badehose ein«, Lale Andersen umschwärmte die »Blaue Nacht am Hafen« und Zarah Leander begleitete den Transport mit »Wunderbar«. Das Licht der Adenauer-Ära beleuchtete meinen Weg. Nach Schwarzweißfotos aus jener Zeit war ich ein stämmiger kleiner Herr mit blondem Flaum und dunklen Augen, ein so genannter Wonneproppen.
Entsprechend zufrieden schauen meine Eltern auf den Begrüßungsfotos. Der erstgeborene Sohn sicherte meinem Vater, einem Fabrikanten in dritter Generation, die Unternehmensdynastie und bot einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil im Wettlauf des Besitzbürgertums. Andere Ehepaare gebaren Töchter, sie durften sofort wieder ran, bis endlich ein Stammhalter gezeugt war. Nur Söhne waren wertvoll!
Das westfälische Oelde um 1950
Meine früheste Kindheitserinnerung gilt einem schimmernden Schönheitsfleck auf der Backe eines Kindermädchens. Das Fräulein tupfte sich dem Chic der Nachkriegszeit entsprechend diesen schwarzen Punkt auf ihren linken Wangenknochen. Den markanten Fleck sehe ich heute dicht vor mir schweben und verknüpfe erotische Phantasien damit. Hatte das Kinderfräulein es allzu gut gemeint? Sie wurde entlassen und aus meiner aktiven Erinnerung gelöscht, bevor ich überhaupt an Sex denken konnte.
Wir bewohnten das Haus meiner Großmutter nahe Bahnhof, Pfarrkirche und Rathaus. Es war ein geräumiges dreigeschossiges Haus mit Keller und einem abgeschiedenen Spielzimmer im Dachboden. Dort standen ein gut sortierter Kaufmannsladen, an dem ich früh mein Verkaufstalent erproben konnte, und ein himmelblau gestrichener Schrank voll bunter Bilderbücher und aufregender Jugendromane. Ein verwunschener Paradiesgarten mit Laube, Voliere, Garage und Schuppen hinter dem Haus bescherte mir und meinen drei jüngeren Geschwistern zahllose Möglichkeiten, Träume zu spinnen und Phantasien auszutoben.
Ich kannte jeden Winkel der Straße, in der ich aufwuchs; ich kannte die Häuser, die Gärten und Vorgärten; ich kannte die Löcher in den Zäunen, die Büsche und Hecken. Ich deutete die Geräusche auf der Straße und erkannte an den Schritten meine Nachbarn; ich liebte den Duft der Birken und Kastanien, ich roch das Parfum der Blumen, wenn sie blühten. Doch am besten gefiel mir der Wohlgeruch alter Bücher.
Die Aromen der Zeit, das Bouquet von betagtem Staub, gegerbten Häuten und bedrucktem Papier lagen schwer und beruhigend in der Luft. Jedes Blatt Papier und jede einzelne Buchseite reckten mir hunderte mikroskopisch feiner Härchen entgegen, die sich nach Berührung sehnten und meine Fingerspitzen liebkosten. Ich blätterte in dicken, mit Schweinsleder bespannten Folianten aus dem großelterlichen Schrank und bestaunte Bilder von Tieren, Pflanzen, Bauwerken und Maschinen. In frühester Kindheit verliebte ich mich in Nachschlagewerke und Lexika, und griff bald nach allem, was bedruckt war und mir in die Finger fiel.
Unsere Erziehung war von soldatischer Strenge geprägt. Der Rohrstock tanzte täglich Tango. Meine zwei jüngeren Brüder und ich, eine kleine Schwester kam erst 1960 hinzu, wurden von der Mutter in blaue Blazer mit Fliege gesteckt und dem Vater zugeführt, der nach einem arbeitsreichen Tag in einem Ohrensessel entspannte. Er erwärmte sich in der Abendsonne an unserem Anblick und strich seinem Erstgeborenen über den Kopf, bevor er wieder in seiner Lieblingslektüre »Wild und Hund« versank und damit in die Freiheit der Natur floh.
Die Mutter repräsentierte gern und vergaß bei ihren gesellschaftlichen Aktivitäten, ihren Kindern nahe zu sein. Sie ging in der Haushaltsführung auf und beaufsichtigte das Personal: Kinderfräulein, Dienstmädchen, Gärtner und Chauffeur. Der Wohlstand der Wirtschaftswunderzeit war unübersehbar.
Meine Kinderstube durchzog von Anbeginn ein kalter Wind; ich war mit meinen Gedanken allein und gab bald auf, emotionale Zuwendung zu erbetteln. Zärtlichkeiten und körperliche Nähe erinnere ich kaum, die Möglichkeit von Kuschelstunden mit den Eltern erfuhr ich erstmals als Erwachsener aus Kinofilmen. Körperlichkeit galt als peinlich, Nacktheit war tabu!
Wir Kinder riefen »Igittigitt!«, wenn sich im Fernsehen ein Paar zaghaft küsste, und wandten uns verschämt ab. In frühester Kindheit wurde der Grundstock für das Verhältnis zum eigenen Körper und zum anderen Geschlecht zementiert. Es solle Jahrzehnte dauern, bis ich Gefühle zulassen und zeigen konnte. Jahrelang waren deftiges Stupsen, Knuffen und gelegentliches Auf-die-Schulter-Klopfen die intimste öffentliche Zärtlichkeitsbezeugung, zu der ich fähig war.
Vater und Sohn: Nur Söhne sind wertvoll
Bei uns ging die Liebe durch den Magen. Gegessen wurde im Rahmen der gefügten Ordnung. Die Zubereitung der Mahlzeiten und die Besorgung der Hausarbeiten übernahmen dienstbare Geister. Die Familie speiste zu festen Zeiten an einem für größere Gesellschaften ausziehbaren Holztisch im Esszimmer, das eine voluminöse Musiktruhe mit Plattenspieler und Radio sowie einen Schwarz-Weiß-Fernseher beherbergte. Außerdem stand ein schwarz lackiertes Klavier in diesem Raum, auf dem die Herrin des Hauses anlassbezogen spielte.
Auf unseren Mittagstisch kamen regionale Speisen ländlicher Herkunft wie »Himmel und Erde«, ein mit goldgelben Apfelscheiben vermengter Kartoffelbrei mit gebratenen Zwiebelringen und Wurstscheiben oder ein »Falscher Hase« genannter Hackbraten mit Möhrengemüse. Zu festlichen Anlässen gab es Fasan, Hase, Reh oder anderes Wild, das der Herr Papa auf Pirschgängen in den heimatlichen Feldern und Wäldern erlegte. Dazu wurden »Töttchen«, Blätterteigtaschen mit einem Ragout aus Kalbskopf, Lunge und Herz, serviert. Im Münsterland, einem bäuerlich geprägten, ertragreichen Schlemmerland, isst und trinkt man gern, reichhaltig und kräftig.
In Griebenschmalz mit Speck, Rosinen, Thymian und Muskat kross gebratene Scheiben von Leber- und Blutwurst, den »Möppken«, gehörten zu den deftigsten Delikatessen. »Möppkenbrot macht Wangen rot«, sang der heimische Journalist und Liedermacher Tönne Vormann und betonte das gesunde Element der kernigen Küche. Im breiten Plattdeutsch klang das bei Vormann so: »Häbb ick män Möppkenbraod, dann bliewt de Backen raot, / dann hät et kiene Naot / bes an den Daod«. Ebenso begeistert wie dieser Minnesänger des Möppkenbrots reagierte ich keineswegs, wenn die vor Fett triefenden blutroten Scheiben auf den Tisch des Hauses kamen. Mir lagen die Bratlinge schwer wie Wackersteine im Magen.
Unauslöschlich schlummern in jedem von uns optische, akustische und geschmackliche Verbindungen an den Ort unserer Kindheit, an den Flecken, der unsere ersten Jahre prägte, seien es Eindrücke der Landschaft, die wir erinnern, ohne sie genau bezeichnen zu können, und die uns dennoch eng vertraut sind, seien es Klänge, Geräusche, Gerüche. Gibt es ein im tiefsten Inneren verwurzeltes Heimatgefühl, dann ist es eines, das mit dem Landstrich, mit Gegend, Sprache und Mentalität verbunden ist, ein plötzliches Erkennen von regionalen Eigenheiten und unverwechselbar typischen Zeichen und Chiffren. Findet der Zugvogel sicher zu seinem Heimathafen zurück, weil er sich letztlich an das Typische erinnert, tönt im Urbewusstsein jedes Lebewesens eine feine Glocke, nähert es sich dem Hort der Kindheit, ob diese glücklich oder unglücklich war.
»Die Zeit verfließt wie das Wasser im Fluss«, schrieb der gern zitierte chinesische Philosoph Konfuzius. Bisweilen bleibt ein Geschmack, ein Geruch, ein Lied oder ein Vers, der aus dem Brunnen der Erinnerung emporsteigt. Eine tiefe Reminiszenz an auf Holzkohlen geröstete Bratwürste strömt mir über die Zunge, wenn ich an meinen Heimatort zurückdenke. Meine Geschmacksknospen erinnern die in warme Tomatensauce geschnittenen und mit ungarischem Rosenpaprika sowie indischer Currymischung mild gewürzten Wurstscheiben, die es wahlweise mit Fritten oder Brötchen an einer Imbissbude am Bahnhof gab. »Currywurst mit Pommes« war meine heimliche Leib- und Magenspeise. Brause ich heute an dem Ort von Kindheit und Jugend vorüber, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Ich lecke mir genüsslich die Lippen, und ich grüße den fahrlässigen Kupferschmied mit einem duftigen Wind.
Freche Verse unter der Schulbank
Dem am 1. Mai 1754 im Landkreis Osnabrück geborenen Schulmann Bernhard Heinrich Overberg war ob seiner tiefen religiösen Haltung eine beispiellose Karriere beschieden. Der Priester widmete sich mit derartigem Feuereifer dem Religionsunterricht, dass ihn 1783 Generalvikar Frank von Fürstenberg zum Leiter der neuen Normalschule in die Domstadt Münster berief, wo er zum Ehrendomherrn aufstieg. Eine der vielen Ehrungen, die Overberg posthum zuteilwurden, war die, ihn zum Namenspatron der katholischen Knabenschule Oelde zu ernennen. Diese achtklassige Volksschule besuchte ich ab 1958 für vier Jahre gemeinsam mit 50 anderen Klassenkameraden.
Die Schule erwies ihrem Namensgeber Ehre. Vor Unterrichtsbeginn hatten die Kinder aus ihren Bänken zu treten und mit dem Blick zur behördengrünen Schiefertafel, über der ein gewaltiges Holzkreuz Seine immerwährende Anwesenheit symbolisierte, das Morgengebet zu verrichten. Nur so konnte der Unterricht würdig gestartet werden, den der Lehrer mit pädagogischem Elan und, wenn dieser nicht ausreichte, häufigem Einsatz des gefürchteten Rohrstocks meisterlich führte.
Herr Rupp, mein Klassenlehrer, war mit Leib und Seele Pauker und besaß ein legendäres Temperament: Er explodierte regelrecht. Erzürnte ihn ein Schüler, lief er feuerrot an, schnappte sich den Knaben mit der Linken, zog ihn über dessen Pult und drosch wie ein Berserker mit einem geschmeidigen Rohrstock, einem langen Lineal oder der flachen Hand auf den verlängerten Rücken des Störenfrieds. »Dich werde ich lehren!«, schnaubte der schlagfertige Pädagoge bei jedem Schlag und setzte seine angewandte Erziehungsarbeit so lange fort, bis ihm die Puste ausging.
Zeugniseintrag: »Wilhelm Ruprecht schreibt heimlich unter der Bank Gedichte«
Alle schauten sich vielsagend an, wenn die Kopfhaut des kleinwüchsigen Mannes wie ein glühender Hochofen fauchte. Ein Vulkanausbruch stand dann unmittelbar bevor, und es hing nur die Frage im Raum, wen seiner 51 Schüler der Herr Hauptlehrer diesmal für seinen Wutausbruch verantwortlich machen und bestrafen würde. Kluge Knaben steckten dicke Hefte in den Bund ihrer grüngrauen Wildlederhosen, um das Feuerwerk seiner Dresche zu dämpfen. Nach ein paar schnellen Hieben und Schlägen war die Angelegenheit meistens vergessen, der Schulmeister kühlte ebenso rasch ab, wie er überschäumte. Wie gewohnt setzte er seinen Unterricht nach der Abreibung an der dreiteiligen Klapptafel fort.
Uns allen wurde permanent der Hintern versohlt. Es gab Schläge auf die ausgestreckten Hände, es regnete Kopfnüsse, es hagelte Ohrfeigen. Sadistische Pauker bewarfen uns mit Schlüsselbunden, zwirbelten unsere Ohren, rissen uns Haare aus oder ließen uns stundenlang mit dem Gesicht zur Wand in der Ecke stehen.
Die moralische Rechtfertigung für die teils brutalen Körperstrafen lieferte die Kirche mit den Sprüchen Salomos aus dem Alten Testament: »Steckt Torheit im Herzen des Knaben, die Rute der Zucht vertreibt sie daraus«. Theoretisch abgesichert waren die Methoden der »Schwarzen Pädagogik« durch Daniel Gottlob Moritz Schreber, einen so genannten Leipziger Reformpädagogen und Begründer der nach ihm benannten Kleingärten, den Schrebergärten. Ein gesetzliches Verbot für die Dressur der Schüler durch Züchtigung wurde in Westdeutschland 1973 erlassen, ohne gleich konsequent angewandt zu werden. Im Westen prügelte der tradierte Untertanengeist, im sozialistischen Osten hingegen war seit 1949 jede Körperstrafe im Unterricht verboten.
Wir Pennäler nahmen die Versuche, uns gewaltsam abzurichten, mit einem gewissen Gleichmut hin, da daheim permanent der Rohrstock pfiff. In den Pausen trösteten sich die Malträtierten auf dem von grauen Mauern und blühenden Kastanien umsäumten Schulhof, dessen einziger Fluchtpunkt vor den Argusaugen des Aufsicht führenden Schulmeisters eine kuschelige Marienecke war. Hier trafen sie sich im Schatten einer marmornen Gottesmutter, steckten heimlich die Köpfe zusammen, und die Älteren pafften hustend eine Juno oder eine aufgrund ihres grob geschnittenen Tabaks Ofenholz genannte Overstolz. Wer dabei erwischt wurde, trat einen Canossagang zum Rektor an und wurde von seiner Meisterhand verdroschen.
Die Pädagogen jener Zeit waren gewiss überzeugt, das Beste für ihre Schutzbefohlenen zu realisieren. Sie vermittelten in hohem Maße Wissen, und wir hätten einen besseren Platz in jeder Pisa-Studie eingenommen als es dem deutschen Schulsystem heutzutage erreichbar ist. Ich galt als guter Schüler und wurde als Überflieger gehandelt, dem der Stoff mühelos in den Schoß fiel, meine Noten waren entsprechend. Doch das ist die halbe Wahrheit! Die ganze Wahrheit lautet: Ich war stinkend faul! Ich träumte gern und ließ mich federleicht ablenken. Gebannt lauschte ich im Radio den Stars der Zeit: Caterina Valente, Chris Howland alias Heinrich Pumpernickel, Bert Kaempfert, Fred Bertelmann, Freddy Quinn, Billy Mo und Vico Torriani.
Immer wieder schweiften meine Gedanken durch die großen Fenster hinaus in die Ferne. Ich reiste ins Regenbogenland der Phantasie, und liebte es, freche Verse zu schmieden, die ich Mitschülern zuspielte, um sie zum Lachen zu bringen. Derartige Störungen des Unterrichts fielen auf: Ich wurde beim Ritt auf dem Pegasus erwischt, ich wurde ermahnt, ich wurde gerügt, ich wurde bestraft! Doch die Freude am spielerischen Umgang mit dem Wort wurde mir dadurch keinesfalls verleidet. Im Gegenteil: Es spornte mich an, und ich stapfte munter in den Fußspuren meines großen Vorbilds Wilhelm Busch, dessen tiefgründigem poetischem Humor ich erlegen war.
Zum Abschluss der vierten Klasse der Volksschule, von der ich mit rosigen zehn Jahren Ostern 1962 auf das städtische Gymnasium wechselte, tadelte mein Klassenlehrer mein gelegentliches Desinteresse an seinem Unterricht im Zeugnis mit einer eindeutigen Bemerkung. »Wilhelm Ruprecht schreibt heimlich unter der Bank Gedichte«, notierte der Schulmeister in meinen Leistungsnachweis. Das Verseschmieden hatte mir der Herr Oberlehrer trotz massiven Rohrstockeinsatzes nicht auszutreiben vermocht. Dafür hatte er etwas bemerkt, das Folgen haben sollte. Ich träumte und phantasierte lieber, statt zu lernen, und ich verdichtete im wahrsten Sinne des Wortes meine Träume. Aber würde ich es jemals schaffen, aus meinen Phantasien etwas Vernünftiges zu entwickeln?
Meine musisch aufgeschlossenen Eltern reagierten stolz auf ihren Erstgeborenen, wenngleich ihnen aktive Teilnahme und intensiveres Interesse am Unterrichtsgeschehen lieber gewesen wären. Aber da meine Noten tadellos waren, ließen sie mich gewähren. Heimlich wünschten sie sich einen Sohn, der etwas Besonderes war.
Die Frau Mama ließ ihr angebliches Wunderkind auf Kaffeekränzchen dürre Tanten zu Tränen rühren und zu ihrer Klavierbegleitung melancholische Kinderlieder nach Versen des Heimatdichters Hermann Löns singen. Im blauen Blazer durfte ich dann mit glockenklarem Stimmchen Texte trällern, die mir bis heute depressive Schübe bescheren und Schauer über den Rücken schicken: »Horch, wie der Tauber ruft, / O du, du, du, / Und seine Taube hört / Ihm freundlich zu« oder in einem anderen Lied: »Es steht eine Blume, / Wo der Wind weht den Staub, / Blau ist ihre Blüte, / Aber grau ist ihr Laub. / Da stehst du und wartest, / Dass ich komme daher, / Wegewarte, Wegewarte, / Du blühst ja nicht mehr.« Zur Belohnung gab es feuchte Küsse der üppig gepuderten Damen, die mich an ihre nach uraltem Lavendel duftenden veilchenfarbenen Busen drückten. Meine Begeisterung darüber hielt sich in Grenzen, der Sauerstoffmangel war deutlich, und ich war jedes Mal heilfroh, zu entkommen.
Dressierte Welt: »Horch, wie der Tauber ruft …«
Die ständigen Auftritte im Kaffeekranz verleideten mir sowohl den Musikunterricht wie das Erlernen des Klavierspiels, das ich bald aufgab. Aus der Mitgliedschaft im nach dem Liedkomponisten Friedrich Silcher benannten Knabenchor war vor dem Stimmbruch ein Austritt undenkbar. Hier wandte ich das einzig probate Mittel an, das den Rauswurf garantierte: Anlässlich einer Chorprobe zerdrückte ich eine Phiole mit Buttersäure. Diese Stinkbombe war im lokalen Scherzartikelbedarf frei erhältlich, und ich bekannte mich zu der duftigen Tat. Das führte zu meiner umgehenden Entlassung aus dem Klangkörper. Zuhause sang dafür der Rohrstock seine sengende Melodie.
Im heimischen Kreis verweigerte ich bald darauf mit halbseidenen Ausreden das verhasste Vorsingen vor Schreckschrauben, Gewitterhexen und Spinatwachteln. Lieber zog ich mich in meine eigene Welt zurück, in der selten der Tauber rief oder eine vertrocknete Blume auf ihren Prinzen wartete. Im behaglichsten Winkel des betagten Hauses, hoch oben im Dachstuhl, hatte ich mein Nest gebaut. Hier fühlte ich mich geborgen, sicher und heimisch. Dies war der Ort, an dem ich ein selbst bestimmtes Leben führte: in einem Kokon sanfter Träume, in einem Schneckenhaus ungebundener Phantasie. In diesem Refugium schrieb ich meine Gedanken in Oktavhefte und träumte mir aus den Werken von Erich Kästner, Karl May, Jules Verne und Astrid Lindgren ein eigenes uneinnehmbares Königreich zusammen.
»Ich habe niemals Höhlen gegraben und Vogelnester gesucht, niemals botanisiert und mit Steinen nach den Vögeln geworfen«, schildert Jean-Paul Sartre in seiner mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Autobiografie »Die Wörter« seine Kindheit. »Aber die Bücher waren meine Vögel und meine Nester, meine Haustiere, mein Stall und mein Gelände; die Bücherei war die Welt im Spiegel; sie hatte deren unendliche Dichte, Vielfalt, Unvorhersehbarkeit. ... Die Wörter sind der Humusboden meines Gedächtnisses.« Genau so erlebte ich meine ersten Gehversuche in den Gärten der Literatur, und aus dieser Perspektive betrachtet schenkte mir das Schicksal eine behütete Kindheit in der Wunderwelt der Bücher.
Wie viel ungünstigere Bedingungen erlebten einige meiner Klassenkameraden, in deren Familien ein abgekämpfter Vater zum Feierabend sein flüssiges Brot aus dem Kühlschrank fingerte und wortlos aus der Glotze Bilderbrei löffelte. Er verschenkte die Chance, das kreative Potenzial seiner Kinder zielgerichtet zu fördern und zu fordern. Verhielt sich die Mutter, die wichtigste Begleiterin des kindlichen Alltags, ähnlich, wuchs der Nachwuchs nur mühsam und auf Umwegen über den Konsum von Fernsehprogrammen und die Lektüre von Versandhauskatalogen hinaus.
Für mich galt, was Astrid Lindgren, die Klassikerin des Kinderbuches, erinnert: »Das grenzenloseste aller Abenteuer der Kindheit, das war das Leseabenteuer. … Für mich begann es, als ich zum ersten Mal ein eigenes Buch bekam und mich da hineinschnupperte. In diesem Augenblick erwachte mein Lesehunger, und ein besseres Geschenk hat das Leben mir nicht beschert.«
Als Siebenjähriger süchtig nach Lesestoff
Ich war süchtig nach Lesestoff. An Büchern fehlte es mir glücklicherweise nie, ich durfte frei wählen und ging in der örtlichen Buchhandlung Holterdorf ein und aus, um dank elterlichem Kredit neuen Lesestoff auszuwählen. Beim Lesen vergaß ich die Welt und mich selbst. Im Lesen ging ich selbstvergessen auf und lernte die Faszination der Buchstaben kennen. Das Versinken in Literatur bildete meine zentrale Freizeitbeschäftigung. Langeweile war ein Fremdwort, und ausgedehnte Leseausflüge nahmen mir die Angst, mich in der realen Welt behaupten und auseinandersetzen zu müssen.
Lesen ist und bleibt das sicherste Gegengift gegen innere Leere und Angst. Schon als Kind bereitete mir Lesen ungeteiltes Vergnügen. Ich konzentrierte mich dabei, was mir sonst schwerfiel, mühelos und war dabei bald völlig in meinem Tun absorbiert. Alles Beschwerliche herum zerfiel beim Lesen zu Staub.
Der Psychologe Victor Nell nennt das sich Verlieren in einem Buch »ludic reading«, was Lust-Lesen oder schlicht Schmökern bedeutet. Ähnlich dem Träumen führt aktives Lesen einen veränderten Bewusstseinszustand herbei, bei dem der Körper entspannt und – im Gegensatz zum rein passiven, rezeptiven Fernsehkonsum – die Phantasie motiviert, eigene, neue Bilderwelten zu erschaffen.
30 Jahre später entstand mein Lehrbuch »Über die Kunst des Schreibens«
Später erlebte ich den Prozess der Auflösung und das In-den-Stoff-Fließen beim Schreiben. Das Verfassen von Texten ist ein äußerst kreativer Vorgang, in dem völliges Aufgehen möglich ist. Kurt Martin Hahn, Begründer der Erlebnispädagogik und von den Nazis verfolgter Gründer des Internats Schloss Salem, nannte diese Erscheinung »schöpferische Leidenschaft«. Ein amerikanischer Psychologe mit dem unaussprechlichen ungarischen Namen Mihaly Csikszentmihalyi präzisierte das lustbetonte Gefühl des völligen Aufgehens in einer kreativen Tätigkeit mit dem Begriff »Flow«. Auf dem Feld des Schreibens bedeutet das: Schafft es der Autor, derartig faszinierend zu formulieren, dass der Leser in Trance fällt, Außenreize ignoriert und bei Unterbrechung der Lektüre wie aus einem Traum erwacht, dann ist ihm ein Kunstwerk gelungen, das Glück und Entspannung schenkt.
Dabei darf der Autor den Schaffensrausch, in den er selbst bei