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Split: Im Bann der Seelen
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eBook376 Seiten5 Stunden

Split: Im Bann der Seelen

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Über dieses E-Book

Was tut man, wenn man nachts in einem völlig unbekannten Waldstück aufwacht und auf einmal bemerkt, dass man eine riesige Gedächtnislücke hat? Genau das fragt sich Rachel, als sie in genau diese Situation gerät. Während in den folgenden Tagen immer mehr Rätsel auftauchen, besonders im Bezug auf ihre spurlos verschwundenen Eltern, muss sie sich auch noch mit wirren Träumen herumschlagen. Und all das Durcheinander wird nicht gerade besser, als ein neuer Schüler ihr weismachen will, sie könne Seelen sehen...
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum29. Juli 2022
ISBN9783347685611
Split: Im Bann der Seelen
Autor

Elisa Schön

Elisa Schön wurde 2005 geboren und lebt mit ihrer Familie in Niedersachsen. Schon im Alter von acht Jahren schrieb sie mit Begeisterung einzelne Geschichten. Das führte sie fort, und so wurden aus den Drei-Seiten-Geschichten von damals immer längere, ausführlichere und geplantere Geschichten, in denen teilweise komplett neue Welten entstanden. In der Grundschule schrieb sie eine Geschichtenreihe, die aus insgesamt vier einzelnen Geschichten bestand. Ab der fünften Klasse trat sie in die AG "Kreatives Schreiben" ein, in der Geschichten komplett ohne Bedingungen geschrieben und freiwillig auch vorgelesen werden. Diese AG begleitete sie durchgehend. "Paula und die Pferde - Schicksalhafte Wendung" wurde am 24.7.2019 als ihr Debütroman veröffentlicht, womit sich ihr Traum vom Bücherschreiben verwirklicht hat. Nachdem sie die Kinderbuch-Trilogie im August 2021 abgeschlossen hat, schrieb sie begeistert weiter und veröffentlicht ihre zweite Reihe "Split", dieses Mal eine Dilogie für Jugendliche und junge Erwachsene. Der zweite Band "In den Tiefen von Luminaris" erscheint 2023.

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    Buchvorschau

    Split - Elisa Schön

    Kapitel 1

    Nichts als durchdringende Dunkelheit umfing mich. Dunkelheit, gepaart mit meinem schnellen Herzschlag, meinem unregelmäßigen Atem und einem unangenehmen Druck an meinem Rücken. Blinzelnd schlug ich die Augen auf, um herauszufinden, wo ich war. Scheinbar lag ich auf dem Boden, denn vor mir – oder besser gesagt über mir – ragten hohe Tannen dem Nachthimmel entgegen, der von regenschweren, grauschwarzen Wolken überdeckt war. Einige Sekunden verharrte ich regungslos in meiner liegenden Position und starrte einfach nur nach oben, während ich die kühle Nachtluft in meine Lungen sog. Ich fühlte mich, als hätte ich gerade einen Marathon hinter mir. Doch der Druck in meinem Rücken brachte mich schließlich dazu, meine liegende Position aufzugeben und mich mühsam aufzurappeln. Dabei griffen meine Hände auf feuchtes Moos – offenbar hatte es geregnet. Sobald mein Rücken den Boden verließ, verschwand glücklicherweise der unangenehme Druck, den, wie ich nach einem Blick hinter mich feststellte, eine aus dem Boden ragende Wurzel verursacht hatte. Scheinbar hatte nicht nur der Boden Regenwasser abbekommen, sondern ich mindestens genau so viel, denn mein dünnes Sweatshirt klebte an meiner Haut und meine Hose war einige Blautöne dunkler als sie eigentlich war. Wie in Trance sah ich mich um, während mein Gehirn endlich realisierte, dass ich mich in einer wirklich merkwürdigen Situation befand und allerhand Fragen auf mich einprasselten. Wie kam ich hierher? Warum hatte ich auf dem Boden gelegen? Und wo war „hier überhaupt? Ich befand mich scheinbar tief in einem Wald, denn außer einiger Tannen, Laubbäume, Büsche und Wurzeln sah ich weit und breit nichts. Ich lauschte. Eine leichte Brise brachte die Pflanzen zum Rascheln und irgendwo über mir erklang der Ruf einer Eule in der Nacht. Vermutlich sollte ich in Anbetracht meiner Situation Angst haben, aber mein Kopf war wie leergefegt und es gelang mir kaum, irgendwelche Erinnerungen, wie ich hierhin kam, wach zu rufen. Da ich allerdings aufgrund der kühlen Temperatur und meiner dünnen und vor allem nassen Kleidung langsam begann, zu frösteln, war es wohl meine oberste Priorität, hier erstmal wegzukommen. Langsam stand ich auf, wobei das herbstliche Laub unter mir raschelte, und suchte in stehender Position nochmals nach irgendeinem Merkmal, was mir einen dringend benötigten Denkanstoß geben würde, um mich zu orientieren. Doch offensichtlich war ich noch nie in diesem Waldstück gewesen, denn ich fand rein gar nichts Vertrautes. Auch sah es nicht so aus, als hätte ich irgendetwas Hilfreiches wie ein Handy oder einen Kompass dabei – genauer gesagt schien ich gar nichts dabei zu haben. Da mir nichts großartig übrigblieb, wenn mein Kopf schon nicht mitspielte und ich auch sonst auf keinerlei Hilfe zählen konnte, setzte ich mich zögerlich in Bewegung und stakste wie ein unsicheres Reh durch den Wald. Früher oder später musste ich auf einen Weg oder zumindest den Waldrand stoßen, und dann würde ich schon zurück nach Hause finden. Während ich so durch die Gegend irrte und wachsam die Augen und Ohren offenhielt, wurde ich irgendwann von dem Gefühl ergriffen, beobachtet zu werden. Unsicher drehte ich mich um die eigene Achse, doch egal, wie oft ich den Vorgang wiederholte, ich konnte nirgends jemanden entdecken. Vermutlich war es bloß irgendein scheues Waldtier oder meine etwas verspätete Nervosität setzte nun doch ein. Unwillkürlich beschleunigte ich meine Schritte, bis ich tatsächlich endlich auf einen Weg stieß. Beinahe hätte ich ihn übersehen, denn es handelte sich nur um eine kleine, unscheinbare Spur, kaum mehr als ein Trampelpfad. Nur wegen der kleinen Buschreihe, die mir den Weg versperrte und mich gen Boden blicken ließ, hatte ich ihn unter mir wahrgenommen. Auch wenn es nur ein kleiner Anhaltspunkt war, stieß ich einen zutiefst erleichterten Seufzer aus und folgte ihm. Er war schließlich mein einziger möglicher Ausweg aus dieser bizarren Lage. Sowohl mein Gefühl der Hilfslosigkeit, als auch der Eindruck, beobachtet zu werden, ließen endlich nach, je mehr ich dem Pfad folgte, bis ich schließlich auf einen offiziell aussehenden Waldweg stieß. Ich ließ meinen Blick schweifen und erblickte in der Ferne im Schatten der Büsche einen Wegweiser. Bingo! Schnellen Schrittes näherte ich mich dem hölzernen Pfahl, bis ich lesen konnte, was auf dessen pfeilförmigen Schildern stand. Als ich dem Namen der Kleinstadt „Welfort, in der ich wohnte, erblickte, jubelte ich leise, trotz dass die Entfernungsangabe direkt daneben fünf Kilometer anzeigte. Immerhin hatte ich nun einen Weg, dem ich folgen konnte und sicher wusste, dass ich ankommen würde, auch wenn ich mir wesentlich besseres vorstellen konnte als einen unfreiwilligen, nächtlichen Spaziergang mit durchnässter Kleidung und keinem blassen Schimmer, wie ich überhaupt hierhergekommen war. Um keine Zeit zu verlieren, setzte ich meinen Weg nach Hause fort und grübelte währenddessen über die Umstände nach. Was hatte dazu geführt, dass ich über fünf Kilometer weit von Zuhause entfernt im einem mir unbekannten Waldstück gelegen hatte? Wie lange hatte ich da überhaupt gelegen? Als würde es meine Erinnerungen zurückholen, biss ich mir auf die Unterlippe und strengte konzentriert mein Gedächtnis an. Aber ich schien weder über das Wissen zu verfügen, wie ich in diese Situation geraten war, noch überhaupt etwas aus meiner Vergangenheit zu wissen, wie ich erschrocken feststellte, als meine Gedanken abschweiften. Wobei, das stimmte nicht ganz. Ich wusste immerhin, wer ich war – Rachel Borg, die bei ihrer Oma in Welfort lebte, dieses Jahr siebzehn wurde, Einzelkind und beste Freundin von Merle Sievitz war – aber alles andere schien völlig aus meinem Kopf gelöscht zu sein. Was war überhaupt mit meinen Eltern? Dunkel erinnerte ich mich, dass ich sie längere Zeit nicht gesehen hatte, doch die Umstände waren mir unklar. Aufgewühlt widmete ich mich wieder meiner jetzigen Lage. Alles andere hatte Zeit und würde sich im Zweifel sogar von selbst erklären, sobald ich Zuhause war. Was hatte ich getan? Welches Datum war überhaupt heute? Vielleicht hatte ich ja auf irgendeiner Party zu viel getrunken und war kopflos irgendwo hingerannt. Oder jemand hatte mir etwas in mein Getränk gemischt, falls meine Idee mit der Party denn überhaupt korrekt war. Den ganzen Weg lang kam ich zu keinem wirklich vernünftigen Ergebnis, und als wäre meine Lage nicht schon miserabel genug, fing es, während ich am Rand einer Landstraße entlangtrottete, an deren Ende sich endlich meine kleine Stadt befand, auch noch zu regnen an. Der Himmel öffnete seine Pforten und ließ es wie aus Eimern schütten, sodass ich einen Fluch ausstieß und meine Schritte noch mehr beschleunigte. Meine Kleidung war doch ohnehin schon pitschnass, vermutlich durch einen Regenschauer zuvor, und dennoch schien das dem Schicksal nicht zu genügen. Trotz meines schnellen Gehens war ich, als ich nach insgesamt sicherlich zwei Stunden endlich am Haus meiner Oma ankam, pitschnass, durchgefroren und müde. Ich öffnete das schwarze, eiserne Gartentor und schlurfte den gepflasterten Weg entlang zu der steinernen Treppe, die zu der glücklicherweise überdachten Haustür führte. Im Fenster links daneben, das Fenster zur Küche, brannte noch Licht, sodass meine Oma scheinbar noch wach war. Wenigstens blieb es mir somit erspart, sie wach zu klingeln, denn ohne Schlüssel kam ich nicht ins Haus. Erschöpft klingelte ich und wartete, bis hinter der verzierten, dunkelbraunen Tür Schritte erklangen und sie sich öffnete. Meine Oma erschien im Türrahmen und starrte mich entsetzt an. Oma Lieselotte trug bereits eine Schlafmaske, die sie allerdings hochgezogen hatte und somit über den lockigen, grauen Haaren trug, die ein wenig aussahen wie ein Schafspelz. Ihre braunen Augen, die von goldenen Sprenkeln verziert waren, bohrten sich durch ihre goldene Brille hindurch in meine, nachdem sie mich kurz abgescannt hatte. Der rosa Schlafmantel, der sich an ihre rundliche Figur schmiegte, deutete darauf hin, dass sie bereits im Bett gelegen hatte oder kurz davor war, zu schlafen, was in mir wieder die Frage weckte, wie spät es überhaupt war. Scheinbar erwartete sie, dass ich etwas sagte, um mich zu erklären. Doch da ich selbst keinen blassen Schimmer hatte, was hier los war, bemühte ich mich um einen entschuldigenden Blick und piepste kleinlaut: „Hi."

    „Wo um alles in der Welt warst du?", herrschte sie mich umgehend an, ohne die Begrüßung zu erwidern.

    „Ich…", setzte ich an und bemerkte, wie rau meine Stimme klang.

    Mulmig zumute brach ich ab, ratlos, was ich sagen sollte, und sah Oma Lieselotte stumm an.

    Das schien sie als Anreiz zu nehmen, weiter zu schimpfen: „Was fällt dir eigentlich ein, einfach abzuhauen, bei so einem Wetter, und erst tief nachts wiederzukommen? Bist du noch ganz bei Trost? Hast du überhaupt den Hauch einer Ahnung, wie spät es ist?" Beschämt schüttelte ich den Kopf.

    „Es ist halb drei! Was hast du dir nur dabei gedacht, Rachel? Findest du das lustig? Habe ich nicht schon genug verloren?!", fuhr Oma Lieselotte vorwurfsvoll fort und wischte sich unauffällig über die Augen.

    Ich wusste nicht, was sie mit dem letzten Satz meinte, aber ihre Worte saßen und weckten Schuldgefühle in mir. Auch, wenn ich nach wie vor nicht wusste, wie es zu dieser Situation kam, konnte ich ja nicht ganz unschuldig sein, gerade wenn sie sagte, ich sei „einfach abgehauen. Wir standen immer noch im Türrahmen und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste nur, dass ich wenigstens endlich ins Warme wollte und es gemütlichere Orte zum Besprechen von sowas gab, also murmelte ich kleinlaut: „Tut mir leid, Oma. Das wird nicht wieder vorkommen.

    Sie starrte mich noch einige Sekunden an, wobei das Licht ihre Lachfältchen an den Augen und an den Mundwinkeln herausstechen ließ, die jedoch ganz und gar nicht zu ihrer jetzigen Stimmung passten. Ich konnte mich allerdings auch nicht erinnern, dass sie jemals wirklich viel gelacht hatte. Für mich existierte sie nur als distanzierte, strenge, alte Dame. Das war zumindest das, was mein Kopf noch zusammenkratzen konnte. Endlich wandte sie sich ab und ließ mich wortlos stehen. Sie bog nach links in die Küche ein und schlug die Tür zu.

    Vollkommen überfordert mit der ganzen Situation rührte ich mich erst nach einigen Augenblicken, atmete tief durch, schloss die Tür und sperrte somit die Kälte aus, bevor ich aus meinen durchnässten Sneakers schlüpfte. Ich parkte sie am Rand des Flurs, unter einer kleinen Garderobe, und hetzte die geschwungene Treppe hinauf in den ersten Stock. Da ich wie ein nasser Pudel tropfte, huschte ich ohne Umwege direkt ins Badezimmer, welches direkt gegenüber von der Treppe war, und schloss die Tür vorsichtig hinter mir. Als ich mich umdrehte, fiel mein Blick zufällig auf den großen, viereckigen Spiegel über dem Waschbecken. Ich bereute es sofort, hineingesehen zu haben, denn mir bot sich ein elender Anblick. Meine glatten, schwarzen Haare, die mir bis zur Brust reichten, hingen mitsamt den zwei pinken Strähnen platt an meinem Kopf hinab und bestanden quasi nur aus Knoten und triefnassen Strähnen. Das weiße Licht der Deckenlampe machte meine blasse Haut noch farbloser, als sie eh schon war, sodass ich einem Geist glich. Meine grünen Augen blickten mir stumpf und müde entgegen, das lästige Muttermal an meiner rechten Wange schien noch deutlicher hervorzutreten als sonst und meine recht große und schlanke Gestalt sah unter den an mir klebenden Kleidungsstücken mager und zerbrechlich aus. Das Einzige, was an mir positiv hervorstach, war die Kette, die um meinen Hals hing und an dessen Ende ein kleiner, silberner Schmetterling baumelte. Als wären die ganzen Strapazen der Nacht spurlos an ihm vorbeigegangen, glitzerte er ihm Licht, als versuche er, die Stimmung zu retten.

    Ich trug diese Kette immer, jeden Tag, und sie bedeutete mir viel, das spürte ich. Aber warum das so war, darauf lieferte mir mein Kopf keine Erklärung. Stattdessen wirkte sie wie ein Fremdkörper an mir und meinem zerstörten Aussehen. Die Hand zur Faust ballend, da mich diese blöde Gedächtnislücke echt abnervte, wandte ich mich ab, um mich aus meinen Klamotten zu zwängen und mich warm abzuduschen. Das wunderbar warme Wasser schwemmte zwar die eisige Kälte und den erdigen Schmutz aus dem Wald ab, jedoch hatte es leider keinen Einfluss auf die Ratlosigkeit und seltsame Leere in mir. Als ich wenig später frisch geduscht und in meinem Schlafanzug erneut vor dem Spiegel stand, um mich zu kämmen, sah ich zwar äußerlich deutlich weniger katastrophal aus, aber ich fühlte mich absolut elend. „Was hast du nur angestellt, dass du so viel nicht weißt, mh?", fragte ich mein Spiegelbild, das mir daraufhin nur genauso forschend entgegenstarrte.

    Mit einem Ruck stieß ich mich vom Waschbecken fort, um – nicht ohne vorher sorgfältig zu prüfen, ob irgendeine Spur von Oma Lieselotte zu sehen war, da ich ehrlich gesagt nicht so scharf darauf war, ihr heute Nacht nochmal über den Weg zu laufen – leise in mein Zimmer zu tapsen. Es lag in der Ostseite des Hauses, am Ende des Flurs, wo dieser eine Biegung nach rechts vollzog. Dort ging es weiter zu einem Zimmer voller Krempel, mehr war dort nicht. Auf dem Weg nach rechts über den Flur passierte ich das Schlafzimmer meiner Oma und ließ gleichzeitig auch das alte Arbeitszimmer hinter mir, was nicht mehr benutzt wurde. Glücklicherweise kam ich ungestört an meiner Tür an, hinter der mich ein ziemliches Chaos willkommen hieß. Ich hatte in den letzten Wochen offensichtlich keinen Gedanken daran verschwendet, den Saustall mal aufzuräumen, und so türmten sich auf den aus schwarzgestrichenem Holz gefertigten Schränken und Kommoden allerhand Zeug wie Müll, Schmuck, Bilder und was eben sonst noch so in einem Zimmer seinen Platz fand. Um den mit hellgrauem Teppich bedeckten Fußboden stand es leider genauso schlimm, weshalb ich das Licht anknipste, um nicht etwa über einen Haufen Schmutzwäsche oder ein herumliegendes Kabel zu stolpern. Missmutig ließ ich meinen Blick über den Raum wandern, dessen schwarze Möbel sich von der sandfarbenen Wand, auf der man leider jede Spur Schmutz wunderbar sehen konnte, deutlich abhoben. Mein Zimmer war nicht sonderlich groß, aber es bot genug Platz, um sich hier gemütlich aufzuhalten – wenn es denn mal aufgeräumt wäre. Während ich einen Hindernislauf zum Bett unternahm, fragte ich mich, warum ich so lange keine Ordnung hier reingebracht hatte. Ich war eigentlich keine faule Person, aber der Gedanke daran weckte irgendwelche düsteren, aber leider kaum fassbaren Erinnerungen. Was auch immer dafür verantwortlich war, dass ich so durch den Wind war und mich nur lückenhaft an mein Leben erinnern konnte, ich hoffte inständig, dass es nach einer ordentlichen Portion Schlaf wieder weg war.

    Kapitel 2

    Das leise Knistern einer Glühbirne, die von der Decke baumelte, drang an meine Ohren. Ich stand in der Tür eines kleinen, spärlich beleuchteten Raumes, in dessen Mitte sich ein runder, scheinbar ziemlich alter Holztisch befand. Um ihn herum saßen sechs Männer, jeder mit einem großen Pott Bier neben sich, und spielten Karten. Meine Sicht war leicht verschwommen und unscharf, ich fühlte mich unerklärlich unsicher. Nervös meine Hände knetend betrachtete ich die sich mit dröhnenden Stimmen unterhaltenden Männer. Einer von ihnen schmiss mit einem plötzlichen Siegesschrei eine Karte in die Tischmitte, woraufhin seine Kollegen in lautes Grölen verfielen. Ich kauerte mich zusammen und versuchte, mich möglichst klein und unauffällig zu machen. Das Grölen verklang, während einer von ihnen alle Karten einsammelte, um sie neu zu mischen. In dem Moment fiel der irgendwie bedrohliche Blick eines bärtigen, gut gebauten Typen auf mich und er befahl über den Lärm seiner Mitspieler hinweg: „Hey, Dienstmädchen! Bring mir noch n‘ Bier, aber flott!"

    Ich zuckte zusammen und hetzte aus dem Raum, um seinem Wunsch schleunigst nachzugehen. Während ich Bier in einen frischen Krug füllte, drang auf einmal ein schrilles Piepen an meine Ohren, was mich panisch herumschnellen ließ.

    Mein Kopf prallte gegen etwas Hartes, wodurch mir ein dumpfes Aufstöhnen entfuhr. Um mich herum war es zappenduster, nur vier kleine Ziffern leuchteten mir in typischem Wecker-Gelb entgegen. Noch bevor ich richtig realisierte, dass ich scheinbar von diesem Störenfried brutal aus einem Traum geweckt worden war, ließ ich meine Hand nach vorne schießen und drückte den Ausschalter. Weder war es charmant, mich um sechs Uhr in der Früh aus dem Bett zu klingeln, nachdem ich doch erst ein oder zwei Stunden Schlaf abbekommen hatte, noch freute ich mich über die leichten Kopfschmerzen, die dank meines Ruckes gegen die Wand nun leicht pochten. Grunzend rollte ich mich herum und schwang mich aus meinem weichen Bett. Die Schule würde wohl keine Rücksicht auf meinen nächtlichen Ausflug nehmen, also gab ich mir einen Ruck und schleppte mich ins Badezimmer. Immerhin entkam ich so dem wirren Traum von eben. Zudem war es Freitag, der letzte Tag, der mich vom Wochenende trennte, was definitiv ein kleiner Lichtblick war, und so nervig Schule auch war, ich würde Merle sehen. Nach letzter Nacht hatte ich auf jeden Fall dringenden Redebedarf und niemand kam dafür mehr in Frage als meine beste Freundin. Sie verstand mich immer und war für mich da, auch wenn ich mit niemand anderem wirklich Kontakt hatte. Wie mir auffiel, stimmten meine Gedanken an Schule mich eher melancholisch, auch wenn ich nicht benennen konnte, warum. Sie war also noch da, diese Ungewissheit. Genervt biss ich mir auf die Lippen und entschied, mich davon nicht verrückt machen zu lassen. Rasch brachte ich Ordnung in das vogelnestähnliche Gebilde auf meinem Kopf, zog mir frische Kleidung an und machte mich dann auf dem Weg die Treppe hinab Richtung Küche. Dort saß Oma Lieselotte bereits am Tisch und las eine Zeitschrift. Sie blickte nur kurz auf, als ich den Raum betrat, dann widmete sie sich ohne ein Wort wieder ihrer Lektüre. Unschlüssig, was eine angemessene Reaktion darauf war, murmelte ich ein rasches „Guten Morgen, woraufhin nur ein misslauniges Grunzen ertönte. Unruhig widmete ich mich dem Kühlschrank, um mir Marmelade zu schnappen. Es war mir äußert unangenehm, hier zu stehen, die Präsenz meiner Oma im Nacken zu spüren und sie anzuschweigen, weshalb ich in Eile zwei Scheiben Brot schmierte, bevor ich alles zurück an seinen Platz räumte und mich kleinlaut verabschiedete. Dann würde ich eben in der Schule etwas essen statt vorher Zuhause, ich hatte eh keinen Hunger. Kurz darauf warf ich mir eine dünne Jacke über, schlurfte aus der Haustür und ließ sie mit einem leisen Rumms ins Schloss fallen. Okay, das war wirklich kein guter Start in den Tag gewesen. Ich nahm mir fest vor, heute Nachmittag mit Oma Lieselotte zu reden und unsere Differenzen zu überwinden. Miteinander zu reden war schließlich die beste Lösung und würde mir vielleicht auch helfen, meine merkwürdige Gedächtnislücke aufzufüllen. Fest entschlossen, mir nicht von vorneherein den Tag vermiesen zu lassen, registrierte ich, dass es nicht regnete, sondern der Herbsthimmel bloß von einer dünnen Schicht hellgrauer Wolken bedeckt war. Von Regen hatte ich, um ehrlich zu sein, auch erstmal genug. Die frostige Nässe von letzter Nacht saß mir noch tief in den Knochen. Von Zuhause aus dauerte es knapp 15 Minuten bis zur Bushaltestelle, bevor mich der Bus nach etwas längerer Fahrt an der Schule ein paar Dörfer weiter absetzen würde. Erleichtert atmete ich auf, da ich scheinbar wenigstens solche Informationen noch wusste. Ohne Vorwarnung durchzuckte mich auf einmal eine Erinnerung, in der ich auf dem Weg zur Bushaltestelle war und diese beinahe erreichte, als der Bus bereits von hinten an mir vorbeifuhr. Verwirrt hielt ich an und runzelte die Stirn. Die Erinnerung fühlte sich fremd an, gar nicht so, als hätte ich die Situation mal erlebt. Während ich versuchte, dem Gefühl näher auf die Schliche zu kommen, nahm ich plötzlich Motorengeräusche wahr. Ich fuhr herum und erblickte den Bus, der neben mir auf der Straße an mir vorbeifuhr. Erschrocken rannte ich los, um die Bushaltestelle noch rechtzeitig zu erreichen, die ich bereits in einiger Entfernung sehen konnte. Gerade bevor der Bus seine Türen wieder schließen wollte, kam ich keuchend an, fischte nach meiner Fahrkarte und stieg ein. Der Busfahrer musterte mich tadelnd, ließ mich aber wortlos passieren, sodass ich mich erschöpft auf einen freien Sitzplatz fallen ließ. Einige Sekunden starrte ich aus dem Fenster und wartete darauf, dass sich mein Atem langsam beruhigte, während das Fahrzeug sich geräuschvoll in Bewegung setzte. Verwirrt versuchte ich zu begreifen, was gerade passiert war. Ich hatte auf einmal den zusammenhangslosen Gedanken an eine Situation gehabt, die kurz danach so eingetreten war. Was für ein merkwürdiger Zufall… oder steckte mehr dahinter? Als ich bemerkte, in welche irre Richtung meine Gedanken gingen, unterbrach ich mich kopfschüttelnd. Vermutlich war das wirklich Zufall gewesen, und meine Situation war sowieso schon rätselhaft genug, als dass ich es mir leisten könnte, so etwas Unnötigem Beachtung zu schenken. Als der Bus an der Schule hielt, stand ich auf und verließ den Bus und damit hoffentlich auch meine wirren Gedanken. Erleichtert stellte ich fest, dass ich gleich nicht mehr auf mich gestellt war, als ich die leicht pummelige Figur meiner besten Freundin Merle Sievitz zwischen den auf das Schulgebäude zuströmenden Schülermassen entdeckte. Mit ihrer Neigung zu sehr gewagten und bunten Outfits, die wirklich nur sie tragen konnte, ohne auszusehen wie der letzte Idiot, war sie nicht zu übersehen. Ihr leuchtend orangener Strickpullover, den sie mit einer knallpinken Skinny-Jeans kombiniert hatte, leuchtete mir unverkennbar entgegen. Ich beschleunigte lächelnd meine Schritte und holte sie ein. „Hey, Merle!, flötete ich und tippte ihr von hinten auf die Schulter.

    Sie wirbelte schwungvoll herum, wobei ihre schulterlangen, lockigen Haare durch die Luft flogen. „Hallo Rachel", begrüßte sie mich lächelnd, während ihre warmen, hellbraunen Augen mich durch die gleichfarbige Brille anstrahlten.

    Sie stockte, als sie mich musterte: „Wow, du siehst ziemlich müde aus. Warst du gestern lange wach?"

    „Na, danke auch. Ja, kann man so sagen", antwortete ich missmutig und unterdrückte ein sich wie aufs Stichwort anbahnendes Gähnen.

    Mit der Tür ins Haus fallen wollte ich nicht, erst recht nicht jetzt, wo wir nur wenige Minuten Freizeit vor der ersten Stunde übrig hatten, weshalb ich es bei dieser Andeutung beließ.

    „Magst du darüber reden?", fragte sie mitfühlend, während sie gemeinsam mit mir ihren Weg Richtung Eingang fortsetzte.

    Ihre Frage ließ mich in Grübeln verfallen. Sie wirkte besorgt, sodass ich mich unwillkürlich fragte, was sie im Gegensatz zu mir wusste. Konnte ich öfters nicht gut schlafen, vielleicht aus irgendeinem Grund? Hing das vielleicht mit dem, was meine Oma gestern bezüglich eines Verlusts fallen gelassen hatte, zusammen? Wenn ja, warum wusste ich nichts davon? Auch wenn alles in mir darauf pochte, mehr zu erfahren, erwiderte ich ausweichend: „Nein danke, erstmal lieber nicht."

    „Okay, aber du weißt, dass du immer mit mir reden kannst, ja? Ich kann mir vorstellen, wie schlimm die Situation gestern für dich gewesen sein muss, versicherte Merle fürsorglich, woraufhin ich trotz meines noch größer gewordenen Fragezeichens im Kopf stumpf nickte und sie das Thema wechselnd fortfuhr: „Nun, vielleicht wirst du ja durch die Mathestunde etwas wacher, schließlich ist Herr Kühn ja freitags immer gut drauf.

    An die gute Stimmung, die unser netter Mathelehrer immer freitags voll auslebte und verbreitete, erinnerte ich mich tatsächlich nur allzu gut. Grinsend antwortete ich: „Allerdings, ganz bestimmt."

    Somit setzten wir unseren Weg mit einem Abstecher zu den Schließfächern bis zum Klassenraum fort.

    Entgegen meiner Erwartungen half mir der Unterricht, runterzukommen und meine merkwürdigen Gedächtnislücken zu vergessen. Ich konnte mich auf die Formeln an der Tafel konzentrieren, anstatt immer wieder abzuschweifen. Blöderweise hatte sich keine günstige Gelegenheit mehr geboten, mein Gedankenchaos anzusprechen, denn Merle textete mich nur so mit Neuigkeiten aus dem Tierheim, das sie wöchentlich besuchte, zu, da dort wohl vor wenigen Tagen ein Wurf Kätzchen abgegeben worden war. Ich hatte sie nicht aus ihrer Verzückung reißen wollen, schließlich gäbe es für solch ernste Themen ein anderes Mal noch genug Zeit. So verschob und verdrängte ich meine düsteren Gedanken immer weiter. Doch sobald ich mich nach der sechsten Stunde von Merle verabschiedete und zum Bus trottete, holte mich die Realität wieder ein. Die ganze Busfahrt über konnte ich nicht anders, als mir wieder den Kopf darüber zu zerbrechen, was mit mir falsch war. Natürlich war ich später, als ich vor der Haustür von Oma Lieselotte stand, keinen Schritt weiter. Für wirkliche Fortschritte würde ich wohl oder übel mit jemandem, besonders mit meiner Oma, reden müssen. Seufzend nahm ich einen tiefen Atemzug, bevor ich den Schlüssel im Schloss umdrehte und die Tür öffnete. Direkt strömte mir der köstliche Duft von Nudeln mit Tomatensoße entgegen und aus der Küche ertönte wie zur Untermalung Topfgeklapper. Ich ließ die Tür zurück ins Schloss fallen, schlüpfte aus meinen Schuhen und stellte meine Tasche ab. Für einen Moment gab ich mich aufgrund des Dufts der Illusion hin, alles sei völlig normal und alltäglich, dann gab mir schließlich einen Ruck und betrat die Küche. „Hallo Oma, ich bin wieder da", begrüßte ich Oma Lieselotte möglichst gut gelaunt.

    Sie stand mit dem Rücken zu mir am Herd und rührte gerade die dampfenden Nudeln um. Beim Klang meiner Stimme drehte sie sich zwar um, warf mir aber nur einen kurzen, kalten Blick zu, murmelte ein „Hallo" und widmete sich rasch wieder der Herdplatte, die sie nun ausstellte. Die Illusion meiner heilen Welt fiel schlagartig in sich zusammen. Unbehaglich ging ich zum Kühlschrank, um mir etwas Wasser in ein Glas einzuschenken. Ich hasste es, dass meine Oma mir nur so kalt begegnete, aber scheinbar war ich wegen der Aktion gestern Nacht selbst daran schuld. Also würde ich mich dafür entschuldigen müssen, dann würde unser Verhältnis sicher wieder besser werden. Gleichzeitig beschlich mich die leise Sorge, dass ich mir das nur einredete und meine Oma immer eher distanziert zu mir war. Stirnrunzelnd versuchte ich, mich an unser Verhältnis zu erinnern und wurde jäh aus meinen Gedanken gerissen, als eine kalte Flüssigkeit auf meine Hand schwappte. Ich hatte völlig vergessen, dass ich mir immer noch etwas zu trinken einschenkte, doch nun war mein Glas randvoll – beziehungsweise mehr als das.

    Hastig brachte ich die Flasche wieder in eine aufrechte Position, holte ein Tuch und wischte das übergelaufene Wasser von der Theke ab. Die Aktion beachtete Oma Lieselotte mit einem tadelnden Blick und zeterte: „Na, du musst schon aufhören, wenn es genug ist."

    Ihr Tonfall ließ mich stutzen. „Spielst du auf irgendwas an?", wagte ich, ohne Umschweife zu fragen.

    Als Antwort schnaubte sie nur, nahm den Topf mit den kochenden Nudeln vom Herd und stellte ihn mit etwas zu viel Schwung auf den kleinen, viereckigen Esstisch am anderen Ende des Raumes. Während sie noch die Soße holte, ließ ich mich missmutig auf meinen Stuhl fallen. Scheinbar wollte Oma Lieselotte keinen Klartext reden, aber davon wollte ich mich nicht entmutigen lassen. Ich wartete, bis sie ebenfalls saß und sich zwei Kellen dampfender Nudeln auftat, dann holte ich tief Luft und rückte mit der Sprache raus: „Es tut mir wirklich leid – das gestern Nacht. Ich wollte dich nicht verärgern, indem ich so lange wegbleibe."

    Als Antwort erhielt ich bloß eisernes Schweigen, aber direkt preisgeben, dass ich so ein riesiges Gedankenloch hatte, wagte ich nicht. Demnach musste ich die Informationen irgendwie zusammenkratzen, sodass ich nach ein paar unangenehmen Sekunden Stille fortfuhr: „Das wird sicher nie wieder vorkommen, ich verspreche es. Ich wollte wirklich keine Probleme machen."

    Gerade, als ich dachte, Oma Lieselotte würde erneut nur schweigen, schien sie sich endlich zu ein paar Worten durchzuringen und murmelte gefährlich leise: „Hast du überhaupt eine Ahnung, wie es mir ging? Ich habe schon zweimal so viel verloren, und dann soll sich das schlimmste Ereignis meines Lebens einen Monat später wiederholen? Du warst knapp sieben Stunden lang einfach verschwunden, Rachel! Und das auch noch bei Gewitter. Findest du das lustig?"

    „Nein, keineswegs! Ich wollte dir wirklich keine Angst einjagen. Ich habe wohl die Zeit vergessen…", versuchte ich mich irgendwie zu erklären, dabei wusste ich ja selbst nicht, warum ich gestern so lange weg und überhaupt losgegangen war.

    Außerdem beschäftigte mich nach wie vor die Frage, was meine Oma damit meinte, dass sie schon so viel verloren habe. Was war vor einem Monat geschehen? Leider stellte Oma Lieselotte nun genau eine der Fragen, die ich mir auch stellte: „Warum bist du überhaupt einfach abgehauen?

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