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Fluchangst: Aberwitz und Aberglaube
Fluchangst: Aberwitz und Aberglaube
Fluchangst: Aberwitz und Aberglaube
eBook434 Seiten6 Stunden

Fluchangst: Aberwitz und Aberglaube

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Über dieses E-Book

Die Begegnung mit ihrem Exverlobten erweckt in Linda alte Sehnsüchte und neue Zweifel an ihrer abgestandenen Ehe. Und eine rätselhafte Erkrankung ruft in ihr abergläubische Ängste hervor. Sie hegt einen unerhörten Verdacht: Dem Schlamassel muss ein Fluch zugrunde liegen. Steckt ihre herrschsüchtige Mutter dahinter, zu der Linda alle Verbindungen gekappt hat? Und was soll sie von dem Orientalisten Holger halten, ihrem neuen Verehrer, der im Fokus einer Mordermittlung steht und in dessen Haus es angeblich spukt? Dunkle Mächte scheinen sich gegen die Kleinstadtidylle verschworen zu haben. Eine resolute Anwältin will dem aberwitzigen Humbug ein Ende bereiten und stürzt sich in ein unüberschaubares Dickicht okkulter Obsessionen.
Ein Roman über Kontaktabbruch, Sprachlosigkeit und die beklemmende Leere, die zurückbleibt, wenn die Vergangenheit zur Spielwiese esoterischer Spurensuche wird.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum5. Juli 2022
ISBN9783740705152
Fluchangst: Aberwitz und Aberglaube
Autor

Viktor Brenner

Viktor Brenner ist Journalist, hat Medienwissenschaft studiert und lebt derzeit in Nürnberg. Sein erster Roman "Fluchangst - Aberwitz und Aberglaube" ist 2017 erschienen.

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    Buchvorschau

    Fluchangst - Viktor Brenner

    Zu diesem Buch

    Können sich Dinge beeinflussen, die in keinem kausalen Zusammenhang zueinander stehen? Der Verstand sagt Nein. Trotzdem zögert die Mathematikerin Linda, diese Frage eindeutig zu beantworten. Denn ihre private Algebra steckt voller Rätsel.

    Die Begegnung mit ihrer einstigen großen Liebe stürzt Linda in ein Dilemma. Dem Wiedersehen, einem höchst unwahrscheinlichen Zufall, misst sie eine transzendente Bedeutung bei. Mit Albert war sie vor vielen Jahren verlobt, die Hochzeit platzte durch eine Verkettung unglücklicher Umstände. Das Schicksal hat es sich wohl anders überlegt und will sie nun ihrer ursprünglichen Bestimmung zuführen. Doch wie deutet man die verschlüsselten Botschaften des Himmels?

    Der Übersetzer Holger, der sich in Linda verliebt hat, hält jede Episode seiner Biografie für die Fortsetzung einer Pechsträhne, die ihn seit seiner Kindheit verfolgt. Schreiben höhere Wesen das aberwitzige Drehbuch seiner Lebensgeschichte? Die Erfahrung hat ihn gelehrt, den freien Willen und die Reihenfolge von Ursache und Wirkung infrage zu stellen. Und er ahnt: Dem Teufelskreis kann er nur entkommen, wenn es ihm gelingt, das Muster zu entschlüsseln, das seinen Lebensweg und seine Entscheidungen schon immer geprägt hat.

    Die Anwältin Noemi ist fest davon überzeugt, dass es für alles zwischen Himmel und Erde eine logische Erklärung gibt, und setzt auf den gesunden Menschenverstand. Sie sortiert Fakten, zerpflückt Indizien und stellt sich dem Duell mit dem Unheimlichen.

    „Fluchangst" erzählt von der Kapitulation der Vernunft vor der Übermacht irrationaler Ängste und nimmt den modernen Okkultismus auf die Schippe.

    Für Melinda

    Inhaltsverzeichnis

    Fluchangst – Aberwitz und Aberglaube

    Nachwort

    Kapitelübersicht

    Die Protagonisten

    Kapitel 1

    Dummheit ist keine Sünde. Sie ist eine Gnade.

    Im abgestandenen Schlummerdunst der Morgendämmerung lauschte Linda der Stimme ihres Vaters. Sie begegnete ihm oft in den rußgrauen Stunden vor Tagesanbruch, wenn die schattenhaften Gäste der Nacht ihre letzte Vorstellung gaben. Sie krallte sich fest an der dünnen Leinwand ihrer Hellträume, um dem Schlaf nicht zu entgleiten, um dem großen Auftritt der Geister beizuwohnen, dem unverwechselbar echten, lebendigen, schillernden Augenblick wahren Erlebens.

    Das viele Denken und Nachsinnen macht nur unglücklich, sagte er.

    Die heruntergelassenen Rollläden ächzten im Dunkeln. Linda schlug die Augen auf und nahm verwundert zur Kenntnis, dass sie nicht unter ihrem Nussbaum saß, angelehnt an Vaters Schulter. Draußen lief der Wind Amok. Es war noch früh, der Radiowecker zeigte bereits die Sommerzeit an. Ihr Mann schmatzte sich durch einen aufregenden Traum und grunzte vergnügt. Liebte er sie noch?

    Linda schloss die Augen. Sie atmete flach und glitt einem zeitlosen Wachtraum in die Arme. Das Jahr drohte auseinanderzubrechen. Sie musste ihr Leben endlich wieder ins Lot bringen. Nichts stimmte mehr.

    Linda legte sich auf die Bank ihrer Kindheit und blickte in den Himmel. Die Vergangenheit nistete still in der nackten Baumkrone. Manchmal schwieg sie, manchmal sang sie ihre alten Lieder. Weisen, die einen einst bewegten und jetzt kalt ließen, die Melodien des Lebens, fröhliche und wehmütige, heute hohl und bar jeder Leidenschaft. Übrig blieb nur ein einsam in den Wolken umherschweifender Refrain, der leise verhallte im Takt der Jahrzehnte.

    Bald würden die Knospen platzen. Linda beobachtete, wie sich die Krone mit zarter Vergänglichkeit füllte, wie die Zweige, die leise im Wind schaukelten, den Wandervogel der Erinnerung herbeiwinkten. Diese Chimäre mit Riesenflügeln saß Linda erneut im Nacken, wie fast jeden Morgen. Sie wedelte rastlos mit den Federn, um Linda daran zu erinnern, dass kein Blatt aus ihrem geheimen Sündenregister vom Winde jemals davongeweht werde.

    Auf der Terrasse ein zaghaftes Kratzen, gefolgt von einem dumpfen Knall. Der Winter gab sich noch nicht geschlagen, er bäumte sich noch einmal auf, mit allerletzter Kraft. Dieses Sturmtief würde Schnee bringen. Ausgerechnet jetzt vor Ostern. Die kalte Jahreszeit hatte sich festgebissen, bereit für eine letzte große Abrechnung. Linda wandte sich auf die rechte Seite, weg von ihrem Mann, und zog die Decke hoch bis ans Kinn. Ihre Seele fröstelte. Was fehlte ihm? Er verschloss sich ihr in letzter Zeit.

    Lindas Leben war festgefroren. Der Winter klebte am Fensterbrett, hauchte mit gefletschten Zähnen Bosheiten an die Scheibe und ließ die Gefühle zu Eiskristallen schrumpfen. Neunzehn Jahre Glück. Warum jetzt diese Kälte? Hatte er eine andere? Neunzehn Jahre … Die Zahl ergab keinen Sinn. Nicht einmal in der Numerologie. Der Schicksalszyklus umfasste angeblich 18 Jahre. Sie war mit sechzehn verlobt, heiratete mit dreißig, wurde sieben Jahre später Mutter. Obwohl … Die Astrologie lehrte, dass der Mond 18 bis 19 Jahre brauchte, um den Tierkreis einmal zu durchlaufen. War jetzt ein Zyklus zu Ende? Die sorgenfreien Tage flatterten unwiederbringlich davon.

    Versuch einmal, an nichts zu denken, sagte ihr Vater. Das Nichtdenken ist eine große Leistung. Es macht glücklich und frei.

    Der Nussbaum, der seine Jahresringe nicht mehr zählen konnte. Die Bank, die das Warten verlernt hatte. Lindas Vater, der in den Träumen seiner Tochter lebte. Wie fern das stumme Erinnerungsbild, wie winzig klein, wie unvorstellbar einsam und unerreichbar, verbannt in eine unzugängliche, für immer verschlossene Falte der Raumzeit. Das Gedächtnis verzerrte das Erlebte, sein Erfahrungsschmuck verlor die Farben und die Lebenskraft, zerfiel zu Staub. Zarte Zweige vor grauem Himmel. Die Vergangenheit stand entblättert vor Lindas innerem Auge und stellte ein halbes Leben in seiner ganzen unerträglichen Nacktheit zur Schau. Linda wollte nur das Schöne behalten. Doch die Erinnerung legte alle Geheimnisse frei, enthüllte Trauer und Niederlagen, die Momente brennender Schmach. Der dunkle Vogel einsamer Jahre saß da oben im mageren Geäst, blickte vorwurfsvoll auf Linda und ließ sich nicht verscheuchen. Er saß und schwieg. Und Linda tat so, als würde sie den alten flügellahmen Begleiter ihrer Jugend nicht bemerken. Sie zeigte ihm die kalte Schulter.

    Darin war sie geübt. Dinge, die einem wehtaten, musste man so lange ignorieren, bis sie es satt hatten, einen zu piesacken. Linda ging unerbittlich vor, mit mathematischer Sorgfalt. Nichts überließ sie dem Zufall. Unbestimmtheiten hatten in ihrem Leben keinen Platz. Sie begegnete ihnen mit stichhaltigen Argumenten, klaren Formeln und einer gehörigen Prise Gleichgültigkeit. Für Linda gab es nur Zahlen und logische Erklärungen, für alles, was auf der Welt geschah. Und auch für das, was die menschliche Fassungsgabe überstieg.

    Die lächerlichen Weisheiten ihrer abergläubischen Mutter, die stets wusste, was ein Mädchen durfte und was nicht ... nein, darauf pfiff Linda ungeniert, seit eh und je. Sie tat es trotzig, sogar mit unverhohlenem Hohn. Linda lachte Agnes aus, erst recht, wenn ihre Vorhersagen in Erfüllung gingen, warum denn nicht, im Rahmen der Wahrscheinlichkeit war ja einiges möglich. Sogar zwingend notwendig. Eine endlose innere Schau überkam sie bei jeder erdenklichen Tageszeit mit ungestümer Wucht. Agnes und ihre mahnenden Sprüche. Agnes und die Angst vor dem bösen Blick. Vor Missgeschicken und schädlichen Einflüssen. Vor Hexen und Dämonen. Wie entsetzt sie reagierte, wenn ihre ahnungslose Tochter das Verbotene tat, immer wieder aufs Neue. Linda konnte sich wirklich nichts merken. Nicht einmal, dass sie keine Lebensmittel anschneiden durfte. Als Unverheiratete musste man sich in Acht nehmen, denn fast alles war falsch, was man so tat, wenn man die Dinge nur anfasste. In der Küche sowieso. Hier vagabundierten unheilvolle Schwingungen herum, kosmische Gravitationsfelder, die alles Künftige bestimmten.

    Linda versuchte vergeblich, die wiederkehrenden Bilder zurückzudrängen, die in den Morgenstunden das Gedächtnis fluteten. Die Rückkehr aus Klausenburg nach bestandener Magisterprüfung. Ein oft abgespielter Clip. Linda schickte sich an, das Festessen vorzubereiten. An jenem Nachmittag sollte man ihren Erfolg feiern. Sie hatte eine gute Stelle bekommen am Gymnasium in Marienburg, das war doch ein Volltreffer, unweit von Oderhellen, es lief ja alles wie am Schnürchen in Lindas Leben. Fast. Agnes hatte beinahe geheult, als Linda das Messer ansetzte, nein, um Gottes willen, wenn eine Unverheiratete den Käse anschneidet, muss sie noch ganze sieben Jahre auf einen Mann warten, leg das Messer bitte weg, sofort. Linda griff zum Wecken, nein das auch nicht, eine Jungfrau dürfe weder frischen Wecken noch Butter anschneiden. Noch heikle Themen. Sieben Jahre Einsamkeit seien die Strafe. Linda brach in Lachen aus und schnitt an. Jungfrau, von wegen, Agnes wusste doch, dass sie es schon lange nicht mehr war, sie machte sich nur lächerlich mit ihrem Geheimwissen aus Omas Hexenlexikon. Wie diese Margit, die konnte auch keinen klaren Gedanken fassen, ohne die Boten der Schattenwelt zu Rate zu ziehen, aber wirklich. Ihre Busenfreundin war versessen auf Abc-Spiele, Linda machte aus Langeweile mit, vergaß aber im Handumdrehen, was die Launen des Zufalls zutage förderten. Bis auf den Anfangsbuchstaben ihres künftigen Mannes. Zum Totlachen. Margit kritzelte mit einem Kreidestück das Alphabet an die Tür, Linda musste mit verbundenen Augen danach stoßen. Der Zufall steuerte Lindas Stock auf das U.

    Unsinn, lachte Linda, völlig ausgeschlossen, es gibt ja keinen männlichen ungarischen Vornamen, der mit U anfängt.

    Sie durfte das Spiel wiederholen, nachdem Margit sie dreimal um ihre Achse gedreht hatte, und, na ja, halt dich fest, schon wieder U.

    Schaust du, es bleibt dabei, triumphierte Margit. Eine weitere Wiederholung lehnte Linda ab. Margit schmollte, strengte sich an, überlegte – und strahlte plötzlich übers ganze Gesicht: Du heiratest einen Deutschen. Udo.

    Sie kannte aber keinen Udo. Nur den Jürgens. Und in Oderhellen gab es nur eine Handvoll Sachsen. Nichts als Hokuspokus. Aber jeder Zweifel, der sich einmal im Kopf einnistete, blieb für immer dort, wie ein Virus, der nur darauf wartete, dass die Seele des Wirts endlich Immunschwäche zeigte.

    Schwäche? Sie doch nicht. Die Fliehkraft okkulter Überzeugungen, die in jeden Winkel des Lebens hineinwirkte und alles bewegte, zumindest dort, in ihrer alten Welt, vermochte Linda nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Nein, sie blieb standhaft. Die Mahnungen ihrer Mutter Agnes quittierte sie mit galligem Zynismus. Wie herrlich, ihr ins Gesicht zu lachen, wenn sie mal wieder ihr Repertoire bemühte. Wie oft hatte sie schon den Zeigefinger erhoben, schleckt ein Mädchen den Kochlöffel ab, heiratet sie ins Ausland. Ach wirklich? Deine Überheblichkeit holt dich eines Tages noch ein, meine Liebe, ob du es glaubst oder nicht. Die Welt besteht aus mehr Schatten als Licht, predigte Agnes, deine Mathematik berechnet nur die Beschaffenheit von Formen und Oberflächen, Inhalte kann sie nicht ergründen.

    Linda gab keinen Millimeter nach: alles dummes Geschwätz. Sie glaubte fest an den gesunden Menschenverstand. Doch wie fest war eigentlich fest? Wie eisern die inneren Durchhalteparolen? Im wabernden Kraftfeld krankhafter Überzeugungen blieb man nicht lange heil im Kopf. Agnes thronte über allem, ihr schwerer Atem hinterließ in jedem Winkel des Hauses die verseuchte Luft des Aberglaubens. Es gab kein Entkommen. Mütter waren einfach stärker. Auch im Unrecht.

    Im Laufe der Jahre gewann die Verunsicherung unmerklich die Oberhand über Lindas sattelfeste Nüchternheit. Sie musste sich eines Tages eingestehen, dass sie schon lange an der Unerschütterlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse zweifelte. Schon nach der Auflösung ihrer Verlobung hatte sie ein banges Gefühl beschlichen, dass an dem vielen okkulten Nonsens, der ihre jungen Jahre begleitet hatte, vielleicht doch was dran sein durfte, zu sehr haben sich Erwartungen und Ängste in ihrem Kopf verheddert, zu viele Vorhersagen erfüllt. Es waren wirklich sieben Jahre. Und geheiratet hatte sie ins Ausland. Aber was bewies das schon? Sie konnte das Irrationale lange gut unter Verschluss halten. Doch ihre innere Stärke zerbröckelte, die dünne Mauer ihres logischen Denkens drohte einzubrechen. Für etliche Erfahrungen der letzten Jahre gab es einfach keine rationale Erklärung, meistens nicht. Das Leben wurde zu einer kaum lösbaren Gleichung mit zu vielen Unbekannten. Linda hatte sich vorgenommen, stärker zu sein als die Zahlen, stärker als die verstörenden Gebilde, die den Verstand in die Defensive drängten. Die Realität war nun mal nicht so einfach gestrickt, wie wir sie gerne hätten. Sogar die Mathematik enthüllte Muster, die den Verstand im Dreieck springen ließen. Die höherdimensionalen Gebilde, diese fesselnden, ins Dreidimensionale projizierten Schatten regelmäßiger Polytope oder die komplexen Körper, die aus Hunderten von Tetraedern bestehen, das war doch alles viel zu fantastisch, um wahr … um nicht wahr zu sein.

    Doch da war noch was. Ein Tabu, an das man nicht rühren durfte. Sie wollte nie wieder daran erinnert werden, nie, und hatte es auch ihrem Mann verboten, es je wieder zu erwähnen. Den Skiurlaub im Pinzgau, vor 15 Jahren. Ein Todesstoß aus dem Äther, der die Ratio ins Koma beförderte. Eine verstörende Erfahrung, die sie bis ins Mark erschüttert hatte und seitdem in ihr schlummerte wie ein Ungeheuer, das man eingeschläfert hatte, das aber jederzeit zu erwachen drohte, wie eine Naturgewalt. Die Risse, die ihr Weltbild bekam, waren nicht mehr zu kitten. Am liebsten hätte sie geglaubt, es sei ein Traum gewesen. Gäbe es die Fotos nicht. Das Wetter zeigte sich von seiner überirdischen Seite, der Schnee glitzerte in der gleißenden Sonne, ihr war fast schwindlig von dieser Herrlichkeit vor dem Kitzsteinhorn. Die Gletscherbahn sollte in wenigen Minuten abfahren, ihr Mann brannte vor Ungeduld und rannte geschäftig hin und her, suchte für seine Schnappschüsse ausgefallene Perspektiven. Linda hatte plötzlich weiche Knie bekommen, musste sich setzen. Das Frühstück, entschuldigte sie sich, geh nur. Sie sah ihm nach, wie er immer wieder stehen blieb, in die Hocke ging und den Auslöser drückte. Dann setzte sich eine nette alte Frau zu ihr und fragte, Ihr Mann? Linda nickte und versuchte zu lächeln, sagte aber nichts, Small Talk war nun mal nicht ihre Stärke. Die grauhaarige Unbekannte machte einen langen Senf, scherzte und lachte, Linda stimmte ein, obwohl sie die Pointen nicht immer verstand, die Dame sprach ein seltsames Mittelbayrisch. Aus heiterem Himmel wollte die Fremde wissen, wie es ihren Kindern denn ging, ach ne, die hatte wohl einen Sprung in der Schüssel, dachte Linda, die Alte fragte sie über ihre Söhne aus, die Zwillinge. Tja, was für Zwillinge denn, sie hatte ja doch gar keine Kinder. Damals nicht. Die Frau musste sie verwechselt haben, wirkte etwas überkandidelt, sogar verwirrt. Als sie bemerkte, dass Lindas Mann sich näherte, stand sie plötzlich auf und sagte, diese Bahn dürfen Sie nicht besteigen, auf keinen Fall. Linda wurde schwarz vor den Augen. Als sie zu sich kam, lag sie in den Armen ihres Mannes. Er blickte sie besorgt an und fragte, ist dir schlecht? Linda blinzelte ihn verdattert an und stotterte, ich steige nicht ein … wir steigen nicht ein, hör zu, wir nehmen besser die nächste Bahn. Ich kann nicht … Sie hielt sich den Schal vor den Mund, als wollte sie sich vor einem eigenartigen Geruch schützen, der nur ihre Nase bedrängte und vor einer Gefahr warnte. Sie blieben sitzen und beobachteten die Fahrgäste. Deutsche und Österreicher, deren Dialekt sie nicht unterscheiden konnte, sie sprachen ja alle Bayrisch. Japaner, Engländer, Slawen. Und Kinder, viele Kinder. Die Türen schlossen sich, Linda sah den Fahrgästen in die Augen, als sich der Zug in Bewegung setzte, sie waren laut und euphorisch. Wo fuhren sie hin? Um Gottes willen, bitte alle aussteigen, dachte sie. Linda sah sich aufspringen und wild vor den verschlossenen Türen fuchteln … Sie blieb aber stumm auf ihrer Bank sitzen, mit einem bangen Gefühl in der Brust, sie verliere ihren Verstand. Minuten später stieg Rauch aus dem Tunnel, Linda konnte nicht viel sehen, der Zug sei im Tunnel stehen geblieben, erzählte man. Es hatte einen Brand gegeben, fast alle Passagiere seien durch Rauchgasvergiftung ums Leben gekommen. Ein Mysterium. Eine plausible Erklärung hatte sie dafür nicht, bis zum heutigen Tag. Und eine Grauhaarige hatte ihr Mann an Lindas Seite auch nicht gesehen, er habe sie keine Minute aus den Augen gelassen. Sah sie Gespenster? Oder war sie ihrem Schutzengel begegnet? Die Episode hätte sie am liebsten ganz aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Nein. Sie hatte keine Visionen. Das hätte noch gefehlt.

    Und jetzt, was war aus ihrem Leben geworden? Was von ihren Träumen geblieben? Nur Sorgen. Sie schlafwandelte in einem fremden Leben. Dunkle Mächte zogen hinter den Kulissen die Fäden und machten sich über sie lustig. Der Alltag wuchs ihr über den Kopf. Sie hatte zu viele Eisen im Feuer. Unterricht und Nachhilfe für diese Versager mit oder ohne Abschluss. Eltern, die mit den Noten ihrer Kinder unzufrieden waren und mit dem Anwalt drohten. Ein Ehemann, der sich von ihr abwandte. Zwei Söhne, die sich von einer kleinen Fee vereinnahmen ließen. Eine verrückte Mutter, die ihre Tochter fernzusteuern versuchte und ihr mit andauernden Anrufen und Klagen die Wochenenden versaute. Ihr Exverlobter, der wie ein Phantom auf Altdorfs Straßen wandelte. Und zu allem Überdruss dieser Holger. War er wirklich in sie verliebt? Oder suchte er nur ein Abenteuer? Wie komisch er sie Ende Dezember beim Griechen angeschaut hatte, etwas verunsichert und frech, er flirtete mit Noemi und schenkte zugleich Linda lange Blicke. Auf der Faschingsparty wich er nicht von ihrer Seite. Kreuzte alle zwei Tage in der Schule auf. Es gab nun wirklich keinen Grund, wegen seiner Nichte Mira die Lehrer zu konsultieren, sie war gut, überdurchschnittlich begabt. Und ä Schnörrn, wie die Französischlehrerin sagte. Sorgen musste man sich machen eher um diese verstörten Heranwachsenden aus Crystal-Meth-Familien. Drogen in gutbürgerlichen Haushalten, gütiger Himmel. Was für Vorbilder hatten diese Kinder? Eltern, die tagtäglich die große Bruchlandung hinlegten, weil der Alltagsstress alle Lebensenergie aufzehrte. Ach, wann traf sich das Netzwerk Kinderschutz im Nürnberger Land wieder, unbedingt nachschauen, gleich, sobald sich die Nachtgedanken verzogen hatten. Den Termin durfte sie nicht verpassen.

    Vergeblich. Es gab Dinge, die sie konsequent verdrängte. An die sie partout nicht denken wollte. Warum Albert? Wieso tauchte er jetzt nach so vielen Jahren hier auf, ausgerechnet in Altdorf, am Samstag auf dem Bauernmarkt? Alles nur Zufall? Nein, es gab keine Zufälle. Altdorf, ihre nach außen ach so glückliche Familie, ihre Söhne und diese kleine Dompteuse Mira, die ihre Buben verhext hatte, sie alle waren kein Zufall. Tim wollte einst Zirkuslöwe werden, Mira zuliebe. Heute Wallenstein. Und Tom nach wie vor Panzerfahrer. Jetzt bettelten sie um einen Blauschimmel-Cocker-Spaniel. Um ihn mit Titzi zu verheiraten. Diesen Floh hatte ihnen bestimmt Mira ins Ohr gesetzt. Ihre Katze brauchte einen Bräutigam. Holgers Nichte kam ständig auf solche Furzideen. Sie hatte die Zwillinge um den kleinen Finger gewickelt, sie waren diesem Wildfang in blindem Gehorsam ergeben. Die drei hingen zusammen wie Kletten. Die Lust am Schabernack stand Mira förmlich auf der Stirn geschrieben. Sie wusste nicht, wie gut sie es hatte. Schlug ständig über die Stränge. Weil sie Narrenfreiheit genoss. Ihr Vater saß im Rollstuhl, hatte MS und überließ die Erziehung seinem Halbbruder Holger, diesem sanftmütigen Trottel, der sie gewähren ließ, Autorität war wirklich nicht seine Stärke. Das konnte kein gutes Ende nehmen. Ja, der hübschen Mira saßen die Augen nicht richtig im Kopf, sie drehten sich vor lauter Übermut und Gerissenheit wie Kugeln in einem Spielautomaten, der stets den Jackpot verheißt, aber das Versprechen nie einlöst.

    Linda rückte ihr Kissen zurecht und setzte sich auf. Der Kloß neben ihr grunzte zweimal kurz, regte sich aber nicht.

    „Schläfst du noch?"

    „Ja, stöhnte ihr Mann. Linda hob seine Decke und schmiegte sich an seinen breiten Rücken. „Wie spät ist es?

    „Viertel acht, sagte sie. Es wird ein schlechter Tag.

    „Warum?"

    „Die Quersumme der Uhrzeit ist dreizehn."

    „Du kannst es nicht lassen."

    Nein, das war ihre schlechte Angewohnheit, seit Kindertagen. Von wegen immun gegen Aberglauben. Die Zahlen verfolgten sie. Er sollte bloß nicht sagen, dass ihre Berechnungen und die Wirklichkeit in keinem Zusammenhang zueinander stünden. Das wusste sie ja. Und doch glaubte sie insgeheim an eine geheime Formel, die es zu ergründen galt, um tückischen Konjunktionen auszuweichen. Wie sollte man sonst dem Pech aus dem Weg gehen?

    „Weiß du, wem ich gestern begegnet bin?"

    „Natürlich."

    „Wem?"

    „Wie soll ich das wissen. Blöde Frage. Sag schon."

    „Meinem ehemaligen Verlobten."

    „Verlobten? Wann warst du denn verlobt?"

    „Ich war noch sehr jung. In Klausenburg."

    „Ach so …"

    Sie schwieg. Warum hakte er nicht nach? „Und? Willst du es nicht wissen?"

    „Nein. Was geht mich das an?"

    „Wusste ich doch. Du bist kein bisschen eifersüchtig?"

    „Warum denn? Wozu soll das gut sein? Würde es dir schmeicheln?"

    „Komm, nur ein bisschen, bettelte sie. Ihr Mann schnaufte gelangweilt. „Frag mich, wie er heißt.

    „Ich frag dich, wie um Himmels willen kannst du hier in Altdorf deinem Klausenburger Verlobten begegnen. Hast du ihn vielleicht verwechselt?"

    „Nein. Er war es. Albert."

    „Was hat er gesagt? Hat er sich gefreut, dich zu sehen?"

    „Nein. Er hat mich nicht erkannt."

    „Bist dir sicher?"

    „Absolut. Linda schüttelte die Decke. „Du schwitzt. Macht es dich nervös?

    „Ich schwitz, weil du auf mir liegst."

    „Und ich dachte, endlich bist du ein wenig eifersüchtig."

    „Ist das so üblich in Klausenburg?"

    „Wieso Klausenburg?"

    „Die Ungarn. Haben doch Paprika im Blut, oder?"

    „Im Arsch. Unsinn. Die Ungarn sind genauso wie die Sachsen. Die Städter zumindest. Gleiche Mentalität. Es gibt nun mal Eifersüchtige und solche wie dich. Phlegmatiker. Linda öffnete die Augen und sah noch einmal auf die Uhr. „Sieben Uhr vierundzwanzig. Schlechte Zahl, schlechter Tag.

    „Quersumme dreizehn? Du bist echt bescheuert."

    „Ich weiß. Plötzlich ein gewaltiger Knall. Linda sprang aus dem Bett. „Was war denn das? Ihr Puls verdoppelte sich. „Um Gottes willen, wer macht denn so einen Höllenkrach in aller Herrgotts Frühe?"

    „Das ist dieser Orkan aus Island."

    „Es klang … wie ein Schuss", entgegnete Linda. Sie trat ans Fenster und zog die Rollos hoch.

    „Ich dachte, es wäre was Schweres umgefallen."

    „Das kann auch sein, überlegte sie. „Aber ich hätte schwören können, es war ein Schuss. Meinst du, Gangster ballern hier in Altdorf herum?

    „Ne. Unsinn."

    Linda legte sich wieder hin und deckte sich zu. „Musst du nicht aufstehen?", fragte sie. Nein, fiel ihr ein, er hatte sich ja freigenommen.

    „Lass mich noch ein bisschen", bettelte er.

    „Willst du noch etwas zu Ende träumen?"

    „Ja."

    „Was? … Sag schon ... Sex?"

    „Mhm."

    „Mit mir?"

    „Kannst du bitte ein paar Minuten schweigen?"

    „Blödmann." Linda schlug die Decke zurück, scharrte mit den Füßen nach den Hausschuhen und trottete ins Bad.

    „Erwarte bloß nicht, dass ich dir dabei helfe, brummte sie. „Das hättest du wohl gern, was? Sie setzte sich auf die Klobrille und entspannte sich. Na wart. Ich werde dich schon ablenken von deinem erotischen Abenteuer. „Albert hat mich nicht erkannt. Hörst du mich?" Sie wollte nicht zu laut reden, um die Zwillinge nicht zu wecken. Sie schliefen im Dachgeschoss, ganz praktisch dieses Haus Ilona, hier im Erdgeschoss waren Linda und ihr Mann ungestört, und die Kinder hatten oben ihr eigenes Reich samt Bad. „Er ist einfach an mir vorbeigegangen, gestern bei der Alten Nagelschmiede. Sein leerer Blick verriet es. Wie denn auch? Ich sehe ganz anders aus als damals in Klausenburg. Ich war ziemlich pummelig. Wog sechsundsiebzig Kilo, eine schlechte Zahl, hörst du mich, ich musste fünfzehn Kilo loswerden. Du glaubst mir nicht? Melinda horchte. Im Schlafzimmer rührte sich nichts. Kein Laut. Sie stöhnte leise. Auch dies hörte er nicht. „Ich dachte, mich trifft der Schlag. Ausgerechnet hier in Altdorf. Er sieht immer noch gut aus. Kräftig. Schönes Haar. Hat aber einen Bauchansatz.

    Nein, er würde nicht aufstehen. Früher, wenn sie sich duschte und die Brause abstellte, erschien er prompt im Bad, um ihren Po zu segnen. Er küsste zuerst die linke Backe, sagte Urbi …, und dann die rechte, et Orbi. Manchmal galt das Ritual ihren Brüsten. Und abends, wenn sie sich nach dem Arbeitstag begrüßten, schloss er sie in die Arme, streichelte ihren Po und fragte, was macht denn dein Tuttichen? Tutt, wieder mal so ein komisches Wort aus dem Dialekt seiner Mutter. Mein Tuttichen?, fragte sie keck zurück. Es lässt dich schön grüßen.

    Jetzt blieb er immer im Bett liegen, bis sie die Kleiderschranktüren aufriss. Vorher stand er nicht auf. Schon lange nicht mehr.

    Linda ging ins Wohnzimmer, zog den Vorhang beiseite und sah hinaus. Im Garten tobte der Wind. Er zerrte an den blassen Zypressen, flaute kurz ab, um noch einmal aufzuspringen und die Baumkronen wie Derwische tanzen zu lassen. Der weiße Sonnenschirmfuß war weggetrippelt, er ruhte sich auf einem der Trittsteine im Gras aus. Nur die Liege des Nachbarn stand noch da wie angewurzelt, als wäre der lange Winter eine dreiste Lüge gewesen. Hoffentlich flog sie dem Zwetschgenbaum nicht um die Ohren. Linda hörte immer wieder Geräusche von umfallenden Gegenständen, der Wind heulte in wilder Entschlossenheit, seine Botschaft war unmissverständlich, die Wetterdämonen drohten, die Welt aus den Angeln zu heben, und kündigten ein Jahr des Missvergnügens an.

    Kapitel 2

    Er liebte die ruhigen Wochen nach Weihnachten, die Unternächte. Keine Termine, keine Verabredungen. Stille Tage mit einem schönen Buch und einer warmen Tasse Tee, Spaziergänge im tiefen Schnee, draußen im Fürstenschlag oder im Röthenbacher Holz, wenn der Himmel gähnte und die Wolken verträumt dahinzogen, mit geschlossenen Augen und gespreizten Flügeln.

    Holger stand am Fenster und sehnte die einsamen Winterabende herbei, wenn der Schnee in dicken Flocken trieb und über den Hausdächern flatterte wie ein zerrissener Vorhang im Wind, das Vertraute mit kühn entfesseltem Pinsel verfremdete und in eine magische Kulisse verwandelte. Wie letztes Jahr. Und die Jahre davor.

    Doch in diesem Dezember tanzten die Elemente aus der Reihe. Geschneit hatte es zum ersten Mal am zweiten Weihnachtstag. Und dann immer wieder mit Unterbrechungen, wochenlang. Der Winter gab sich mürrisch dieses Jahr, geradezu lustlos, zuweilen reizbar. Der Schnee lag nass und schwer auf Gehwegen und in den Gärten bei Temperaturen über dem Gefrierpunkt, klumpte und schmolz, bildete schnell schmutzige Krusten. Er saugte sich langsam voll mit dem trägen Saft der Erde, den abgestorbenen Zellen gehäuteter Tage, und nahm beharrlich die stumpfe Melancholie der Verwesung in sich auf. Die triefende Schwermut schlug aufs Gemüt. Ihm und seiner Mutter. Holger wandte sich um und blickte auf den leeren Sessel, in dem sie an den Tagen vor Weihnachten die Stunden ihrer Schlaflosigkeit verbracht hatte, mit einem Buch offen in ihrem Schoß. Ihr Blick ruhte abwesend zwischen den Seiten, sie schien dem Atem des Winters zu lauschen, enttäuscht und verunsichert, als habe die weiße Jahreszeit vergessen, ein großes Versprechen einzulösen. Wie einsilbig sie war. Ist er wirklich so langweilig, dein Roman, hatte er gefragt. Keineswegs, blinzelte sie, schon kurzweilig, aber schlampig geschrieben. Das nervt. Eigentlich esoterischer Unsinn, sagte sie und zeigte den Umschlag: Die Prophezeiungen von Celestine.

    Jetzt saß sie bei Mira und Fred, wollte nicht mehr bei ihm übernachten. Wozu denn auch? Sie hatten die Tage eh bei Fred verbracht, mit Mira gekocht und gebacken, bis die Küche rauchte wie eine alte Dampflokomotive. Ihm war dort sowieso öde. Freds düstere Weissagungen hatte er über. Holger stellte die Ohren auf Durchfahrt, wenn sein Halbbruder eines seiner Lamentos über den Untergang anstimmte. Die echten Kalamitäten brauten sich woanders zusammen.

    Was würde ihm das nächste Jahr bringen? Er war Mitte vierzig, bildete sich ein, zehn Jahre jünger auszusehen und über reichlich Potenzial für einen Neuanfang zu verfügen, sein Leben könnte sich doch noch zum Besseren wenden. Es gab aber zu viele Baustellen, zu viele offene Fragen und Sorgen. Nadine würde sich nicht anders besinnen, kaum vorstellbar. Und der Rechtsstreit mit der Baufirma?

    Zwei Wochen waren es her, dass er durch Nürnberg irrte, er schlenderte von der Lorenzkirche über die Pegnitz bis zur Frauenkirche, bog rechts ab, geriet in ein Gassengewirr und blieb vor einer kleinen Tür stehen. Er trat näher. Kaum lesbar auf einem Kupferschild: „Astrologin. Ohne viel nachzudenken, drückte er die Klinke und trat ein. Ein verrauchtes Hexennest, das war klar. Schummriges Licht, viel Geglitzer, flackernde Kerzen und unruhige Schatten. In einer Ecke saß regungslos wie eine Statue eine stark geschminkte Frau mit schwarzen Haaren, sie waren gefärbt, das hatte Holger sofort erkannt, ihre hellen Augenbrauen verrieten es. Ihr Alter? Unbestimmt. „Kommen Sie doch näher, hauchte sie verführerisch, „womit kann ich dienen?"

    Selten im Leben hatte sich Holger so selbstsicher gefühlt wie in dieser Gruft hohler Versprechungen und schamlosen Bluffs. „Hallo, sagte er, „ich wollte mal schauen, ob Sie so gut sind wie ihr Ruf, Sie können aus den Sternen lesen …

    „So einfach ist das nicht, mein Herr. Ich bin Samantha. Wie soll ich Sie nennen?"

    „Holger. Tierkreis Widder, log er und setzte sich. „Ich hätte gern gewusst, was mir das nächste Jahr blüht. Ob meine Ehe noch zu retten ist. Und wie der Rechtsstreit mit einem Bauunternehmen ausgeht. Droht uns eine Finanzkrise?

    „Nicht so schnell, junger Mann."

    „So jung bin ich nicht mehr, das sieht man doch."

    „Nein. Vor mir sehe ich einen jungen Mann mit guter Aura. Aber was Sie gerade angesprochen haben, kann man nicht so mir nix dir nix aus den Sternen herauslesen."

    „Was dann? Können Sie vielleicht mal einen Blick werfen in Ihre Kristallkugel? Oder ist sie aus billigem Glas?"

    „Na, wenn Sie mir so kommen, können wir die Sitzung gleich abbrechen. Sie sind ganz schön frech, muss ich sagen. Ihre Dreistigkeit verrät im Grunde Ihre tiefe Verunsicherung." Touché.

    „Verzeihung, ich wollte Sie nicht verletzen. Was müssen Sie über mich wissen, um die Sterne für mich zu deuten. Oder meinetwegen diese Kristallkugel zu bemühen?"

    „Sie stellen sich die Sache recht einfach vor. Ich bin keine Amateurin, wenn Sie es wissen möchten. Erstens: der Tierkreis dient nur als Messkreis für das zu erstellende Horoskop. Sie versuchen den Eindruck zu vermitteln, dass Sie sich gut auskennen. Tun Sie das?"

    „Ich hatte Experten in der Familie, aber ich selber …"

    „Schon klar. Also. Was hätten Sie gern: ein Geburtshoroskop, ein Elektionshoroskop oder ein Partnerschaftshoroskop. Ich habe verstanden, es gibt Probleme mit Ihrer Frau …"

    „Geht es vielleicht auch einfacher?"

    „Geben Sie mir bitte Ihre Hände."

    Holger kam der Aufforderung nach, Samantha stellte die Kristallkugel in die Mitte und schlug seine Hände auf. Ihre warmen Finger berührten seine Handteller. Sie blickte in die Kugel, mitunter auch auf seine Handflächen und schwieg lange. „Ihre Frau ist unzufrieden, sogar … irgendwie gleichgültig. Ihre Ehe ist in Gefahr. Sie müssen auf sie zugehen, einen Kompromiss finden. Ihre Seele wird bald zur Ruhe kommen. Sie müssen nur Geduld haben. Die Zufriedenheit, die Sie suchen, werden Sie nicht so schnell finden. Um Ihren Rechtsstreit steht es nicht gut. Sie haben zwar beste Karten, aber … ich sehe da ein Hindernis. Die Sache wird ins Stocken geraten, eine baldige Lösung ist nicht in Sicht. Sie treffen sich mit der Gegenseite vor Gericht. Das Urteil sehe ich nicht, ich sehe nur … nein … beide Parteien kämpfen mit harten Bandagen und wollen nicht nachgeben, eine Pattsituation."

    „Keine weiteren großen Ereignisse?"

    „Doch, viele Ereignisse, aber im Rahmen des Alltäglichen, nichts Herausragendes. Nichts, was sie seelisch aus der Bahn wirft. Nein, keine seelischen Erschütterungen. Nur eine lange anhaltende Anspannung. Sie fahren Achterbahn."

    „Was wird aus meiner Geliebten?"

    „Eine Geliebte … Samantha stockte. „Eine Geliebte sehe ich nicht. Haben Sie wirklich eine? Sie blickte Holger in die Augen. Er zuckte mit keiner Wimper. „Ich sehe eine Frau, die Sie verehren. Aber … konzentrieren Sie sich besser auf Ihre Gattin."

    „Und der Aktienmarkt?"

    „Wie bitte? Meinen Sie die Börse?"

    „Ja. Wie entwickeln sich die Kurse im nächsten Jahr?"

    „Das gehört aber nicht zu Ihrem persönlichen Profil, das ist nicht Teil unserer Abmachung."

    „Abmachung? Wir haben doch nichts ausgemacht. Und die Frage habe ich gleich gestellt."

    „Daran kann ich mich nicht erinnern, es tut mir

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