Autoreisen durch Russland und damalige Sowjetrepubliken
Von Armin Hirsekorn und Renate Hirsekorn
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Über dieses E-Book
Inhalt: Vorwort, Ziemlich verrücktes Vorhaben, Standard- oder Sonderprogramm, Anreise und Grenzübergänge, Unendliche Autopisten, Moskaubesuch und seine Folgen, Goldener Ring Russlands, Leningrad und das Baltikum, Schlammbad im Tambukan See, Frühstück am Kreuzpass, Anmache am Tbilissi-See, Schlagbaum vor Armenien, Kniefall vor Stalins Totenmaske, Kolchosschmiede an der kaukasischen Riviera, Schwalbennest und Märchenwies, Minarett und Baumwollblüte, Rückkehr, Anhang, Verzeichnis der Bildtexte.
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Buchvorschau
Autoreisen durch Russland und damalige Sowjetrepubliken - Armin Hirsekorn
Vorwort
Was hat uns wohl veranlasst, dieses Buch zu schreiben, 35 Jahre nach unseren Erlebnissen in der Sowjetunion und 25 Jahre nach der Wende? Es entstand vorwiegend aus unseren Notizen während der Autoreisen durch die Sowjetrepubliken, in den Jahren 1978 bis 1989. Wir haben knapp 40000 Kilometer, meist mit dem eigenen Auto, auf nahezu allen in diesen Jahren freigegebenen Touristenstrecken der Sowjetunion, zurückgelegt.
Viele Jahre waren wir unsicher, ob es sich lohnen würde, uns mit der späten Durchsicht der Notizen, Manuskripte und Bilder zu befassen, im Zweifel, ob diese Arbeit auch wirklich einen Sinn machen würde und wir im Alter den Antrieb aufbringen könnten, ein solches Vorhaben zu vollenden. Vor dem Aufwand scheuten wir fast ein halbes Jahrhundert. Wir wussten, ein E-Book mit dem Titel „Reisen in Russland, als Autotouristen in den damaligen Sowjetrepubliken" würde nicht sehr viele Leser finden. Doch Renate und ich hatten während unserer Fahrten mit dem LADA so viele wunderbare Erlebnisse, so einmalige Begegnungen mit den Menschen, dass es uns reizte, sie aufzuschreiben und als E-Book herauszugeben.
Sehr viele DDR-Bürger besuchten die Sowjetunion als Gruppenreisende über Intourist oder im Freundschaftsaustausch der Betriebe. Doch wir erinnern uns gerne an die Fahrten durch die Weite des Landes, allein, ohne jede Begleitung, an die Exkursionen als Individualreisende, mit dem Reiseleiter von Intourist als Beifahrer im eigenen Fahrzeug.
Der ständige Konflikt von Unendlichkeit und Nähe begleitet uns ein Leben lang, die Sehnsucht nach der unbekannten Ferne, der bedrohenden Endlosigkeit und der gleichzeitige Wunsch nach Berührung, Wärme und Geborgenheit. Viele Menschen sind an diesem Konflikt zugrunde gegangen und ganze Staaten. Die DDR zerbrach an der Enge und den Mauern, die sie ihren Bürgern errichtete. Eine durch die Machthaber erzwungene Abschottung über Jahrhunderte, wie in China, über Jahrzehnte, wie in der Sowjetunion, ließ sich nie auf die Dauer halten. Das Fernweh und der Entdeckerdrang, eine dem menschlichen Wesen immanente Eigenschaft, ließ ihn die Mauern durchbrechen.
Immer wieder waren auch wir bei unseren Fahrten durch die unendliche Weite Russlands und der damaligen Sowjetrepubliken diesem Konflikt ausgesetzt. Unendliche Strecken legten wir zurück, die aneinandergereiht eine Erdumrundung ergeben würden, doch am Ende trieb es uns mit aller Macht nach Hause. Wir erinnern uns an einen Augenblick der Rückkehr, als wir im Oktober 1980 die Union über die Waldkarpaten verließen und Renate nachdenklich feststellte: „Gulliver mag sich so gefühlt haben, als er aus dem Land der Riesen ins Land der Zwerge kam!"
„Ja, du hast Recht! Die Berge werden kleiner, die Hügel verkümmern, die Steppen und Wälder verlieren ihre unendliche Ausdehnung, schmaler werden die Straßen und enger die Gassen, Felder schrumpfen wie Leinentücher nach einer heißen Wäsche!"
Etwas nachdenklich setzte Renate ihren Gedankengang fort: „Wie schwierig muss es doch sein, dieses riesige Land zu regieren und eine gehörige Ordnung darin durchzusetzen?"
Inzwischen sind unsere Erlebnisse - nach rund vierzig Jahren! - schon von historischer Bedeutung. Es war uns möglich, unbehindert die Grenzen der Sowjetrepubliken zu überschreiten, mit einer Ausnahme – beim Übergang von Georgien nach Armenien – ohne jeden Schlagbaum, ohne kriegerische Unruhen und Spannungen. In den Jahrzehnten seitdem wäre das nicht möglich gewesen und ist es immer noch nicht.
Was das Buch interessant macht, wäre in der DDR sicher nicht veröffentlicht worden. Es gab dafür mehrere Gründe: Die Reisen waren kontingentiert, nur möglich mit Antrag und Genehmigung der Betriebsgewerkschaftsleitung, - bei langwieriger und umständlicher Überprüfung der Personalien. Und es gab nur ein eng begrenztes Limit für Reisen der Autotouristik. Man war in der Sowjetunion sicher mehr an Besucher aus den Ländern des Westens und aus Japan interessiert. Auch war die Möglichkeit solcher Fahrten in der DDR fast unbekannt, da keine Werbung auf sie aufmerksam machte. Nicht zu vergessen sei auch eine gewisse Voreingenommenheit der breiten Bevölkerung gegen die unbequemen und mit einigem Risiko behafteten Fahrten als Individualtourist. Es gab die allgemein verbreitete - richtige, doch stark negativ interpretierte - Auffassung: „Da muss man ja nur vorgegebene Strecken fahren!" Sicher führte auch die formale Übertreibung des Freundschaftsgedankens zur Sowjetunion zu einer gewissen Skepsis.
Heute jedoch erscheint es uns interessant, auf die alten Notizen zurückzugreifen. Das Interesse für Russland ist gewachsen. Es gibt viele Journalisten, die das Land bereisen und in den verschiedenen Medien über Russland berichten. So mag sich in der öffentlichen Wahrnehmung des russischen Volkes und seiner Geschichte einiges verändert haben.
Deshalb haben auch wir uns entschlossen, unsere Notizen und Bilder aufzubereiten und über unsere Autotouristikreisen in der ehemaligen Sowjetunion zu berichten. Wir überspannen mit unserem Buch, wenn auch nicht chronologisch, einen großen historischen Bogen von eineinhalb Jahrtausenden: von Rjurik, dem sagenhaften Begründer Nowgorods, über Iwan den Schrecklichen, der die Tartaren besiegte, bis zu Peter dem Ersten, Katharina der Großen, Napoleons Russlandfeldzug, und die Zeit vor und nach der Oktoberrevolution.
Die Fotos sind während unserer Fahrten als Diapositive aufgenommen worden, später wurden sie eingescannt und einer digitalen Bearbeitung unterzogen. Das macht ihre geringe Qualität im Vergleich zum Stand der heutigen Fotografie verständlich. Wegen ihres jeweils typischen Inhaltes haben wir uns entschlossen, auch einige weniger gute Aufnahmen in das Buch aufzunehmen.
Renate ist mit ihren Tagebuchnotizen, ihren Erinnerungen, Ideen, und mit der abschließenden Korrektur an diesem Buch beteiligt. So ist die Fassung des Buches vorwiegend aus der Sicht des Ich-Erzählers zu verstehen.
Ziemlich verrücktes Vorhaben
Das war die Meinung vieler Menschen, denen wir von den Vorbereitungen für unsere Autoreise in die Sowjetunion im Jahre 1978 erzählten: „Ihr ahnt ja nicht, was da auf Euch zukommt: schlammige Wege, primitive Unterkünfte, Risiken mit dem Fahrzeug auf den unendlichen Straßen des Landes, dazu die Vorschriften, die ununterbrochene Aufsicht und Kontrolle durch die Sowjets. Täglich sind nur 500 Kilometer erlaubt, und keine Abstecher von der Hauptstrecke sind zugelassen. Alle paar Kilometer stehen an der Strecke die rundum verglasten Kontrollbaracken der Verkehrspolizei, hinter denen sie Euch schon von weitem mit dem Fernglas ins Auge fassen."
Renate und ich ignorierten diese Warnungen. Zu unserem Glück, sonst könnten wir nicht auf eine unendlich schöne Etappe unseres Lebens, in den Jahren 1979 bis 1989, zurückblicken.
Die täglich 500 Kilometer Fahrstrecke nahmen wir schon bei der Planung nicht als Reglementierung, auch nicht die GAI-Posten der Verkehrspolizei an den Überlandstraßen, sondern als Sicherheitsmaßnahme zu unserem Vorteil. Unterwegs, auf der Strecke, in der Weite des Landes, kann unendlich viel geschehen, ob nun ein Unfall, eine verpasste Tankstelle, ein Steinschlag, eine Landung im Schlammloch oder ein übles Delikt. Kämen wir nicht planmäßig im nächsten Hotel oder Motel an, dann würde man nach uns suchen. So empfanden wir auch diese Posten als einen wichtigen Teil dieses Systems, und wir haben uns durch sie nie unzumutbar beaufsichtigt, sondern immer relativ sicher gefühlt. Und selbstverständlich sind wir immer davon ausgegangen, dass wir die Gesetze, Regeln und Gewohnheiten in dem Lande, das wir besuchen, zu achten und zu beachten haben. Doch um der Wahrheit die Ehre zu geben: Nicht immer haben wir dieses eigentlich selbstverständliche Prinzip bei den Fahrten durch die Weite des Landes beachtet, vor allem nicht, was die vorgegebenen Fahrtrouten betrifft.
Abbildung 1: GAI-Posten an einer Autostraße in der Ukraine.
Von den sogenannten GAIs hatte man uns vor unseren ausgedehnten Fahrten durch die Sowjetunion unglaubliche Geschichten erzählt. Sie würden in ihren Kanzeln am Schreibtisch hocken, mit dem Feldstecher jedes sich nähernde ausländische Fahrzeug aufmerksam fixieren, dessen Kennzeichen notieren und dem nächsten Posten weitermelden. Auf den Fahrstrecken in der Sowjetunion haben wir sicher einige Hunderte von GAIs passiert, jedoch nie deutete ein Anzeichen darauf hin, dass uns eine außergewöhnliche Aufmerksamkeit geschenkt worden wäre. Wie in allen Berufsgruppen gab es auch unter ihnen solche, die schlafend am Schreibtisch ihrer Kanzel hockten, sich mit irgendjemandem unterhielten oder sich anderweitig beschäftigten. Natürlich erlebten wir auch solche, die ihre dienstlichen Obliegenheiten ernst nahmen, unsere Fahrt aufmerksam verfolgten und vielleicht auch das Kennzeichen notierten. Angehalten und kontrolliert wurden wir insgesamt nur zwei oder drei Mal, nur einmal hatten wir größere Schwierigkeiten.
Im Sommer 1982, unterwegs von Moskau nach Wladimir, wurden wir bei Elektrostal, noch im Moskauer Bezirk, von einem GAI-Posten gestoppt und kontrolliert. Unangenehm war das insofern, weil wir wenige Tage vor der Abreise auf unseren havarierten LADA hatten verzichten müssen. Er war noch in unseren Unterlagen vermerkt, doch wir fuhren einen geliehenen Moskvich. Dieser Widerspruch fiel natürlich dem kontrollierenden Offizier auf. Er begab sich mit den Unterlagen in seine Hütte und führte ein Telefongespräch, vermutlich mit der Grenzstation Brest. Dort hatte man bei der Einreise unsere Papiere kontrolliert und den Widerspruch in den Reiseunterlagen geklärt. Eine knappe halbe Stunde verging, bis wir den Posten verlassen und weiterfahren durften.
Abbildung 2: Landesmarke am ehemaligen Grenzübergang der Sowjetrepubliken Ukraine und Moldawien.
Die Verkehrspolizisten an den Überlandstraßen waren in Abständen von etwa zehn bis fünfzig Kilometern, in Hochständen am Straßenrand, stationiert, meist an Plätzen, die einen weiträumigen Überblick über den Straßenverlauf in beide Richtungen gestatteten. Mehrere zwei bis drei Meter hohe Pfeiler trugen eine geschlossene Kanzel, deren vorderer Teil, zur Straße hin, nach drei Seiten verglast war. Die hintere Kanzelhälfte bildete meist einen kleinen abgeschlossenen Raum. Die Bezeichnung für diese Ordnungshüter war übernommen von der Benennung ihrer übergeordneten staatlichen Einrichtung. GAI (ГАИ) war die Abkürzung der Staatlichen Autoinspektion, einem Organ des Ministeriums für Innere Angelegenheiten der Sowjetunion, das für die Sicherheit des Straßenverkehrs verantwortlich war.
Am Rande der Überlandstraßen in Russland sind GAI-Posten noch immer präsent, ebenso in der Ukraine und in Weißrussland. Hier blieb die alte Abkürzung ГАИ
als Begriff ebenfalls erhalten. In Kasachstan wurde die Verkehrspolizei in eine Reisepolizei
umgebildet. In den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, jetzt souveräne Staaten, existieren GAIs in der ehemaligen Form nicht mehr.
Anfang September 1980 führte unsere Fahrt einige Kilometer am Prut entlang. Etwa 40 Kilometer hinter Tschernowzy, in der Ukraine, wurde die Grenze zu Moldawien durch einen riesigen Schriftzug auf einem Betonsockel angekündigt. Unmittelbar rechts verlief in etwa 500 Metern die Grenze zu Rumänien. Hier, am Dreiländereck, hatte ein GAI-Posten seinen festen Platz.
Mir kam plötzlich eine ganz verrückte Idee: Wenn ich hier fotografieren wollte? Was würde geschehen? Noch nie hatte ich mich getraut, an einer GAI-Hütte anzuhalten und Bilder zu machen.
Etwa fünfhundert Meter, bevor wir die Kanzel erreichten, hielt ich am rechten Straßenrand, auf dem Sommerweg, an. Zu Renate gewandt, meinte ich: Bitte steige doch mal kurz aus und laufe in Richtung GAI-Hütte, während ich hier ein oder zwei Bilder mache. Verwickle den Mann in ein Gespräch, meinetwegen frage ihn auch, ob wir ein Foto machen dürfen!
Alles verlief wie vorausgesehen: Der Polizist kam Renate entgegen. Die beiden trafen sich auf halbem Wege und unterhielten sich, während ich die GAI-Station - etwas heimlich und verdeckt - fotografierte.
Abbildung 3: Achtunggebietendes Denkmal eines Autowracks am Straßenrand.
Und das waren Renates Worte, als sie zurückkam: Also, wir sind hier an der rumänischen Grenze und dürfen auf keinen Fall fotografieren, meinte der GAI. Ansonsten war er sehr freundlich und zuvorkommend. Als ich ihm erzählte, wir würden noch bis Kiew fahren und dann nach Mittelasien fliegen, blieb ihm vor Erstaunen der Mund offen stehen. Voller Hochachtung wünschte er uns alles Glück dieser Welt für unsere Reise!
Auf diese Weise kam ich in strengsten Sowjetzeiten zum Bild einer GAI-Station an einem ganz kritischen Standort, unmittelbar am Dreiländereck Ukraine-Moldawien-Rumänien. Ebenso zu einem Foto des Betonblocks mit der Kennzeichnung des Grenzüberganges von der Ukraine nach Moldawien.
Ein anderes Mal sind wir unterwegs auf der scheinbar ins Unendliche führenden dreispurigen Chaussee zwischen Charkow und Rostow/Don. Rechts und links der Straße, ungehindert von irgendwelchen Bäumen, breitet sich vor unseren Augen die unendliche Steppe des Donezk Gebietes aus. Schnurgerade aufgereihte Baumgürtel, als Schutz für den fruchtbaren Erdboden gegen die erodierenden Steppenwinde, unterbrechen die bis zum Horizont überschaubare Ebene. Ab und zu zweigt ein schmaler, ungepflasterter Fahrweg ab in die grenzenlose Weite, seltener eine roh betonierte Landstraße. Oft lassen sich diese Wege als schmale Streifen bis zu den weiß gekalkten Häusern und Ställen eines Dorfes verfolgen. Malerisch liegt es eingebettet zwischen den sanften Hügeln der Steppe.
Renate, auf dem Beifahrersitz, schaut mich so merkwürdig an. Ich kenne diesen Blick. Unwillkürlich kontrolliere ich den Tacho. Er zeigt mir eine Geschwindigkeit von 120 Kilometern in der Stunde. Das ist viel, - zu viel in der Sowjetunion.
Schon wenige Kilometer danach, kurz vor Artemowsk, nähere ich mich einem Lastkraftwagen, beladen mit allen möglichen und unmöglichen Gegenständen: Kisten, Rollen, Bretter, eiserne Kohleöfen und zerschlissenes Mobiliar. Auf der Ladefläche ein wüstes Durcheinander, kreuz und quer, ohne Ordnung, ohne Regeln, ohne Sicherheit, wie man das häufig auf den Überlandstraßen der Sowjetunion erlebt. Dabei ist der Anteil von Lastwagen im Vergleich zu den PKWs auf diesen Straßen besonders hoch.
Wieder einmal vernehme ich Renates schon oft wiederholten Seufzer: „Ich kann keine LKWs mehr sehen!"
Sie erinnert sich an einen fürchterlichen Unfall bei unserer ersten Einreise in die Sowjetunion. Damals war eine gewaltige Rolle Druckereipapier vor uns auf der Landstraße von der Ladefläche eines Hängers gepurzelt und hatte den Lada vor uns samt Fahrer und Beifahrer plattgewalzt. Seither habe ich mir angewöhnt, diese übel beladenen Lastwagen in rasendem Tempo zu überholen, mit einer Beschleunigung, die mein Fahrzeug gerade noch hergibt.
Abbildung 4: Autostraße und Landschaft zwischen Minsk und Smolensk.
Auch diesmal wieder nähere ich mich rasch einem mit allerlei Eisenteilen beladenen Laster, der sich merkbar schwerfällig die ansteigende Straße aufwärts schleppt. Von oben ist noch kein Gegenverkehr in Sicht, und so überhole ich mit etwa 110 Stundenkilometern den hoch beladenen Straßenkreuzer.
Im Kopf immer noch das Bild eines von gewaltigen Druckpapierrollen plattgewalzten Lada, bin ich froh, wieder einmal so glatt vorbei- und davongekommen zu sein, als ich oben von einem GAI mit erhobener Kelle abgestoppt werde. Er hatte meinen Überholvorgang am Berg beobachtet, war aus seiner Kanzel gestiegen und erwartet nun den Verkehrssünder.
Was ich bisher auf den vielen tausend Kilometern sowjetischer Autostraßen erlebt und von den einheimischen Fahrgewohnheiten gelernt hatte, war Folgendes: GAI
ist ein Zauberwort, es macht die wildesten Fahrer urplötzlich sanft und friedlich. Kaum erblicken sie in der Ferne, am Straßenrand, eine GAI-Hütte, schon drosseln sie ihre Geschwindigkeit und schlängeln sich in langsamer Kolonne am Hochstand vorbei. Dieser Respekt vor dem GAI ist auch mir gewissermaßen spontan und automatisch in Fleisch und Blut übergegangen. Ich bin also nun, während ich aussteige, innerlich gar nicht so locker und unbefangen, wie ich erscheinen mag.
Der GAI ist etwas überrascht vom deutschen Autokennzeichen am russischen Lada. Ich habe den Eindruck, dass sich in dieser Überraschung eine gewisse Spannung auflöst und zunehmender Freundlichkeit Platz macht. Ich hüte mich also, auf dieses Entgegenkommen nicht einzugehen. So bleibt es zum Glück bei einer Ermahnung, ohne dass ich zur Kasse gebeten werde. Das würde unserem knappen Vorrat an Rubeln sicher auch nicht gut bekommen.
Ich vermute, dieser uniformierte Vertreter der Sowjetmacht ist eher begierig zu erfahren, wer ihm da aus dem Lada entgegen kommt, als dass er seiner Dienstpflicht formal genügen möchte. So weist er mich auch nicht mit aller Strenge auf mein Vergehen, das Überholmanöver am Berg bei zu hoher Geschwindigkeit, hin, sondern ermahnt mich wohlwollend und gestenreich, - so, als wolle er sich mit mir in ein freundschaftliches Gespräch einlassen. Ich erspare mir also die schon zurechtgelegte selbstkritische und kleinlaute Entgegnung in lückenhaftem Russisch und beantworte seine aufgeräumten Fragen nach dem Woher
und Wohin
.
Ganz aus dem Häuschen ist der Mann, als ich ihm eröffne, wir sind aus Dresden. Ich habe in der Dresdner Division gedient
, ruft er freudestrahlend, am Weißen Hirsch war ich stationiert!
Abbildung 5: Streckenübersicht der zugelassenen Routen für die Autotouristik in der damaligen Sowjetunion
Als wir uns verabschieden, lenkt er noch einmal meine Aufmerksamkeit auf ein gewaltiges Schild am Straßenrand: Ein Bild mit Kindern in Überlebensgröße ist zu erblicken, warnend ruft eines der Kinder: Papa, bitte denk an uns!
Beim Anblick der riesigen Hinweistafel fällt mir ein anderes Bildwerk ein, das wir erst vor wenigen Stunden passiert hatten. Da stand eine natürliche technische Skulptur am Rande der Straße, ein zertrümmerter Lada auf hohem eisernem Podest, darunter in fetten Buchstaben der Hinweis: РЕЗУЛТАТ ПРЕВЫШЕНИЯ СКОРОСТИ И НАРУШЕНИЙ ПРАВИЛ ОБГОНА: УБИТО 4, РАНЕНО 2
- Ergebnis überhöhter Geschwindigkeit und eines Verstoßes gegen die Überholvorschriften: 4 Tote, 2 Verletzte!
Drastischer und praxisbezogener kann man es einem Kraftfahrer am Straßenrand nicht deutlich machen, mit welchen Folgen er bei undiszipliniertem Fahren zu rechnen hat.
Standard- oder Sonderprogramm
Es war in der DDR nicht ganz so einfach, eine Urlaubsreise zu buchen, wie wir sie uns vorgestellt haben. Fast ein Jahr zuvor musste sie beim Reisebüro über die Gewerkschaftsleitung des Betriebes beantragt werden. Man schwankte über viele Monate in der Unsicherheit, ob der Bescheid positiv ausfallen würde. Vor den Reisen waren wir fast ein Jahr lang im Reisefieber, immer im Zwiespalt zwischen freudiger Erwartung und ärgerlichem Fatalismus. Und tastsächlich mussten wir es erleben, dass uns auch eine Reise abgeschlagen wurde.
Erst wenige Wochen war es 1986 her, dass wir wieder zu Hause angekommen waren, und schon lag vor uns das Formblatt eines Antrages mit der Überschrift: „Bestellung einer Sonderreise außerhalb des vorliegenden Standardprogramms".
Bereits im Oktober mussten wir unser Vorhaben über die Gewerkschaft beim Dresdner Reisebüro anmelden. Nachdem man uns das Bestellformular übergeben hatte, sind wir am 20. November 1986 dabei, die neue Tour für den August 1987 zu beantragen, ein Dreivierteljahr vor Reisebeginn.
Abbildung 6: Übersicht des nicht genehmigten Streckenantrages 1987.
Seit langem haben wir es aufgegeben, uns über die endlosen Vorlaufzeiten zu wundern oder uns gar zu echauffieren. Wir trösten uns mit dem Gedanken, so hätten wir reichlich Gelegenheit, die Vorfreude auszukosten und unsere großartigen Erinnerungen mit dem zu Erwartenden zu verknüpfen. In den vorangegangenen Jahren legten wir in der Sowjetunion eine Strecke zurück, die nahezu einer Erdumrundung entspricht. Meist waren wir mit dem Auto unterwegs und hatten von den Zwischenstationen im Lande aus Abstecher mit Flugzeug, Schiff oder Eisenbahn unternommen. Nach der ersten großen Reise 1978 durch die unendliche Weite des Landes zog es uns immer wieder dorthin. Jährlich bis zu fünf Wochen tourten wir über die Landstraßen, doch am Ende zog es uns immer wieder mit aller Ungeduld heim. Jeder Reisende kennt das besondere Gefühl, wenn es nach vielen einzigartigen Erlebnissen wieder heimwärts geht.
Im Herbst 1987 sitzen wir wieder einmal vor den Antragsunterlagen des Reisebüros. Wo soll es hingehen? Aserbeidschan, Dagestan und das Kaspische Meer kennen wir noch nicht, und den Kaukasus wollen wir unbedingt noch einmal besuchen. Mit Begeisterung erinnern wir uns an die Tour von 1978. Acht Jahre sind seitdem vergangen, und wieder zieht es uns mit Macht zur grusinischen Heerstraße, über den Kreuzpass, nach Ossetien, in die Kolchis und zur Kaukasischen Riviera. Die Planung ist nicht kompliziert, wir müssen nur ein Sonderprogramm beantragen, das die Autotour über den Kaukasusring mit den Flugstrecken nach Baku und Machatschkala kombiniert.
Doch würde man uns die Reise genehmigen? Ich bin skeptisch, hatten wir doch schon in den vorangegangenen Jahren zweimal eine Absage bekommen. Die Gründe glaube ich zu ahnen: Es ist unsere Weigerung, die Kosten für eine durch das sowjetische Reisebüro INTOURIST verschuldete Abweichung von der vertraglich vereinbarten 82er Tour nachzuzahlen. Doch hoffen wir immer noch auf eine Zusage, immerhin hatten wir unseren Antrag über die Betriebsgewerkschaftsleitung der Arbeitsstelle an das Reisebüro weitergeleitet. Wir verweigern uns einfach dem Gedanken, dass wir ein Leben lang wegen eines begründeten Einspruches von allen Autoreisen durch die Union ausgeschlossen würden.
Ungeduldig warten wir auf Antwort. Monate vergehen, bis endlich gegen Anfang Februar ein angekreuzter Kartenvordruck im Briefkasten liegt: „Bestellung Sonderprogramm nicht möglich!" Dazu keine Begründung, kein Bedauern, kein Ausweichangebot. Die Enttäuschung ist groß.
Abbildung 7: Absage des Reiseantrages 1987 durch das Reisebüro der DDR.
Im Sommer 1989 versuchen wir es noch einmal. Diesmal handelt es sich um einen Ferienaustausch von Angehörigen zweier Fachschulen, die eine in Piatigorsk, die andere in Dresden. Ich stehe vor dem Schalter im Polizeilichen Meldeamt, unmittelbar vor mir ein junger Kollege. Er übergibt der Angestellten seinen Antrag. Die junge Frau nimmt ihn entgegen und geht in den rückwärtigen Teil des Raumes. In einem Riesenschrank sucht sie nach einer Karteikarte, zieht sie heraus, wirft einen Blick darauf und stellt unverzüglich das Visum aus.
Nur Minuten dauert es, bis der Mann seine Reisegenehmigung in Händen hält, dann bin ich an der Reihe: Die Frau nimmt meine Unterlagen, geht zum Karteischrank und zieht meine Karte. Sie schaut sie an, steckt sie wieder zurück, legt meine Unterlagen zur Seite und