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Europas wilder Osten: Reisen durch Serbien, Bulgarien, Rumänien, Moldawien und die Ukraine
Europas wilder Osten: Reisen durch Serbien, Bulgarien, Rumänien, Moldawien und die Ukraine
Europas wilder Osten: Reisen durch Serbien, Bulgarien, Rumänien, Moldawien und die Ukraine
eBook374 Seiten3 Stunden

Europas wilder Osten: Reisen durch Serbien, Bulgarien, Rumänien, Moldawien und die Ukraine

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Über dieses E-Book

Es gibt einen Teil Europas, der durch die Verwüstungen der Geschichte in besonderer Weise betroffen wurde, ohne dass die Fortschritte der Moderne bereits Platz gegriffen hätten. Diesen Teil Europas bezeichnet der Autor als den "wilden Osten Europas". "Wild" ist dieser Osten nicht, weil er unkultiviert wäre, sondern weil der schmerzhafte Prozess der nachsowjetischen Transformation die Menschen dieser Region einem Stress ausgesetzt hat, wie er im Westen seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr empfunden wurde. Ludwig Witzani ist auf einer selbstorganisierten Reise mit Eisenbahnen, Bussen und eigenem Fahrzeug kreuz quer durch Serbien, Bulgarien, Rumänien, Moldawien und die Ukraine gereist und ist auf Spuren großer Geschichte, aber auch auf eine existentielle Dürftigkeit getroffen, wie sie in anderen Teilen Europas seit hundert Jahren überwunden ist. Der Autor war in Belgrad, Sofia, Bukarest, in Czernowitz und Lemberg, in Chişinău, auf der Krim und in Kiew und begegnete einem urwüchsigen Willen zur Neugestaltung, aber auch einer viel intensiveren Verklammerung von Alltag und Religion, von Nation und Identität, aber auch einer erschreckenden Korruption. In Gestalt sehr persönlicher, geschichtlich immer wieder vertiefter Zugänge wird ein Weltteil sichtbar, der sich darauf vorbereitet, "nach Europa zurückzukehren."
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum28. Aug. 2020
ISBN9783752990478
Europas wilder Osten: Reisen durch Serbien, Bulgarien, Rumänien, Moldawien und die Ukraine

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    Buchvorschau

    Europas wilder Osten - Ludwig Witzani

    Ludwig Witzani

    Europas wilder Osten

    Reisen durch Serbien,

    Bulgarien, Rumänien,

    Moldawien und die Ukraine

    (Weltreisen Band XII)

    Titel

    Impressum

    Europas wilder Osten

    Ludwig Witzani

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    Copyright: © 2020 Europas wilder Osten

    Lektorat: Michael Hoppe, Köln

    Konvertierung: sabine abels, Hamburg

    Inhaltsverzeichnis

    Einleitung: Europas wilder Osten

    Vorspiel: Große Männer in kleinen Autos

    Serbische Ouvertüre

    BULGARIEN

    Die Pistole im Handschuhfach

    Sofia als urbane Collage

    Mit den Massen am Meer

    Die bulgarische Schwarzmeerküste

    Von einer Fremdherrschaft in die nächste

    Späte Blüten in Veliko Tarnovo und Russe

    RUMÄNIEN

    Die Stadt, in der die Revolution ausbrach

    In Temeswar, der Hauptstadt des Banat

    Der wahre Dracula

    Mit Vollgas durch die Walachei

    Vom Nebeneinander des Ungleichzeitigen

    Bukarest nach Ceausescu

    Zankapfel der Völker

    Siebenbürgen zwischen Kronstadt und Klausenburg

    Der rumänische Gulag

    Sigheti Marmației im Maramureșgebirge

    Die Bilderbücher Moldawiens

    Ein Abstecher zu den Moldauklöstern

    Wo Europa zu Ende ist

    Constanța und das Donaudelta

    Zwischenspiel: Die Reise nach Odessa

    UKRAINE

    Die berühmteste Treppe der Welt

    Ein Tag in Odessa

    Russlands Traum vom südlichen Meer

    Jalta zwischen Pracht und Verfall

    Wladimir und die Schwarzmeerflotte

    Geschichtliche Streifzüge durch Sewastopol

    Der Tränenbrunnen von Bakhchisaray

    Ein Ausflug zu den Krimtataren

    Weltstadt am Dnjepr

    Kiew im Schnittpunkt der Zeiten

    Exkurs 1: Die Nestorchronik

    Exkurs 2: Die orangene Revolution und der Euromaidan

    Exkurs 3: Der Holodomor

    Die Perle Galiziens

    Spaziergänge durch Lemberg

    Unterwegs mit dem Marushki

    Auf der Suche nach Galizien

    Exkurs 4: Die Mitte Europas

    Welthaupstadt der Melancholie

    Czernowitz im Daueregen

    MOLDAWIEN

    Pingpongball der Geschichte

    Die moldawische Hauptstadt Chișinău

    Der höchste Lenin der Welt

    Sowjetkult in Transnistrien

    Nachspiel: Was bleibt?

    Ein Rückblick

    Anhang

    Reisehinweise

    Ausgewählte Literatur

    Fotonachweis

    Über den Autor

    Weitere Veröffentlichungen von Lundwig Witzani

    Titel

    für Andreas Fuhrmann,

    den Freund

    und Reisebegleiter

    EINLEITUNG

    Europas wilder Osten

    „Was ist Osteuropa?" fragen viele und wissen es nicht.

    Ich weiß es auch nicht, glaube aber daran, dass es mindestens zwei Osteuropas gibt. Ein Osteuropa, das kein Osteuropa sein will, und eines, das in diesem Buch als der „wilde Osten" beschrieben wird. Das bedarf natürlich einer Begründung.

    Zum europäischen Osten, der gar kein Osten sein will, gehören Polen, das Baltikum, Tschechien, die Slowakei, Slowenien, Kroatien und Ungarn. Diese Länder beanspruchen, was Lage und kulturelle Traditionen betrifft, zur geografischen und zivilisatorischen „Mitte" Europas zu gehören.

    Ganz anders verhält es sich mit dem so genannten „wilden Osten". Dazu gehören nicht nur Bulgarien, Rumänien, Moldawien und die Ukraine, die in diesem Reisebuch beschrieben werden, sondern auch Serbien, Bosnien, Albanien, Mazedonien und Montenegro. Russland und Weißrussland sind noch einmal eine ganz andere Hausnummer.

    Was aber soll an diesem Osten „wild sein? Als der Herzog von Richelieu im Jahre 1774 die Bukowina bereiste, notierte er pikiert, „dass hier Europa zu Ende sei, weil Sitten und Gebräuche viel mehr Ähnlichkeit mit dem Orient hätten als mit Europa.

    Ist das gemeint? Ist der „wilde Osten" ein zurückgebliebener Teil Europas, in dem das Ungezügelte und Ungeformte alter Zeiten so stark nachwirken, dass sie den Durchbruch der Moderne behindern?

    Dreimal nein. Der wilde Osten kann zwar auf eine durchaus „wilde" Geschichte zurückblicken, in der serbische Haiducken, montenegrinische Tschetniks, rumänische Vlachen oder ukrainischen Kosaken ihren turbulenten Auftritt hatten, aber er besitzt auch jahrhundertealte religiöse und kulturelle Traditionen, die der Kommunismus nur verschüttet, aber nicht beseitigt hat.

    „Wild ist der Osten vielmehr aus zwei anderen Gründen. Erstens, weil er sich in einem nicht vollständig steuerbaren Prozess der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformation befindet, den man aus einer gewissen Perspektive durchaus als „wild bezeichnen könnte. Um die Erfahrungen dieses Umbruchs wird niemand die Menschen dieser Region beneiden. Die radikale Eingliederung in die globalisierte Arbeitsteilung hat die einheimischen Industrien weitgehend zerschlagen, ohne dass genügend Geld ins Land gekommen wäre, um zukunftsträchtige Wachstumsbranchen aufzubauen. In den ersten zehn Jahren nach der revolutionären Wende von 1989ff. sind die Einkommen der Serben, Bulgaren, Rumänen, Ukrainer und Moldawier um durchschnittlich ein Drittel abgestürzt, stellenweise sogar noch mehr. Aus dieser Massenverarmung, die die Freiheit mit sich brachte, rappeln sich die Länder Südosteuropas inzwischen wieder auf, gestützt durch einen viel stabileren religiösen Halt, als er im Westen existiert, immer wieder aber auch gehandicapt von ethnischen Konflikten, politischer Korruption und Wirtschaftskrisen.

    Umso erstaunlicher ist das, was es dreißig Jahre nach dem Untergang des Kommunismus schon wieder zu sehen gibt. Bukarest und Sofia, selbst Czernowitz und vor allem Kiew und Lemberg sind aus ihrem kommunistischen Kälteschlaf und der marktwirtschaftlichen Schocktherapie erwacht. Wer durch die Straßen dieser Metropolen geht, spürt einen Geist des Aufbruchs, der auch Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei nach der Wende prägte und diese Länder inzwischen aus dem Gröbsten herausgeführt hat. Möglich, dass viele der älteren Menschen, denen der Kommunismus das Leben zerstörte, inzwischen zu alt geworden sind, um mit der neuen Freiheit noch etwas anfangen zu können. Aber die jungen und die mittleren Jahrgänge scheinen ihre Chance zu ergreifen und ernsthaft zu versuchen, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. „Wild" in diesem Sinne möchte ich die Entschlossenheit vieler Menschen nennen, aus der Unterentwicklung herauszukommen und zum Wohlstand des Westens aufzuschließen. Das ist in dieser Allgemeinheit natürlich sehr großes Karo, hunderttausendfach individuell gebrochen und variiert, aber die Richtung dürfte stimmen.

    Vor gut zehn Jahren bin ich durch den Osten, der kein Osten mehr sein will, gereist und habe versucht zu verstehen, was in Polen und in den baltischen Staaten vor sich ging. („Die kleine Posaune der Freiheit", Weltreisen Band IV). Jetzt war ich in Serbien, Bulgarien, Rumänien, Moldawien und der Ukraine unterwegs und habe mich in diesen Ländern umgeschaut. Mein Antrieb war die Neugierde, mein Spielfeld der Raum und die Geschichte, und der Ertrag war nicht anders als der Ertrag aller Reisen: die Hoffnung auf eine vertieftes Verständnis der Welt und die Bereicherung, die die Begegnung mit der Fremde mit sich bringt. Es muss nicht besonders erwähnt werden, dass die Urteile und Blickwinkel, die in diesem Buch zur Sprache kommen, so subjektiv sind wie Reiseerfahrungen oder Leseeindrücke nur sein können. Vieles von dem, was ich erwartete, habe ich auch so angetroffen. Aber noch viel mehr war auch ganz anders. Davon erzählt dieses Buch.

    Titel

    Erbeutetes Kriegsgerät in der Zitadelle von Belgrad

    VORSPIEL:

    Große Männer in kleinen Autos

    Serbische Ouvertüre

    Der Zug fuhr durch weiteres, ebenes Land. Wir passierten, Weinfelder, Sickergruben und kleine Dörfer, in denen die Kirchtürme wie widerspenstige Wächter das Land überragten. Auf den Bahnsteigen roch es nach Kohl. Die Frauen wirkten resolut, und die Grenzbeamten marschierten durch den Zug wie eine Schwadron Texas Rangers. Sie waren kurzgeschoren, völlig ohrenfrei, und freundlich, als wunderten sie sich darüber, dass Mitteleuropäer ihr umstrittenes Land besuchten.

    Viele Touristen waren es nicht, die in diesem Zug von Budapest nach Belgrad reisten, denn seien wir ehrlich: Serbien besitzt keinen besonders guten Ruf in Europa. Nicht wenige betrachten die Serben auf dem Balkan als das, was die Deutschen lange Zeit in Europa waren: als die Spitzbuben der Völkergemeinschaft, die immer nur Kriege anzetteln und ihre Nachbarn nicht in Ruhe lassen wollen. Die Balkankriege und der Kosovokonflikt hatten die Serben einmal mehr an den Schandpfahl der Welt genagelt, was mir ungerecht vorkam, weil jeder, der sich auch nur ein wenig mit den Einzelheiten dieser Konflikte beschäftigte, entdecken musste, dass Gut und Böse bei weitem nicht so säuberlich getrennt waren, wie es die öffentliche Meinung vorgab.

    Nach dem Grenzübertritt durchquerte der Zug die Wojwodina, einen flachen und extrem fruchtbaren Teil der pannonischen Tiefebene. Raps, Sonnenblumen, Getreide- und Gemüsefelder, soweit das Auge reichte. Im jugoslawischen Vielvölkerstaat war die Wojwodina eine autonome Region Serbiens mit einem hohen ungarischen und kroatischen Bevölkerungsanteil gewesen. Die deutsche Bevölkerung, die als Donauschwaben zum Teil jahrhundertelang in diesem Gebiet ansässig gewesen war, hatte man schon nach dem Zweiten Weltkrieg entrechtet, ermordet oder vertrieben. Auch ein blutiges Kapitel der Weltgeschichte, über das niemand mehr spricht.

    Bei Novi Sad wurden Berge sichtbar. Langsam durchfuhr der Zug die zweitgrößte Stadt Serbiens. Unbefestigte, halb überwachsene Uferpfade, Eckensteher, schrottreife Autos vor der Ampel. Nichts deutete heute noch darauf hin, dass in der Gegend von Novi Sad, die Geschichte des Balkans „gekippt" war. Die österreichischen Truppen unter der Führung von Prinz Eugen hatten 1697 die Türken in der Schlacht von Zenta vernichtend geschlagen und die Donaufestung von Peterwardein gegründet, aus der später die Stadt Neusatz (serbisch Novi Sad) entstehen sollte. Als die Türken fast zwanzig Jahre später noch einmal an der Donau erschienen, wurden sie 1716 in der Schlacht von Peterwardein wieder besiegt. Ihre Zeit war abgelaufen, die türkische Dünung, die fast ein halbes Jahrtausend die christlichen Völker des Balkans überspült hatte, war rückläufig.

    Bald lag Novi Sad hinter uns, und der Zug nahm Kurs auf Belgrad. In gemächlicher Geschwindigkeit schlängelte er sich durch eine verbuschte Landschaft mit winzigen Weilern neben Tümpeln und Teichen. Im Regen erreichten wir schließlich die serbische Hauptstadt Belgrad, zuerst die Trabantenstädte von Novi Beograd, dann die Innenstadt.

    Es ist immer ein spannender Moment, zum ersten Mal den Bahnhof einer fremden Stadt zu betreten. Es ist wie der erste Händedruck mit einem fremden Menschen, der einen dauerhaften Eindruck hinterlässt. Auf dem Bahnhof von Belgrad spürte ich nichts. Die große Halle lag in Dämmerlicht, vor winzigen Schaltern standen die Leute nach Fahrkarten an. Ohne Probleme gelang es mir, ein Schlafwagenticket für die Weitereise nach Sofia zu reservieren. Dann mietete ich mich ins „Hotel Beograd" ein, einem alten, abgewohnten sozialistischen Bums, vollkommen überteuert, aber immerhin mit funktionierenden Duschen ausgestattet.

    Auf meinen Studentenreisen nach Griechenland war ich auf dem sogenannten „Auto-Put" immer nur mit dem Bleifuß auf dem Gaspedal an Belgrad vorbeigerauscht. Graue Betonklötze oberhalb der Unterführungen war das einzige gewesen, was ich von Belgrad gesehen hatte. Was mochte diese Stadt zu bieten haben, hatte ich oft gedacht. Diesmal sah ich es, und was ich sah, war wenig erbaulich. In der Umgebung des Bahnhofs standen zweifelhafte Gestalten neben heruntergekommenen Hotels mit unverschämten Preisen. Männer und Frauen besaßen die harten Gesichter von Menschen, die ihr Leben lang gezwungen gewesen waren, unter dem Diktat der Knappheit ihre Ellenbogen einzusetzen. Kein Wunder, dass die Übervorteilung regierte, wohin ich auch kam, im Hotel, beim Getränkeeinkauf, beim Essen, im Taxi und selbst beim Ticketverkauf im Bus, als sei das das Gesetz, das die Menschen weiter brächte.

    Als ich am Morgen in meinem kargen Hotelzimmer erwachte und den trüben Himmel über der Stadt erblickte, war alles hässlich: die Betten, die Aussicht, die Tapeten, und selbst der Becher im Bad kam mir verdächtig vor. Wer hatte aus diesem Becherlein vor mir getrunken? Das Wasser unter der Dusche roch penetrant nach Chlor. Nachdem ich mir die Haare gewaschen hatte, saß die Frisur wie ein Helm auf meinem Kopf. Noch nicht einmal den Morgenkaffee konnte ich kochen, weil der Stromanschluss defekt war. Ohne Kaffee am Morgen war ich aber nichts wert, und so nahm die klassische Reiseeröffnungsdepression ihren Lauf. Sie überfällt mich manchmal in der ersten Reisewoche, lässt aber nach einigen Schnäpsen schnell nach.

    Beim Frühstück saßen lauter angesäuselte Kerle vor ihrem Schnaps und ihren Würsten. Ich notierte: Die Serben sind ein fleischfressendes Volk und beginnen ihren Verzehr schon am frühen Morgen. Auf der anderen Seite trinken sie gerne einen Slivovitz zu früher Stunde, und das kam mir in meiner derzeitigen Verfassung gerade recht.

    Als ich das Hotel verließ, lag ein bleigrauer Himmel über der Stadt. Das einzig Bunte, was es auf der Bahnhofsstraße zu sehen gab waren grelle Pornoplakate, auf denen es dicke serbische Männer und Frauen miteinander trieben. Ich blieb sehen, um zu sehen, wer vor den Pornoplakaten stehenblieb. Niemand. Es schien den Passanten peinlich zu sein.

    Fast schon den Rang einer Sehenswürdigkeit besaß das durch die NATO Angriffe zerstörte Gebäude des Verteidigungsministeriums. Treppenhäuser hingen inmitten aufgerissener Fassaden in schwindelnder Höhe halb im Freien, während unter ihnen der Verkehr weiterbrauste.

    Einen Anblick besondere Art bot die Sveti Sava, eine orthodoxe Kirche von solchen Ausmaßen, dass sie von fast jedem Punkt der Stadt aus zu sehen war. Das ganze eben erwähnte Verteidigungsministerium hätte spielend unter die Kuppel der Kirche gepasst. An der Spitze eines circa 30 Meter hohen Krans turnten Arbeiter vor irgendeinem Fries herum. Als ich eine Passantin vor der Kirche nach dem Namen des Gotteshauses fragte, wusste sie ihn nicht.

    Fünf Minuten von der Sveti Sava Kirche entfernt, befand sich in der Mitte eines Parks und durch kein Hinweisschild erschlossen, das Grab von Josef Brosz, genannt Tito, dem im Westen hochverehrten Nationalkommunisten und jugoslawischen Staatsgründer, nach dem gleichwohl heute kein Hahn mehr kräht. Dabei hatte er für einen kurzen geschichtlichen Moment den Traum der Südslawen vom einheitlichen Staat erfüllt. Allerdings hatte es schon kurz nach seinem Tod ein blutiges Erwachen aus diesem Traum gegeben, und ein gnädiges Geschick hatte es Tito erspart, das Auseinanderbrechen Jugoslawiens miterleben zu müssen. Seine sterblichen Überreste befanden sich in einem weißen Marmorsarg unter einem Baldachin. Eine Gruppe von Veteranen, einer wackliger als der andere, stand salutierend vor dem Sarg, als ich den Grabbezirk betrat.

    Nach dem Besuch des Tito-Grabes fuhr ich mit dem Bus in die Innenstadt, die aussah wie die Innenstadt von Castrop-Rauxel, womit ich nichts gegen Castrop-Rauxel gesagt haben möchte. In den Fußgängerzonen dominierte der Kolchosflair sozialistischer Zeiten, bevölkert von Passanten, die mit verschlossenen Gesichtern aneinander vorbeirannten. Die Frauen, denen ich in der Innenstadt begegnete machten einen erschöpften Eindruck. So schwer die Geschicke der Völker auch sein möchten, am härtesten traf es immer die Frauen. Die Männer sahen gesünder aus, geradezu stattlich. Kriegergesichter, breiter Gang, eine Variante europäischer Maskulinität, mit der möglicherweise nicht gut Kirschen essen war. Umso merkwürdiger, dass sie fast alle in winzigen Autos durch die Gegend fuhren - mit Gesichtern, die auszudrücken schienen: „Warte nur ab, bald fahre ich mit einer großen Limousine durch die Stadt."

    Da ich schon einmal da war, besuchte ich die Belgrader Festung, einen seit uralten Zeiten umkämpften Platz am Zusammenfluss von Sava und Donau, über den sich zu diesem Zeitpunkt ein Balkangewitter zusammenzog. So sah ich diesen Ort, um den Germanen, Römer, Hunnen, Ungarn, Serben, Türken und Habsburger gekämpft hatten, vor der Kulisse einer anbrandenden schwarzen Wolkenfront.

    Vor dem bald einsetzenden Regenguss floh ich in das militärgeschichtliche Museum, das in der Zitadelle der Festung untergebracht war. In dieser sehenswerten Ausstellung wurde die stürmische Geschichte Serbiens von der Einwanderung bis in die Gegenwart darstellt. Folgte man dem Tenor der Museumsdidaktik, dann hatte das kleine, aber heldenhafte Volk der Serben im letzten Jahrtausend nur ganz wenig zu lachen gehabt. Nach der der kurzen Glanzzeit eines sogenannten „serbischen Großreiches im späten Mittelalter begann mit der Schlacht auf dem Amselfeld im Jahre 1389 die lange Nacht der türkischen Fremdherrschaft. Die Blüte des serbischen Adels, die am 28.6.1389 auf dem Amselfeld im heutigen Kosovo gegen die osmanische Übermacht angetreten war, wurde vernichtet, für die Serben eine nationale Katastrophe, die bis auf den heutigen Tag nichts von ihrer Eindringlichkeit verloren hat. In der Folgezeit wurden die Serben aus dem heutigen Kosovo und der Region rund um den Ohridsee nach Norden vertrieben, das heißt, sie verloren ihre angestammte Heimat und mussten mitansehen, wie sich in ihr moslemische Albaner und Türken ausbreiteten. Die Verbissenheit und Härte, mit der die Serben im Kosovokonflikt ihre Restpräsenz in dieser Region verteidigten, muss vor diesem Hintergrund verstanden werden. Kein Wunder, dass sich die Serben als ein „einsames Volk begreifen, das von Europa immer wieder im Stich gelassen wurde. Wieso zum Beispiel fand der Aufstand der Serben gegen den Sultan im Jahre 1815 nicht die Unterstützung der mächtigen christlichen Monarchen, die sich zur gleichen Zeit in Wien zum Kongress versammelt hatten? Weil nach den Prinzipien von „Gottesgnadentum und „Legitimität auch den christlichen Untertanen eines muslimischen Sultans der Aufstand verboten war. So sprach Metternich, und die Folge war, dass Serbien 1815 nur eine partielle Autonomie errang und bis 1878 im osmanischen Reichsverband verbleiben musste. Erst als die Griechen sich 1821 erhoben, zerbrach die religionsübergreifende Legitimitätstheorie der reaktionären europäischen Monarchien. Die verhängnisvolle Rolle, die der chauvinistische serbische Staat bei der Entfesselung des Ersten Weltkrieges gespielt hatte, wurde in dem Museum leider nicht beleuchtet.

    So lief ich in dem Museum durch die Jahrhunderte, während draußen der Donner krachte. Am Ende des Rundgangs, am Rande der Gegenwart angekommen, erwartete mich eine große, bunte Karte aus dem Jahre 1999. Sie zeigte die Luftangriffe der NATO, die das Regime des serbischen Präsidenten Milošević zum Rückzug aus dem Kosovo gezwungen hatte. Nun kamen also die Schläge nicht mehr aus dem Süden, sondern aus dem Westen. Derweil verrottete im Hof der Zitadelle das von der NATO erbeutete Kriegsgerät im Regen.

    In Sweti Marko, der zweitgrößten Kirche Belgrads, befinden sich zwei Gräber, die die ganze Spannweite der serbischen Geschichte repräsentieren: das Grab von Stefan Dusan und das Grab von Aleksandar Obrenović. In der Regierungszeit Stefan Dusans (1331-1355) erblicken die Serben bis heute das Goldene Zeitalter ihrer Geschichte. Stefan Dusan besiegte die Türken, Bulgaren und Byzantiner, eroberte Mazedonien, große Teile Albaniens, Nordgriechenlands, Bosniens und das damals noch unbedeutende Belgrad. Von seinen Hauptstädten Skopje (heute Mazedonien) und Pizen (heute Kosovo) aus regierte er als mächtigster Herrscher Südosteuropas ein weit ausgedehntes Balkanreich, verkündete eine der ersten Gesetzessammlungen Europas und ließ sich schließlich von einer neu gegründeten serbischen Nationalkirche zum serbischen Zaren (Kaiser) krönen. Wer hätte ahnen können, dass sich der Glanz dieses serbischen Imperiums weniger zwei Generationen nach Stefans Dusans Tod auf dem Amselfeld in nichts auflösen würde?

    Das zweite Grab der Markuskirche beherbergt die sterblichen Überreste König Aleksandar Obrenovićs, der im Jahre 1903 mitsamt seiner Gattin von serbischen Offizieren in seinem Palast in Belgrad abgeschlachtet worden war. Dieser Mord, der damals ganz Europa erschütterte, war das Präludium zum Ersten Weltkrieg, denn er bewirkte das Umschwenken Serbiens vom österreichischen ins russische Lager. Einer der Mörder des Königs, der Serbe Dragutin Dimitrijevic, sollte später als „Apis die Terrororganisation „Schwarze Hand gründen, die 1914 das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand organisierte.

    Die Inbrunst der Besucher von Sveti Marko war bestürzend, ganz gleich, ob sie den Heiligenbildern oder den Gräbern galt. Vor manche Ikonen legten die Gläubigen Pflaumen, Birnen und Äpfel ab, ehe sie die Bilder küssten. Fast wie im Orient warfen sich einige Besucher vor den Heiligenbildern zu Boden, ehe sie die Kirche verließen. Manche mochten über solche Gesten die Nase rümpfen. Vielleicht aber zeigte sich in der demütigen Frömmigkeit, die in solchen Gebärden zum Ausdruck kam, auch eine Kraft, die die meisten Menschen des Westens verloren haben, ohne zu wissen, dass ihnen etwas fehlt.

    Religionen haben überall in der Welt dazu beigetragen, Nationen zu erhalten. Man denke etwa an die katholischen Polen im Vergleich zu den protestantischen Preußen und den orthodoxen Russen - oder an die katholischen Iren im Vergleich zu den anglikanischen Engländern und den protestantischen Schotten. Sie haben aber auch dazu beigetragen, Völkerschaften zu spalten - am ehesten nachweisbar etwa an der Auseinanderentwicklung der orthodoxen Serben und der katholischen Kroaten, die ansonsten die gleiche Sprache sprechen, die gleichen Sportarten lieben und die gleichen Suppen löffeln.

    Am Abend vor der Weiterreise nach Sofia aß ich serbische Bohnensuppe und Cevapcici und dachte an die vielen entspannten Abende, die wir früher „beim Jugoslawen" zugebracht hatten. Dieses Jugoslawien gab es nicht mehr. In einer Zeit, in der die maßgeblichen Protagonisten der europäischen Politik auf supranationale Einigungen setzten, hatte die Geschichte des Balkans eine gegenläufige Entwicklung eingeschlagen.

    Zehntausend Dinare hatte ich als Geldreserve in meinen Pass gelegt. Mitten in der Nacht, als die serbische Passkontrolle an der serbisch-bulgarischen Grenze unsere Kabinentür pochte, hatte ich das vergessen. Der Zöllner stempelte die Pässe für die Ausreise ab und kassierte die Scheine. Ein wenig Balkan-Kolorit zum Abschied. Ansonsten brachte mich der Nachtzug planmäßig von Belgrad nach Sofia. Als der Morgen graute, durchfuhren wir wildes Karl-May-Land und erreichten schließlich den Bahnhof von Sofia.

    BULGARIEN

    Titel

    Bulgarien – was weiß man schon von diesem Land? Ich erinnere mich an sumogleiche Ringer, die früher regelmäßig olympisches Gold gewannen, an Schwarzmeerstrände, zu denen in den frühen Tagen der alten Bundesrepublik diejenigen fuhren, die sich Mallorca oder Italien noch nicht leisten konnten. In meiner Studienzeit hatte es mich einmal nach Bulgarien verschlagen, wo ich eine Familie aus Erfurt traf, die bitter über die deutsche Teilung klagte, die doch im

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