Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Gezahnt wie der Kiefer eines Alligators: Was Reisende über die Dolomiten schrieben
Gezahnt wie der Kiefer eines Alligators: Was Reisende über die Dolomiten schrieben
Gezahnt wie der Kiefer eines Alligators: Was Reisende über die Dolomiten schrieben
eBook793 Seiten10 Stunden

Gezahnt wie der Kiefer eines Alligators: Was Reisende über die Dolomiten schrieben

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die Entdeckung der Dolomiten
Von außen betrachtet wirkten die Dolomiten lange unnahbar. Kein Wunder, dass sie den Reisebuchverleger John Murray an die Zähne eines Alligators erinnerten. Die ersten Reisenden waren fasziniert! Ingrid Runggaldier vereint in diesem Buch Auszüge aus Werken der Weltliteratur genauso wie Reiseberichte, Briefe und Tagebücher, die diesen Entdeckergeist wiederaufleben lassen.
Mit Texten des Geologen und Namensgebers Dolomieu, der Pioniere Josiah Gilbert und George C. Churchill, des Reisebuchautors Karl Baedeker, des Zionisten Theodor Herzl, des italienischen Dichters Giosuè Carducci, des Kriegsreporters Robert Musil, der Krimiautorin Agatha Christie, der Begründerin des modernen Frauenbergsteigens Jeanne Immink u.v.a.m.

In jahrelanger Recherche hat Ingrid Runggaldier gesammelt, was Reisende über die Dolomiten schrieben – klug kommentiert und zu einem literarischen Reiseführer geformt.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Raetia
Erscheinungsdatum30. Mai 2023
ISBN9788872836958
Gezahnt wie der Kiefer eines Alligators: Was Reisende über die Dolomiten schrieben
Autor

Ingrid Runggaldier

Studium der Germanistik und Anglistik-Amerikanistik in Innsbruck, arbeitet als Übersetzerin. Sie beschäftigt sich mit Sprachen und Literaturen im Vergleich, Frauen-, Gender- und Minderheitenstudien sowie die Alpinismus- und Tourismusgeschichte. Bei Edition Raetia: „Frauen im Aufstieg. Auf Spurensuche in der Alpingeschichte“ (2011)

Ähnlich wie Gezahnt wie der Kiefer eines Alligators

Ähnliche E-Books

Reisen – Europa für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Gezahnt wie der Kiefer eines Alligators

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Gezahnt wie der Kiefer eines Alligators - Ingrid Runggaldier

    Wohin die literarische Reise geht

    Dieses Buch nimmt uns mit auf eine Zeitreise durch die Dolomiten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, durch die Zeit der „Entdeckung" und Erschließung der Dolomiten. Unser Weg wandelt auf den literarischen Spuren, die die Entdecker*innen und diejenigen, die ihnen folgten, über Land und Leute hinterließen. Die zahlreichen schriftlichen Zeugnisse aus dieser Zeit zeigen uns auf vielfache Art, wie sich der Blick auf die Berge und das Leben der Menschen in den Dolomiten seither verändert haben, aber auch die Welt und die Menschen und die Berge selbst. Die Autoren und Autorinnen, denen wir im Buch begegnen, kommen aus dem Bereich der Geologie, der Botanik, der Volkskunde, aber unter ihnen waren auch Touristen und Touristinnen, Alpinisten und Alpinistinnen, Journalisten, Schriftsteller*innen, die zumeist nicht im Dolomitengebiet lebten. Sie schreiben aus den unterschiedlichsten Gründen: weil ihr Beruf es erfordert, um Wissen zu verbreiten, oder aus privatem Anreiz, gezielt, oder weil es sich ergibt. Dementsprechend unterschiedlich sind auch die Textformen und Inhalte. Wir lesen in wissenschaftlichen Abhandlungen, Reisenotizen, persönlichen Erfahrungsberichten, Schilderungen sportlich-alpiner Unternehmungen, in Erzählungen, Romanen und Gedichten. Was in diesen Texten geschrieben steht und wie sie verfasst sind, hängt vom Blick ab, mit dem der Autor oder die Autorin auf diese Berge schaut: Ist es ein staunender, ein neugieriger Blick? Oder einer, der den Ehrgeiz und den touristisch-alpinistischen Eroberungswillen des Bergsteigers oder der Wanderin verrät, ist es der kritische Blick des Naturschützers, jener der genießenden Urlauberin oder gar der Blick des pragmatisch-routinierten Promotors, der die Schönheit der Landschaft samt Fahrplanangaben, Hotelempfehlungen, Wegbeschreibungen und Wandertipps verkaufen will? Tatsache ist, dass dieser Blick einerseits stets von der jeweiligen Zeit geprägt, andererseits auch immer individuell unterschiedlich war und sich nach und nach verändert hat. Für die Menschen, die die Berge bewohnten, war die Natur, die sie Tag für Tag vor sich sahen, keineswegs so wunderbar wie in unseren heutigen Augen oder in den Augen der Reisenden, die sie damals aufzusuchen begannen. Solch eine wild zerfurchte Landschaft als schön zu erkennen und empfinden, war erst möglich, nachdem die Menschen sich gewissermaßen von ihrer Abhängigkeit befreit hatten, von der Abhängigkeit von einer kargen, wenig großzügigen und oft zerstörerischen Natur, der sie ihr Überleben abringen mussten, aber auch als die klassische, auf Harmonie gestützte Vorstellung von Perfektion von der Erkenntnis abgelöst wurde, dass der wilden und ungezähmten Natur Schönheit und Erhabenheit innewohnen. Die Vorstellung der schönen Wildnis und Erhabenheit der Bergwelt, die in Sicherheit betrachtet werden kann, ist eigentlich ein städtisches Phänomen, das sich mit der Romantik festigte, als, im Gegensatz zur Hässlichkeit der durch die Industrialisierung fast unbewohnbar gewordenen Städte, die reine, unberührte und vom Menschen nicht kontaminierte Natur zum Ideal und Sehnsuchtsort erhoben wurde, zu einem Ort, an dem auch die Menschen vermeintlich besser waren und lebten.

    Aber werfen wir einen kurzen Blick auf den Ort unserer Reise: Die einzigartigen Dolomiten sind Teil der Südlichen Kalkalpen und nehmen ungefähr in Form eines Parallelogramms den ausgedehnten Gebirgsraum zwischen den Flüssen Etsch, Eisack, Rienz, Piave und Brenta ein. Im Osten grenzen sie an die Karnischen Voralpen, ein Teilbereich davon wird als Friauler Dolomiten bezeichnet und ist als solcher auch Teil des UNESCO-Welterbes. Ähnliches gilt für die westlich der Etsch häufig mit den Dolomiten in einem Zug genannten Brentadolomiten, die ebenso zum UNESCO-Welterbe zählen, orografisch jedoch nicht zu den Dolomiten gehören, sondern einen eigenen Gebirgszug, die Brentagruppe, bilden. Obwohl die Dolomiten eine geografische und orografische Einheit darstellen, waren sie in der Vergangenheit politisch oftmals auf verschiedene Herrschaftsgebiete aufgeteilt. Heute befindet sich das Dolomitengebirge im nordöstlichen Italien, aufgeteilt auf zwei Regionen, das Veneto und Trentino-Südtirol, und drei Provinzen, nämlich Trient, Bozen und Belluno. Dass die Dolomiten über Jahrhunderte nicht als Einheit betrachtet wurden, lag auch an den verschiedenen Sprachen, die ihre Bewohner*innen verwendeten oder denen sie verwaltungsmäßig unterstellt waren: Es gab die verschiedenen ladinischen Idiome, die venezianischen und deutschen Dialekte sowie die wechselnden Amtssprachen, die Latein, Deutsch oder Italienisch sein konnten. Der südöstliche Teil der Dolomiten orientierte sich hin zum italienischen Venetien mit den Städten Belluno, Bassano del Grappa, Feltre und Venedig, der nordwestliche Teil war auf die zumeist deutschsprachigen Gebiete des Puster-, Eisack- und Etschtals mit den Städten Bruneck, Brixen, Bozen und Trient ausgerichtet.

    Im vorliegenden Buch werden die Dolomiten als Ganzes betrachtet, ungeachtet der heutigen Verwaltungs- und Sprachgrenzen.

    Um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als die höchsten Gipfel der Westalpen im Zuge der touristischen Entdeckung der Alpen und der Entwicklung des Alpinismus bereits erklommen waren, traten auch die Dolomiten vermehrt ins Blickfeld der Reisenden. Zu dieser Zeit war das gesamte Dolomitengebiet eine abgelegene, ruhige Gegend, deren Bewohner*innen den Lebensunterhalt in erster Linie durch Land- und Forstwirtschaft und mancherorts auch durch den Bergbau bestritten. Bei den zumeist hoch gelegenen Siedlungen, den knappen, oft steilen und wenig ertragreichen Flächen bedeutete dies für die Menschen einen ständigen Kampf ums Überleben. In den meisten Gebieten waren Frauen wie Männer zu saisonaler Auswanderung gezwungen: Sie gingen als Hausierer*innen, Handwerker*innen, Knechte und Dienstmädchen, Ammen, Händler*innen in die Welt hinaus. Die ersten, die die Dolomiten aus freien Stücken und zum Vergnügen bereisten, fanden noch kaum Infrastrukturen vor: Es gab nur schlechte, schwierig befahrbare Wege und Straßen, die oft tage- wenn nicht wochenlang wegen Unwettern und Murenabgängen unpassierbar waren. Die Unterkünfte waren zumeist Hospize oder schlichte Gasthäuser, die alles andere als luxuriöse Schlaflager und lediglich sehr einfache und improvisierte Speisekarten zu bieten hatten. Aufgrund der schwierigen Reisebedingungen wurden die Dolomiten zuerst im Sommer bereist und touristisch erschlossen. Ein wirklicher Wintertourismus entwickelte sich erst nach dem Ersten Weltkrieg.

    Mit dem Tourismus gelangten grundlegende Veränderungen in das Leben, die gesellschaftlichen Strukturen, die Wirtschaft und den kulturellen Charakter der lokalen Bevölkerung. Im Lauf weniger Jahrzehnte entwickelte sich dieser Gebirgsraum von einem entlegenen und höchstens für einige Naturwissenschaftler und Abenteurer*innen attraktiven Gebiet zu einem Anziehungspunkt für Millionen von Reisenden und Urlaubenden, von einem Insidertipp zu einer Tourismushochburg. Heute ist der Tourismus Segen und Fluch zugleich: Einerseits stellt er eine wichtige Erwerbsquelle für die Bevölkerung dar und verhindert die Abwanderung, andererseits gefährdet er, wo er alles beherrscht, Natur, Umwelt, Landschaft und Gesellschaft. Die Dolomiten sind diesbezüglich keine homogene Region: Zentren mit kaum noch zu bewältigenden Tourismusmassen existieren neben wirtschaftlich schwachen Gebieten, die bis heute weltabgeschieden, unberührt und in einen Dornröschenschlaf versunken zu sein scheinen.

    Ich habe überlegt, welche Einteilung für das vorliegende Buch und seine Leser*innen am sinnvollsten wäre, und mich schlussendlich dazu entschieden, die einzelnen Kapitel geografisch den verschiedenen Gebieten der Dolomiten zuzuordnen. Beim Lesen der Texte wird jedoch auffallen, dass diese Einteilung nicht immer konsequent durchgezogen werden konnte. Dies liegt zum einen daran, dass die meisten Besucher*innen die Dolomiten umfassend bereisten und erwanderten und – da sie über verschiedene Orte schrieben – auch mit mehr als nur einem Ort in Verbindung gebracht werden können. Zum anderen sind Ortschaften, Täler und Berge, die geografisch zu einer bestimmten Einheit gezählt werden können, manches Mal thematisch, politisch oder historisch voneinander getrennt oder sie bilden umgekehrt eine Einheit, obwohl sie geografisch weiter auseinanderliegen. Eine weitere Herausforderung, die sich bei meiner Recherche ergeben hat, sind Orts- und Bergnamen. Viele davon waren im 19. Jahrhundert oft noch im Entstehen begriffen und haben sich im Lauf der Zeit geändert. Zuweilen wurden sie, je nach sprachlicher Situation, unterschiedlich verwendet oder falsch übertragen und wiedergegeben. Die Namensgebung vieler entlegener Täler, Schluchten, Scharten oder kleinerer Gipfel fand tatsächlich erst im Zuge der touristischen Erschließung der Dolomiten statt. Darüber hinaus erhielt so manche Landschaftsform, Siedlung oder Flur aufgrund der verschiedenen Sprachen und Dialekte sowie unterschiedlicher Schreibweisen mehrere Bezeichnungen. Es kam vor, dass manche Reisende und „Entdecker*innen Orts- und Flurnamen falsch verstanden und deshalb falsch wiedergaben oder transkribierten. Aber auch lokale Namensforscher sind sich nicht immer einig: Der Kaufmann, Bürgermeister von St. Ulrich und Publizist Franz Moroder (1847–1920) merkte an, dass der „Atlas Tyrolensis des Tiroler Kartografen Peter Anich und des Tiroler Landvermessers Blasius Hueber aus dem Jahr 1774 für die Geislerspitzen die Bezeichnung Geisterspitz angibt – in noch älteren Karten scheinen sie überhaupt nicht auf, während sie im Ladinischen als „Odles (Nadeln) bekannt sind, ein Name, von dem sich auch das italienische „Odle ableitet. Ebenso ist in der Anichkarte der Bergstock Sella namenlos und als kuriose Aneinanderreihung von Erhebungen dargestellt. Die ganze Gegend um das heutige Sellajoch indes wird auf der Karte als Sallei bezeichnet.

    Die von mir für das Buch ausgewählten Texte nehmen Bezug auf ganz bestimmte Orte: Orte, die durch den literarischen Text, in dem sie erwähnt sind, oder einfach durch die Anwesenheit ihrer Autoren und Autorinnen dort eine gewisse Bedeutung erlangt haben. Orte, die an sich von landschaftlichem oder historischem Interesse sind, und im Text von den jeweiligen Schriftsteller*innen beschrieben werden. Orte, die überhaupt nicht prominent sind, aber irgendwann eine bestimmte Rolle gespielt haben. Literarisch heißt in diesem Kontext nicht allein belletristisch, sondern vor allem die Reise- und die Alpinliteratur betreffend.

    Als die Dolomiten noch nicht so hießen

    Jenes Gebiet, das später Dolomiten genannt werden sollte, war auf den Landkarten Europas, sofern es dort überhaupt aufschien, lange Zeit ein fast weißer Fleck. Aufgrund seiner relativ abgelegenen und dadurch auch logistisch ungünstigen Lage sowie der wenig ertragreichen Fläche war es für den jeweiligen Landes- und Grundherrn uninteressant. Allein für die Forstwirtschaft und den Bergbau war es im Lauf der Geschichte von einiger wirtschaftspolitischer Bedeutung, jedoch gab es zweifellos attraktivere Gebiete.

    Erstes Interesse für diese Berge der Dolomiten zeigten Naturwissenschaftler, an vorderster Stelle Geografen, Geologen und Mineralogen, Chemiker und Botaniker, aber auch Ethnologen, Sprachkundler oder Journalisten. Bedeutende Namen in diesem Zusammenhang sind Belsazar Hacquet de la Motte, Giovanni Arduino, Giuseppe Marzari Pencati, Francesco Facchini, Maria Matilda Ogilvie Gordon, Pierre Toussaint Marcel de Serres de Mesplès.

    Die bereits erwähnte Tirolkarte „Atlas Tyrolensis, die 1774 in 20 Blättern und einem Registerbogen erschien und als eine der schönsten Karten des 18. Jahrhunderts gilt, war für die Erschließung der Dolomiten ein erster Meilenstein. Obwohl für heutige Verhältnisse ungenau, zeigt diese Karte bereits die damals bekannten Gebirgsketten mit den wichtigsten Gipfeln und Gletschern, allerdings als undefinierte Erhebungen dargestellt. Auf der Karte sind auch Flüsse und Seen, Wälder, Almen, befahrbare Straßen und Saumpfade, Dörfer, Weiler, Bergwerke, Schlösser, Poststellen und Bäder eingetragen. Obwohl die Grenzen mehr die Machtansprüche der Auftraggeber widerspiegeln als der Realität entsprechen, kam diese Karte späteren Dolomitenreisenden sehr zugute, weil sie das Gebiet in seiner Gesamtheit betrachten konnten. Der österreichische Dolomitenerschließer Eduard Richter bezeichnete diese Karte als den „eigentlichen Anfang der Landesaufnahme in den Ostalpen. Der französische Geologe Pierre Toussaint Marcel de Serres und vermutlich auch sein Berufskollege Déodat Gratet de Dolomieu bedienten sich ihrer ebenso. Genauere Karten, die die Berge der Dolomiten und ihre Zugänge realistischer darstellten, erschienen erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts, etwa jene des böhmischen Alpenforschers Julius von Payer, des britischen Bergsteigers Douglas Freshfield oder des österreichischen Alpinisten Paul Grohmann, die sie vor allem auch für alpinistische Zwecke tauglich machten. Der geologischen und landschaftlichen Besonderheit, ja Einzigartigkeit des Gebiets zwischen Eisack, Rienz, Piave und Brenta wurde sich die Welt erst durch die Forschungsarbeit von Déodat Gratet de Dolomieu bewusst, die 1789 ihren Anfang nahm. Doch das ist eine andere Geschichte.

    Eine folgenreiche geologische Entdeckung

    Wir schreiben das Jahr der Französischen Revolution. Drei Jahre zuvor, am 8. August 1786, hatten der savoyardische Arzt Michel-Gabriel Paccard und sein Führer, der Mineraliensammler Jacques Balmat, den Gipfel des Mont Blanc erreicht. Bereits seit 1760 hatte der Schweizer Geologe und Bergsteiger Horace Bénédict de Saussure den Berg erkundet und demjenigen ein Preisgeld in Aussicht gestellt, der den Gipfel des höchsten Bergs Europas erreichte. Während in Paris die Wogen hochgingen, befand sich der Naturwissenschaftler Déodat Gratet de Dolomieu auf einer seiner Reisen in verschiedene Gegenden Europas. Seine Forschungsinteressen lagen im Bereich der Erdwissenschaften und hier insbesondere im Studium der Gesteine und Vulkane. Im August 1789 fuhr er mit seinem Freund und Adjutanten Louis Benjamin Fleuriau de Bellevue von Innsbruck nach Trient. Irgendwo auf dieser Strecke las der Forscher verschiedene Gesteinsproben auf und schickte diese seinem Freund, dem Genfer Chemiker und Botaniker Nicolas Théodore de Saussure, Sohn des oben genannten berühmten Horace Bénédict de Saussure, zur Analyse. Dieser stellte fest, dass das Gestein, das dem Kalkstein frappierend ähnlich war, im Gegensatz zu diesem nicht schäumte, wenn man es mit verdünnter Salzsäure in Kontakt brachte. Wenig später schrieb Dolomieu über dieses Phänomen in einem Brief aus Malta an den französischen Naturforscher Philippe Picot de Lapeyrouse, der 1791 als Aufsatz im „Journal de Physique" erschien. Es war Nicolas de Saussure, der vorschlug, das Gestein zu Ehren seines Entdeckers Dolomit zu nennen.

    In Wahrheit waren vor Dolomieu bereits andere Wissenschaftler auf das Gestein aufmerksam geworden. So hatte es vermutlich schon der schwedische Physiker Carl von Linné in der 1758 erschienenen Ausgabe seines Buchs „Systema naturæ beschrieben: „Langsamer Marmor – Marmor, weiß und durchsichtig mit kaum sichtbaren Partikeln. Es ist ein harter Quarz, doch es unterscheidet sich darin, dass es nicht mit ‚aqua forti‘ aufbraust, außer nach einigen Minuten. Ähnlich wie Carl von Linné hatte auch der italienische Geologe Giovanni Arduino wenige Jahre später, nämlich 1769, den Unterschied zwischen Kalkstein und dem besagten Gestein beobachtet und es als eine Art Marmor eingestuft. Und auch der in Laibach lehrende Anatomieprofessor Belsazar Hacquet de la Motte war auf das Gestein aufmerksam geworden: Er hatte 1781 mit Blick auf den Gletscher der Marmolada festgestellt, dass sich das von ihm als „lapis suillus" bezeichnete Gestein nicht nur vom Kalkstein unterschied, sondern auch, dass es sich unter den Porphyrschichten befand. Wie jenen vor ihm wurde auch seinen Beobachtungen keine große Aufmerksamkeit geschenkt.

    So kam es, dass nicht nur ein Calcium-Magnesium-Carbonat-Mineral, sondern auch das entsprechende Gestein und sogar ganze Gebirgsgruppen, allen voran die Dolomiten, nach Dolomieu benannt sind. Freilich vergingen noch Jahrzehnte, bis sich ihr Name durchsetzte, gar zur Marke wurde und sie unter dieser bekannt wurden.

    Exkurs: Déodat Gratet de Dolomieu

    Dieudonné Silvain Guy Tancrède Gratet de Dolomieu, genannt Déodat Gratet de Dolomieu, wurde am 23. Juni 1750 als vierter Sohn des Marquis de Dolomieu und dessen Frau Marie-Françoise de Berénger auf Schloss Des Gratet im französischen Dörfchen Dolomieu im Département Isère geboren. Von seinem Vater für die Militärkarriere bestimmt, wurde er nach seiner Geburt in den Souveränen Malteserorden eingeschrieben, der sein gesamtes Leben prägen sollte. Im Alter von 18 Jahren erschoss Dolomieu einen Ordenskameraden im Duell und wurde zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt. Auf Interventionen von Papst Clemens XIII. und König Ludwig XV. wurde Dolomieu nach neun Monaten aus der Haft entlassen und 1769 wieder in den Orden aufgenommen. Déodat, der bereits als Kind Interesse für die Naturwissenschaften zeigte, wurde von Herzog Louis-Alexandre de la Rochefoucauld, dem späteren Präsidenten der Pariser Königlichen Akademie der Wissenschaften, zum Studium der Mineralogie und Geologie angeregt. Nachdem er sich mit der Erforschung der Salpeterbildung in den Minen der Bretagne befasst hatte, wurde Dolomieu selbst in die Akademie aufgenommen. Um die Erforschung der Gesteine und Vulkane zu vertiefen, unternahm er zahlreiche Reisen durch Europa und beschrieb in der Folge eine Reihe von bis dahin zum Teil unbekannten Mineralien. Dolomieus Berühmtheit ist jedoch mit der Entdeckung jenes Gesteins verbunden, das er 1789 in Tirol fand, was er 1791 in einem Aufsatz im „Journal de Physique publizierte. Vor allem aber beruht seine Berühmtheit auf der Tatsache, dass dieses Gestein sowie das Gebirge, das zum Großteil aus Dolomit besteht, nach ihm benannt wurden. Dieser Anerkennung als Wissenschaftler verdankte er, dass er, obwohl dem Adel zugehörig, die Französische Revolution relativ unbeschadet überstand. Nachdem ihm 1795 im Zuge der Revolution seine Besitztümer enteignet worden waren, lehrte er als Professor der Naturwissenschaften an der École Centrale Paris, wo er an den Bänden über Mineralogie der „Encyclopédie méthodique zu arbeiten begann. Im folgenden Jahr wurde er zum Mineninspektor und zum Professor an der École Nationale Supérieure des Mines de Paris ernannt. 1798 folgte die Einladung, an der ägyptischen Expedition unter dem Kommando von Napoleon Bonaparte teilzunehmen. Doch nun verließ ihn das Glück: Nachdem er in Ägypten einige Forschungen über den Nil durchgeführt hatte, erkrankte er und bat, nach Frankreich zurückkehren zu dürfen. Auf seiner Rückfahrt 1799 erlitt er bei Taranto Schiffbruch und wurde verhaftet, da er an den Verhandlungen zur Kapitulation Siziliens und seiner Unterwerfung unter Napoleon beteiligt gewesen war. Dolomieu wurde nach Messina gebracht, wo er für 21 Monate als Kriegsgefangener unter harten Bedingungen in Einzelhaft gehalten wurde. Die Verhaftung des berühmten Wissenschaftlers empörte Intellektuelle in ganz Europa, die dagegen protestierten. Nachdem im Juni 1800 die Napoleonischen Truppen in der Schlacht von Marengo die Österreicher und deren italienische Verbündete geschlagen hatten, forderte Napoleon im Vertrag von Florenz im März 1801 unter anderem die sofortige Freilassung Dolomieus. Wenige Monate nach seiner Befreiung verstarb Dolomieu an den Folgen der Haft im Alter von nur 51 Jahren im Haus seiner Schwester in Châteauneuf. Seine umfangreiche Mineraliensammlung befindet sich heute im staatlichen französischen Naturmuseum in Paris.

    Die Etablierung des Namens Dolomiten

    Namen von Bergen, Berggruppen und -gebieten sind entgegen der weit verbreiteten Annahme nicht sehr alt. Im 18. Jahrhundert hatten viele Gipfel überhaupt noch keinen Namen oder sie hatten verschiedene – je nachdem, von wo aus man sie sah oder in welcher Sprache die Menschen sie benannten. Viele Bergnamen setzten sich erst langsam durch, nachdem sie von Hirtinnen und Jägern, von Beamten, von Naturwissenschaftlern und Volkskundlerinnen oder von Alpinisten definiert und verwendet wurden. So verhielt es sich auch mit den Dolomiten. Bevor die Gebirgsgruppe ihren heutigen Namen erhielt, kam sie lange Zeit ohne einen solchen aus. In den älteren Texten über die heutigen Dolomiten finden sich Namen wie Venetische Alpen, Venetianer Alpen, Kalkalpen Tirols, Berge des südlichen Tirols oder Südtirols, Südalpen, Ostalpen, Eastern Alps oder Bleiche Berge. Gelegentlich wurden Teile der Dolomiten nicht als zu einem gesamten Berggebiet zugehörig betrachtet, sondern einfach mit den Namen seiner Untergruppen benannt, so zum Beispiel das Rosengartengebiet, die Pale, die Ampezzaner Berge, um nur einige zu nennen. Auch als der Name Dolomiten bereits Verwendung gefunden und sich vor allem in der wissenschaftlichen Literatur durchgesetzt hatte, wurde besonders von englisch-, französisch-, aber auch deutschsprachigen Reisenden noch lange die Bezeichnung Tyrol oder die Berge Tirols verwendet, auch wenn die Dolomiten weit über die Grenzen Tirols hinausgehen.

    Den steinigen Weg, wie das als Dolomit bezeichnete Mineralgestein nach und nach zum Namensgeber des Gebiets wurde, in dem es am häufigsten vorkommt, hat der Tiroler Geologe Georg Mutschlechner in einem Aufsatz von 1946 in der Monatszeitschrift für Südtiroler Landeskunde „Der Schlern treffend nachgezeichnet. Laut Mutschlechner war es der deutsche Geologe und Mitbegründer der Stratigrafie Christian Leopold von Buch, der zehn Jahre nach Auffindung des Gesteins in einer Reisebeschreibung die Bezeichnung Dolomit verwendete. Und 1822 war es derselbe von Buch, der erstmals die Wortzusammensetzungen Dolomitberge, Dolomitfelsen, Dolomitmassen, Dolomitreihe oder Dolomitspitzen verwendete. Zwei Jahre später sprach er von einer Dolomitkette. 1822 ließ er außerdem eine Zeichnung dieser Dolomitberge anfertigen. In der Folgezeit erschien eine Flut von Schriften, in denen der Name Dolomit in verschiedenen Zusammensetzungen vorkam, so auch in der Reiseliteratur: Der österreichische Schriftsteller und Geograf Adolf Schmidl sprach in seinem Reisehandbuch von 1834 von Dolomitgebilden, und der deutsche Publizist und Schriftsteller August Lewald, wir werden ihn und sein Werk noch eingehend betrachten, erwähnte im Reisebuch „Tirol, vom Orteles zum Glockner und vom Garda- zum Bodensee von 1835 ebenfalls die Dolomitgebirge. Der Brite John Murray, Abkömmling einer bekannten Londoner Verlegerdynastie und Initiator der Reisehandbuchreihe „Murray’s Handbooks", wies in seinem 1837 erschienenen Reiseführer

    Treffpunkt der Geologen: Predazzo mit der Palagruppe im Hintergrund.

    „A Handbook for Travellers in Southern Germany; being a guide to Bavaria, Austria, Tyrol, Salzburg, Styria & c. mehrmals ausdrücklich auf die „majestic mountains of dolomite rock hin. So sei etwa das im heutigen Trentino gelegene Fassatal oberhalb der Ortschaft Moena

    „bemerkenswert wegen seiner einzigartigen Gipfel und Abgründe von Dolomit, die dort in Erscheinung treten. Sie bilden einen sehr eindrucksvollen Kontrast zu allen anderen Bergen – in ihrem blendenden Weiß, in ihrer kargen Öde, in ihrer Steilheit, in den unzähligen Rissen und Klüften, die ihre gigantischen Wände vertikal durchziehen, und vor allem, in ihren scharfen Spitzen und gezähnten Kämmen, die viele tausend Fuß in die Lüfte ragen und höchst malerische Konturen aufweisen. Manchmal nehmen sie das Aussehen von Türmen und Obelisken an, die voneinander durch ein paar tausend Fuß tiefen Klüften getrennt sind; manchmal sind die Zacken so zahlreich und schlank, dass sie an ein Bündel von Bajonetten oder Schwertklingen erinnern. Alles in allem verleihen sie der Szenerie Neuigkeit und Erhabenheit, die eigentlich aber nur von jenen, die sie gesehen haben, geschätzt werden können."

    (Murray, A Handbook, S. 241)

    Der im Buch abgebildete Langkofel, „a Dolomite Mountain in the Grödner Tal", wird wie folgt beschrieben:

    „Ein riesiger Felszacken, ein Zuckerhut von einem Dolomit, reckt seine steilen Wände über den schwellenden Hängen der Hügel, die die Talseite formen. Er heißt Lang Kofel, und er ist ein höchst malerisches Gebilde, von welchem Punkt er auch immer betrachtet wird."

    (Murray, A Handbook, S. 248)

    Ein Jahr später betitelt der deutsche Maler Albert Emil Kirchner eine kolorierte Lithografie „Dolomit Gebirge in Enneberg mit der Ansicht von Colfosco. Auch der deutsche Agrarwissenschaftler und Arzt Alexander Petzholdt wies in seinem Band „Beiträge zur Geognosie von Tyrol von 1843 mehrfach auf die Dolomite, die Dolomitwände und die Dolomitfelsen hin. Auf dem Titelblatt prangt der Langkofel von St. Jakob in Gröden aus gesehen mit der Bildbeschriftung „Der Langkofl in Tyrol. Der Gießener Geologe und Mineraloge August von Klipstein sprach 1843 von den „Kalk- und Dolomitbergen Südtyrols, und der als Bergverwalter in Agordo tätige österreichische Montanwissenschaftler Wilhelm Fuchs unterschied 1844 zwischen Kalk- und Dolomitklippen, während 1845 im Handbuch für Reisende „Die deutschen Alpen" des Schriftstellers und Alpinisten Adolph Schaubach von Dolomitstock, Dolomitkolossen und Dolomitriesen die Rede war.

    Als die englische Malerin und Schriftstellerin Louisa Stuart Costello 1846 von Trient über Bozen nach Brixen reiste, bewunderte auch sie die „dolomite mountains". Sie schrieb:

    „Stunde um Stunde stiegen wir hinauf und hinab über die wunderbaren Höhen, über denen sich noch höhere Felsen erhoben und in den Himmel stachen, die Hörner der Dolomitberge. Manchmal lugten lange Reihen über allem hervor, bedeckt mit Schnee und in der Sonne glänzend."

    (Costello, A Tour to and from Venice, S. 389)

    Schließlich waren es aber insbesondere zwei Werke, die dem Namen Dolomiten zum Durchbruch verhalfen und bewirkten, dass eine ganze Berglandschaft von 630.000 Hektar nach einem beschaulichen Dörfchen auf der anderen Seite der Alpen, im Dreieck zwischen Grenoble, Lyon und Genf, und dessen abenteuerlichem Sohn benannt wurde. 1864 verwendeten ihn die beiden englischen Forschungsreisenden Josiah Gilbert und George Cheetham Churchill im Titel ihres Reisebuchs „The Dolomite Mountains, das im englischsprachigen Raum sofort ein Bestseller wurde und bereits 1865 in der Übersetzung von Gustav Adolf Zwanziger für den deutschsprachigen Raum mit dem Titel „Die Dolomitberge herauskam. Es war wohl das erste Werk, das, als Reiseführer für ein breites Publikum konzipiert, sowohl in der Originalausgabe als auch in der Übersetzung den Namen Dolomite bzw. Dolomitberge im Titel trug. Trotzdem sah sich die britische Reiseschriftstellerin Amelia Edwards 1873 noch veranlasst, im Vorwort ihres Reisebuchs „Untrodden Peaks and Unfrequented Valleys" klarzustellen, dass

    „sogar heute das allgemeine Publikum wenig über das Thema weiß, dass es überhaupt nicht ungewöhnlich ist, auch gebildeten Leuten zu begegnen, die nie etwas von den Dolomiten gehört haben, oder die meinen, sie wären eine religiöse Sekte wie die Mormonen oder die Drusen."

    (Edwards, Untrodden Peaks, S. XXX)

    Es war der berühmte Wiener Alpinist Paul Grohmann, der dafür sorgte, dass sich der Name 1877 durch die Publikation seines Buchs „Wanderungen in den Dolomiten" endgültig und allgemein etablierte. Auch ihm werden wir noch begegnen. In der Folgezeit wird der Name Dolomiten exklusiv für das Gebiet zwischen Rienz, Piave, Brenta, Etsch und Eisack gebraucht, obschon es auch andere Gebirgsgruppen gibt, die vornehmlich aus demselben Gestein bestehen. Bezeichnungen wie Engadiner Dolomiten oder Swiss Dolomites, Nordtiroler Dolomiten, Seefelder Dolomiten, Lechtaler Dolomiten und Schwäbische Dolomiten konnten sich letztendlich nicht durchsetzen und solche wie Sächsische Dolomiten für das Elbsandsteingebirge sind aus geologischer Sicht falsch.

    Heute ist die Bezeichnung Dolomiten ein vielfach strapazierter Name. Ein Name, der Natur verspricht, Güte, Reinheit, Härte, Unvergänglichkeit, ein Name, der mit Tradition und Mythos in Verbindung gebracht wird. Produkte aller Art heißen so und es gibt wohl kaum eine Produktsparte, in der dieser Name nicht als Werbeträger verwendet wird.

    Der Streit zwischen Neptunisten und Plutonisten

    Nach der Entdeckung des Dolomits durch Déodat Gratet de Dolomieu erlangte die Gebirgsgruppe der Dolomiten immer größere Aufmerksamkeit unter den Naturwissenschaftlern. So avancierten zu Beginn des 19. Jahrhunderts die steilen Berghänge westlich des im damaligen Tirol gelegenen Dörfchens Predazzo, die Canzoccoli, heute allgemein als Le Coste bekannt, zum Austragungsort einer der bedeutendsten Kontroversen um die geologische Entwicklung, an deren Ende die Entstehung der modernen Geologie durch den Schotten James Hutton stand: Es handelt sich um den sogenannten Plutonismus-Neptunismus-Streit (1790–1830), in dessen Zuge Wissenschaftler jahrzehntelang geradezu verbissen versuchten, Beweise für die eine oder die andere Theorie zu erbringen. Doch beginnen wir am besten von vorne. Ende des 18. Jahrhunderts standen sich zwei Theorien, ja zwei Weltanschauungen gegenüber, über die zum Teil heftige Diskussionen geführt wurden. Auf der einen Seite befanden sich die Neptunisten, deren bekanntester Vertreter der deutsche Mineraloge Abraham Gottlob Werner war. Seiner Meinung nach waren alle Gesteine Sedimentgesteine, die sich in den Meeren und Ozeanen durch Sedimentablagerung und Wassererosion gebildet hatten. Auch so prominente Denker wie der Dichter Johann Wolfgang von Goethe und der Forschungsreisende Alexander von Humboldt favorisierten diese Theorie. Auf der anderen Seite standen die Plutonisten, denen zufolge Gesteine ursprünglich von vulkanischen Kräften herrührten. Der aus Vincenza stammende Botaniker, Chemiker und Geologe Giuseppe Marzari Pencati beobachtete bei ebendiesen Canzoccoli, dass der durch Vulkaneruptionen entstandene Granit auf dem Kalkstein lag. Diese Feststellung, die er 1819 in einem Aufsatz publizierte und die die Hypothesen der Plutonisten zu bestätigen schien, blieb zunächst ohne Beachtung, bis einer der angesehensten Geologen seiner Zeit und Mitbegründer der Stratigrafie, Christian Leopold von Buch, sie erneut aufs Tapet brachte. Von Buch begab sich selbst zweimal nach Predazzo, um die Theorien Marzari Pencatis zu widerlegen, und brachte seinen illustren Studienfreund und Gründer der modernen Geophysik, Alexander von Humboldt, mit ins Spiel, der in den Tagen um den 30. September 1822 selbst in Predazzo zu Besuch war. Jedenfalls findet sich im Gästebuch des Gasthofs Nave d’Oro, das den Titel „Gedenkbuch der berühmten reisenden Philosophen, die in ihren literarischen Reisen in geognostischer Tätigkeit Predazzo und das Gasthaus Michele Giacomelli geehrt haben" trägt, eine entsprechende Notiz des Inhabers dazu, mit der Unterschrift des Gelehrten. Humboldt, der damals noch ein überzeugter Verfechter des Neptunismus war, bekannte sich nach seinem Besuch der Dolomiten und aufgrund seiner 1805 durchgeführten Untersuchungen des Vesuvs öffentlich zur konkurrierenden Theorie des Plutonismus. Schließlich akzeptierte Humboldt im Kern die Beobachtungen Marzari Pencatis, ohne jedoch seine Verdienste anzuerkennen. Auch Leopold von Buch, dessen Forschungen über die Dolomiten zu den ersten überhaupt gehörten, tat es seinem Freund gleich und wechselte zum Plutonismus. Seine Autorität stellte die Theorien Marzari Pencatis und dessen Persönlichkeit jedoch bis zum Schluss in den Schatten.

    Heute wissen wir, dass flüssiges Magma unter hohem Druck in den älteren Kalkstein, der in dem alten Tethys-Meer abgelagert worden war, eindrang. Das Magma durchdrang zum Teil vollständig den Kalkstein. Wo es nicht bis an die Oberfläche gelangte, kühlte es langsam ab und kristallisierte zu Granit aus. Der umgebende Kalkstein hingegen wurde durch die große Hitze in Marmor verwandelt.

    Von Eisenbahnen, Straßen und Wegen

    Trotz steigendem Bekanntheitsgrad blieben die Dolomitengebiete bis weit in das 19. Jahrhundert hinein ein wenig besuchter Flecken Erde und höchstens ein Geheimtipp für Reisespezialisten. Dies lag auch an der eher beschwerlichen Anreise. Denn obschon nicht weit von den europäischen Hauptdurchzugsadern entfernt, befanden sich die Dolomiten doch relativ abgelegen von den größeren Zentren und viele Strecken in den Dolomiten selbst waren nur mühsam mit Pferdewagen oder überhaupt nur zu Fuß zu bewältigen. Dabei wurden die Entfernungen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nicht in Kilometern, sondern in Meilen oder Gehstunden, die Höhen in Fuß und die Flächen in Joch angegeben.

    So rechneten englische Reisende wie Josiah Gilbert und George Cheetham Churchill, die Illustratorin und Schriftstellerin Amelia Edwards und der Schriftsteller Walter White von London aus mit einer viertägigen Reise. Zum Vergleich: Um von London nach Thun in der zur damaligen Zeit bereits in Teilen touristisch erschlossenen Schweiz zu gelangen, brauchte man zwei Tage. Was auch dazu führte, dass sich manche Touristen und Touristinnen sowie die sogenannten Sommerfrischler*innen bereits damals über die dort vollen Hotels und überlaufenen Ortschaften beklagten.

    Der deutsche Autor Heinrich Wenzel bemerkte in seinen „Reiseskizzen aus Tirol und dessen Nachbarschaft" im Jahr 1837:

    „Indessen richtete sich der ganze Zug der Wanderschwalben, von denen immer eine der anderen nachzuziehen gewohnt ist, nach der Schweiz. Man wollte die Alpen sehen und besteigen; diesem Verlangen genügt die Schweiz und man hielt es nicht der Mühe werth, die übrigen Verzweigungen dieses Gebirgs, das man mühelos kennen gelernt hatte, in seine angrenzenden Gebiete zu verfolgen, wo man höchstens denselben Genuß, durch Entbehrungen und Beschwerlichkeiten theuer erkauft, zu finden glaubte. So kam es, daß die Schweiz von Besuchern wimmelte, während die Naturwunder Tyrols in ungesehener, einsamer Herrlichkeit der Menge unbekannt waren und deßhalb unbeachtet blieben."

    (Wenzel, Reiseskizzen, S. 185–186)

    Wenzel, der als einer der Ersten die Auswüchse des Massentourismus am Rhein und in der Schweiz beschrieb, bedauerte diese Entwicklung und wünschte sich für Tirol eine andere Zukunft. Er schrieb:

    „Wahrlich, Tyrol ist eine Reise werth! Und dennoch wünsch’ ich innig, daß der rastlose Zug der Reisenden, wie er die Fluren der Schweiz durchrauscht, Deinen stillen Thälern noch recht lange fern bleiben möge, mein geliebtes Tyrol! Nicht alle bringen ein Herz mit, was deine Treue versteht und deine Freundlichkeit werth hält. Was die meisten suchen, finden sie und finden es besser in der Schweiz."

    (Wenzel, Reiseskizzen, S. 206)

    Eine Verbesserung der Erreichbarkeit erfolgte mit dem Ausbau von Straßen und dem Bau erster Eisenbahnabschnitte, die die Orte der Dolomiten nach und nach näher zusammenrücken ließen. 1830 wurde der von Erzherzog Rainer von Österreich, Vizekönig von Lombardo-Venetien, angeordnete Aus- und Neubau der Alemagnastraße von Toblach im Pustertal nach San Vendemiano in der Provinz Treviso fertiggestellt. Sie war von den beiden Ingenieuren Luigi Negrelli, der auch an der Planung des Suezkanals beteiligt war, und Josef Duile geplant worden. Duile zeichnete auch für den Ausbau der Strecke durch das Valsugana nach Trient und für die Neutrassierung der Brennerstraße verantwortlich. Ab den 1840er-Jahren wurden weitere Eisenbahnprojekte vor allem im Veneto verwirklicht und 1871 schließlich die Pustertalbahn fertiggestellt. Die Brennerbahn ging 1867 in Betrieb. Sie verband die Dolomiten mit der 1858 erbauten Inntalbahn und somit mit Bayern und Wien. Die Grödner- und die Fleimstalbahn wurden erst 1915/16 beziehungsweise 1917 gebaut, und dies nicht zu touristischen, sondern zu Kriegszwecken. Um beim Reisen mit den vielen, von unterschiedlichen Betriebsgesellschaften geführten Bahnlinien einigermaßen zurechtzukommen, bedienten sich die Reisenden durch Europa seit 1847 des Reise- und Fahrplanführers „Bradshaw’s Continental Railway Guide", der eine unerlässliche Hilfe darstellte. Daneben wurde in den 1860er- und 1870er-Jahren auch ein weitflächiges Netz an Straßen erbaut.

    Wie gut Anfang des 20. Jahrhunderts viele Dolomitentäler und -pässe schon touristisch erschlossen waren, fängt der amerikanische Reiseschriftsteller John Lawson Stoddard (1850–1931) in seinen Landschafts- und Szenenbildern ein, in denen immer wieder gut ausgebaute Straßen und Wege oder auch die Gleise der Eisenbahn auftauchen. Befahren wurden sie allerdings hauptsächlich von Kutschen und Pferdewagen – Automobile waren noch eine Besonderheit. So erwarb in Gröden der Verleger und Besitzer des Hotels Ladinia, Franz Schmalzl, im Jahr 1900 als Erster einen Daimler-Benz-Wagen. Als sich der Alpinist Paul Grohmann 1869 ins Grödental begab, um als Erster den Gipfel des Langkofels zu besteigen, konnte er bereits mit der zwei Jahre zuvor in Betrieb gegangenen Brennerbahn anreisen und von Waidbruck über die neue, 1856 eröffnete Grödner Straße fahren. Wie es damals auf den Straßen zuging, schildert er in seinen 1877 erschienenen „Wanderungen in den Dolomiten" am Beispiel der Ampezzaner Straße:

    „Als ich im Jahre 1862 die Dolomiten zum ersten Male besuchte, herrschten dort andere Verhältnisse als heute. Damals war noch kein Fremdenbesuch, und fast die einzigen Reisenden, die man an der Ampezzaner Strasse traf – von anderen seitwärts gelegenen Gegenden ganz abgesehen –, waren die zahlreichen Fuhrknechte, die die riesigen Frachtwagen geleiteten. Leben, viel Leben, herrschte auch damals in jener Gegend, aber ein anders geartetes Leben."

    (Grohmann, Wanderungen, S. III)

    Eine relativ spät gebaute Straße war die Gadertaler Straße von St. Lorenzen nach Corvara. Ihre Eröffnung fand am 2. Oktober 1892 statt. Bis dahin waren die Wege durch das Tal nur mit zweirädrigen Wagen befahrbar und von Stern bis Corvara gar nur zu Fuß begehbar. Für militärische Zwecke bestimmt, doch für den Fremdenverkehr immerhin sehr förderlich, waren schließlich 1895 die Projektierung der Grödner-Joch-Straße, die das Gadertal und das Grödental verbinden sollte, sowie die 1909 eröffnete Dolomitenstraße, die von Bozen nach Cortina führt. Diese war eines der größten Straßenbauprojekte und wurde zwischen 1894 und 1909 auf Initiative des österreichischen Tourismuspioniers und Alpinisten Theodor Christomannos, Vorstand der Sektion Meran, und Albert Wachtler, Vorstand der Sektion Bozen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins (DuÖAV) errichtet. Ihre Eröffnung am 13. September 1909 stellte dann auch den Beginn einer Neuentdeckung der Dolomiten und einer neuen Sicht auf diese Berge dar.

    Von Herbergen, Gasthäusern und Hotels

    Parallel zum Straßenbau erfolgten auch der Ausbau und die Neuausstattung bestehender Gasthäuser sowie der Bau neuer Gastbetriebe und Schutzhütten. Ab den 1870er-Jahren wurden bescheidene Dorfgasthäuser, einfache Herbergen und sogenannte Hospize den neuen Bedürfnissen angepasst. Größere Ortschaften verfügten bereits über Traditionsgasthäuser, die auf gelegentliche Gäste von außerhalb vorbereitet waren und ihre Angebote laufend verbesserten. Das Hotel Emma in Niederdorf, dessen Besitzerin und Wirtin Emma Hellenstainer das Potenzial der Pustertalbahn und des wachsenden Fremdenverkehrs rasch erkannt hatte, bot außer gutem Essen und einer ausgezeichneten Bedienung auch einen Transportservice und die Vermittlung von Bergführern an. Einfache, hauptsächlich vom Bürgertum und vom Klerus genutzte Bauernbäder wurden umgerüstet und in ihrer Struktur sowie im Service qualitativ verbessert, um den Anforderungen der Reisenden von auswärts zu entsprechen. Gegen Ende des Jahrhunderts kam es vermehrt zum Bau verschiedener Grandhotels, in die sich die steigende Zahl der Gäste nun zur Sommerfrische und vereinzelt auch bald zum Skifahren einquartierte. Die Erkundung und Besteigung der Berge waren nun nicht mehr der einzige Grund, die Dolomiten zu besuchen. Wie rasant der Fremdenverkehr im Lauf von wenigen Jahrzehnten anstieg, zeigt die Entwicklung von St. Ulrich: 1870 wurden dort 100 „Fremde" gezählt, 1890 waren es bereits 810 Reisepartien mit rund 1.130 Personen. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts erreichte die Anzahl der Übernachtungen an die 25.000 bis 30.000. Es gab sieben Hotels, fünf Gasthäuser, vier Café Restaurants, zwei Pensionen und 45 Privatwohnungen mit insgesamt 1.200 Betten.

    In kleinen, abgeschiedenen Orten entstanden Reiseunterkünfte erst nach und nach. So gelang es Giovanna Pezzé im Belluneser Ort Caprile durch Fleiß, Freundlichkeit und Geschäftstüchtigkeit aus ihrem bescheidenen Haus eine allseits bekannte und beliebte Gästeunterkunft zu schaffen.

    Die alpinen Vereine und die Entwicklung des Tourismus

    Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog sich europaweit die Entfaltung der alpinen Vereine. Nach der Gründung 1857 des Alpine Club (AC) in London, der ein Modell für alle weiteren Alpenvereine wurde, ging es Schlag auf Schlag: In Wien wurde 1862 auf Anregung einiger Universitätsstudenten der Österreichische Alpenverein (ÖAV) gegründet. Federführend waren dabei Paul Grohmann, Guido Freiherr von Sommaruga und Edmund von Mojsisovics, der 1878/80 das geologische Standardwerk „Die Dolomitriffe von Südtirol und Venetien herausbrachte. 1863 folgten die Gründung des Schweizer Alpen-Clubs (SAC/CAS) in Olten und des Club Alpino Italiano (CAI) in Turin. Letzterer entstand auf Initiative des Wissenschaftlers, Politikers und Alpinisten Quintino Sella. Die Gründung des Deutschen Alpenvereins (DAV) erfolgte 1869. 1872 schlug die Geburtsstunde der Società Alpina del Trentino (SAT), ab 1877 Società degli Alpinisti Tridentini genannt. Der Tätigkeitsbereich der in Madonna di Campiglio gegründeten SAT umfasste Welschtirol, das mit dem italienischsprachigen, zu Österreich gehörenden Trentino gleichzusetzen ist. 1873 erfolgte die Vereinigung des Österreichischen Alpenvereins, dessen zentralistische Führung zwar ein Vorbild für andere alpine Vereine des europäischen Festlands war, jedoch kaum alpin Interessierte aus den außeralpinen Landesteilen ansprechen und gewinnen konnte, mit dem Deutschen Alpenverein zum DuÖAV. Der Deutsche und Österreichische Alpenverein war ein Erfolgsmodell: Der Verein, dessen Sektionen Männer und meistens auch Frauen zuließen, würde bald Zehntausende Mitglieder zählen und mit den Jahren zu einem regelrechten Massenverein werden. Neben den sogenannten Flachlandsektionen in den größeren Städten Deutschlands und Österreichs entstanden auch Sektionen in den Dolomiten und in anderen Teilen der damals österreichischen Alpen. Nach den Sektionen Bozen und Niederdorf, die bereits 1869 im Zuge der Gründung des Deutschen Alpenvereins errichtet worden waren, kamen weitere hinzu wie etwa Ampezzo 1882, Gröden 1885, Ladinia 1886 oder die Sektion Fassa 1891. 1874 wurde der Club Alpin Français (CAF) ins Leben gerufen, 1878 der Österreichische Alpenklub (ÖAK), 1895 folgte dann der österreichische Touristenverein der Naturfreunde (TVN). Für das Gebiet der Dolomiten spielte der Alpine Club eine wichtige Rolle. Seine Bedeutung lag vor allem in der „Entdeckung der Dolomiten. Alpine Club-Mitglieder wie John Ball, Leslie Stephen, Francis Fox Tuckett und Douglas William Freshfield erstellten nicht nur Karten von Teilgebieten der Dolomiten, sondern beschrieben auch ihre Erstbesteigungen und Erkundungen und publizierten hierzu Wanderführer für die Dolomiten. Der Deutsche und Österreichische Alpenverein sowie der CAI und die SAT fokussierten ihre Aktivitäten vor allem auf die Erschließung der Dolomiten. Ab den 1880er-Jahren nahm der DuÖAV den Bau zahlreicher Schutzhütten in Angriff. So entstanden in den verschiedensten Gegenden der zum österreichischen Staatsgebiet gehörenden Dolomiten Schutzhütten, die nach jener Sektion benannt wurden, die sie gebaut hatte, wie etwa die Regensburger Hütte im Naturpark Puez-Geisler, oder nach den Orten, an denen sie erbaut wurden, wie die Pravitalehütte im Val Canali oder die Rosettahütte in den Pale di San Martino. Auf die Initiative des DuÖAV oder von damit eng verbundenen Personen geht auch der Bau zahlreicher Wege und Klettersteige zurück, wie etwa 1911 der Friedrich-August-Weg oder 1912 der Pößnecker Steig, beide in Gröden. Ein weiteres Verdienst des DuÖAV war der Ausbau des Bergführerwesens in den Dolomiten durch die Organisation von Kursen zur Ausbildung von „autorisierten Führern". Der für den im Königreich Italien liegenden venetischen Anteil der Dolomiten zuständige CAI arbeitete nach ähnlichen Vereinszwecken wie der Deutsche und Österreichische Alpenverein. Die erste Dolomitensektion wurde bereits 1868 in Agordo gegründet, es folgten 1874 Auronzo und 1891 Belluno.

    Im sich immer weiter aufschaukelnden nationalistischen Klima der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert konkurrierten die italienischsprachigen und deutschsprachigen Vereine miteinander beim Bau von Schutzhütten und bei der Namensgebung für Gipfel und Routen, nicht zuletzt, um die jeweiligen Gebiete als deutsch oder italienisch zu markieren. Dies führte zu gegenseitigen Provokationen und absurden Situationen. So bauten beispielsweise die SAT 1904/5 in der Brenta die Schutzhütte Quintino Sella und die Sektion Berlin des DuÖAV 1906 die Tucketthütte in einer Entfernung von kaum 20 Metern.

    Abschließend kann gesagt werden, dass, anders als bei den Westalpen, deren Identität des Öfteren auf die Engländer zurückzuführen ist, im Falle der Dolomiten eine Mischung verschiedener Nationen dazu beitrug, diese „zu erschaffen". So stehen die Franzosen für die Namensgebung, die Deutschen, Österreicher und später auch die Italiener für ihre wissenschaftliche Erkundung. Sicher ist jedoch, dass es auch im Falle der Dolomiten im Wesentlichen die Engländer waren, die diese alpinistisch-touristisch entdeckten und bekannt machten, und zusammen mit der lokalen Bevölkerung ihre touristische Erschließung voranbrachten.

    Ausgangspunkt vieler Reisen: Blick auf Gries bei Bozen gegen den Rosengarten.

    An den Toren der Dolomiten

    Mit Ausnahme der Geologen, die sich für das Gestein und die Entstehung der sonderbaren Felsen interessierten, verirrten sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur einige wenige Touristen und Touristinnen in das Gebiet der Dolomiten. Es waren zumeist Reisende von den britischen Inseln oder aus dem deutschen Sprachraum, die ihre Italienreise mit einem Abstecher nach Tirol und zu den Dolomiten verbanden, um ihrer Wanderlust zu frönen und ihr Wissen über Land und Leute zu vertiefen. Die Anreise erfolgte zumeist von Süden, das heißt von Mailand über Venedig und Cortina d’Ampezzo, oder von Norden, das heißt vom Brennerpass über das Pustertal und Toblach nach Schluderbach, Sexten und Prags. Ein weiterer beliebter Zugang zu den Dolomiten war Bozen, um beispielsweise über Atzwang, Völs und Kastelruth weiter in das Gebiet rund um Gröden, die Seiser Alm und das Fassatal einzudringen.

    Einer der Ersten, die die Dolomiten aus der Ferne bemerkten, ohne sie jedoch mit ihrem späteren Namen, der gerade erst geprägt wurde, zu nennen, war Sir Richard Colt Hoare, ehemaliger Bürgermeister von London. In seinem Reisebuch „Recollections abroad during the years 1790, 1791, das 1818 in Bath in einer privaten Edition und in einer Auflage von nur 50 Exemplaren erschien, schrieb er über seine Reise von Verona nach Innsbruck und erwähnte den Anblick von Felsen von „großer und stattlicher Form und eine Landschaft, die den Pinsel von Salvator Rosa [italienischer Landschaftsmaler des 17. Jahrhunderts, Anm. I. R.] wert ist. Hoare bleibt nicht der einzige Reisende dieser Zeit, der seine ersten Begegnungen mit dem Dolomitengebiet und den noch weitgehend unbekannten Bergformationen literarisch festhält.

    Im Feindesland unterwegs: Inspektor Marcel de Serres de Mesplès

    Nur kurze Zeit später und unter völlig anderen Bedingungen tritt ein junger französischer Rechtswissenschaftler und Inspektor der Wissenschaften, Künste und Manufakturen der Kaiserlichen Universität von Montpellier seine Reise nach Tirol an. Pierre Toussaint Marcel de Serres de Mesplès, geboren um 1780 in Montpellier, ist noch keine 30 Jahre alt, als er 1809, mitten im Österreichisch-Französischen Krieg, von Napoleon Bonaparte in Sondermission nach Österreich entsandt wird, um die Gewerbebetriebe Wiens zu besichtigen, mit dem Ziel, eventuelle Verbesserungsmaßnahmen an den heimischen französischen Werkstätten vorzunehmen. Die Lage ist prekär. Doch davon scheint sich Marcel de Serres keineswegs abschrecken zu lassen und verbringt ganze zwei Jahre im „Feindesland. Der Aufenthalt muss ihm zugesagt haben, denn bereits kurz nach seiner Rückkehr machte sich der inzwischen zum Professor für Mineralogie und Geologie avancierte Gelehrte 1811 erneut auf den Weg und erkundete Bayern und Tirol. Aus seinen landeskundlichen Untersuchungen und Beschreibungen der beiden Länder entstand ein faktenreiches zweibändiges Werk, das 1823 unter dem Titel „Voyages dans le Tyrol, et une partie de la Bavière publiziert wurde. Die zahlreichen Daten, die die Bevölkerung, das Klima, die Geografie und die Wirtschaft sowie die Geschichte betreffen, lockerte Marcel de Serres vielfach mit alltäglichen Erlebnissen auf und lieferte so eine spannende und oft heitere Lektüre. Der Blick des französischen Gelehrten auf Tirol und Bayern ist auch deshalb bemerkenswert, da die beiden Länder während der Napoleonischen Kriege generell wenig bereist wurden. Auffallend ist, dass sich der Verfasser, der de facto der Besatzungsmacht angehörte, dem Land Tirol und seiner Bevölkerung gegenüber nie herabwürdigend äußerte, sondern mit Respekt und Hochachtung, ja sogar Bewunderung und Sympathie. Er schreibt:

    „So sind die Tiroler. Abwechselnd von starken Nationen geschlagen, gehorchen sie zwar, doch unterwerfen sich nie. Ungeachtet der Gesetze und Sitten, die man ihnen auferlegen wollte, blieben sie immer dieselben."

    (Serres, Voyages dans le Tyrol, Bd. 1, S. XIV)

    Marcel de Serres ist einer der ersten Reisenden und Naturwissenschaftler, die in ihren Schriften die Dolomiten zwar noch nicht bei ihrem späteren Namen nennen, aber deren Namensgeber erwähnen. Über das Fassatal, genauer in Bezug auf das Gebiet der Canzoccoli bei Predazzo schreibt er:

    „Die Naturforscher sollten das kleine Fassatal, das sich am Ende des Fleimstals befindet, besuchen. Fassa oder Fascia ist ein kleines Dorf, das an und für sich uninteressant ist, aber seine Umgebung ist extrem eindrucksvoll. Das Gelände des Tales besteht zu einem großen Teil aus jener Trappformation, die die einen vom Wasser, die anderen vom Feuer verursacht halten."

    (Serres, Voyages dans le Tyrol, Bd. 2, S. 257)

    In einer Fußnote merkt er an:

    „Monsieur Dolomieu hat uns in einem Brief vom 7. Mai 1797, der in verschiedenen wissenschaftlichen Zeitschriften erschienen ist, genauere Informationen zur Bildung dieser Täler geliefert."

    (Serres, Voyages dans le Tyrol, Bd. 1, S. XX)

    Nach seinem Aufenthalt in Bayern und Tirol tauchte Marcel de Serres weiter in verschiedene Wissensgebiete ein. Er wurde Mitglied des Berufungsgerichts von Montpellier, verfasste verschiedene Arbeiten über die Höhlen Südfrankreichs und die darin aufgefundenen Knochen und gehörte außerdem zu den Ersten, die die Existenz von quaternären Systemen anerkannten. Mit seinem 1851 erschienenen Buch „Über die graduelle Perfektionierung der organisierten Wesen" wurde er zu einem Vorreiter der Evolutionstheorie von Charles Darwin. Sein Grab befindet sich im Friedhof Saint-Lazare in Montpellier.

    Zu Fuß nach Venedig: Charles Joseph Latrobe

    Mehr durch Zufall gelangte der Brite Charles Joseph Latrobe (auch La Trobe) in das Gebiet der Dolomiten. Der 1801 in einer Hugenottenfamilie in London geborene Latrobe war 1830 im Schweizer Simmental gestartet, um sich zu Fuß über Graubünden, den Brennerpass, das Pustertal, das Eisack- und das Etschtal sowie das Valsugana nach Venedig, Triest, Ancona und schließlich nach Rom zu begeben. Auf dieser Strecke erblickte Latrobe die Dolomiten zum ersten Mal von Niederdorf aus. Doch es war auf seiner Rückreise durch das Pustertal – Latrobe musste seinen ursprünglichen Plan, ins Defereggental zu wandern, aufgrund eines Wetterumbruchs aufgeben –, dass er die Dolomiten nicht nur aus der Ferne sah, sondern sich ihnen näherte und direkt in das Gebiet eintauchte. Das Erlebnis dokumentierte der begeisterte Wanderer, der selbst zwischen 1824 und 1826 verschiedene Gipfel zum Teil als Erster erklommen hatte, in seinem 1832 veröffentlichten Reisebuch „The Pedestrian. A Summer’s Ramble in the Tyrol, and Some of the Adjacent Provinces". Latrobe schreibt:

    „Vom ersten Augenblick, als ich diese eigenartigen Berge erblickte, auf die so oft hingewiesen wird und die den südöstlichen Teil Tirols einnehmen, wurde ich von einem heftigen Wunsch erfüllt, in ihr Inneres einzudringen: Doch bis dahin waren all meine Pläne in dieser Hinsicht aufgrund verschiedener Umstände gescheitert und die einzige Gelegenheit, die mir noch blieb, war, dass ich versuchen musste, es jetzt auf meiner Reise von Brunecken nach Botzen zu tun. Da ich den normalen Weg zwischen den zwei Städten bereits gegangen war, wollte ich diesmal einen anderen versuchen: Und als ich die Landkarte studierte, wählte ich das Gadertal, das sich südlich von St. Lorenzen öffnet, als die beste Art und Weise in das Innere des Gebiets zu gelangen."

    (Latrobe, The Pedestrian, S. 291)

    Diesen kurzen, aber intensiven Ausflug ins Herz der Dolomiten beschreibt Latrobe sehr anschaulich und lebendig. So berichtet er unter anderem vom Versuch, in eine Dorfschenke im Wallfahrtsort St. Leonhard einzukehren, aus der er jedoch regelrecht vertrieben wird:

    „Als ich ankam, freute ich mich auf eine Erfrischung, aber im Wirtshaus wurde ich von einer giftigen alten Frau derart angemotzt, dass mir nichts Anderes übrig blieb, als weiterzugehen und zu hoffen, beim nächsten Mal besser abzuschneiden."

    (Latrobe, The Pedestrian, S. 294)

    Und dies gelingt ihm im Weiler Stern, den er aber bald wieder verlässt und über den er kaum ein Wort verliert. Dafür zeugt seine Beschreibung der Felsen, die sich ihm jetzt offenbaren – die Cirspitzen, der Sellastock und der Langkofel –, von seiner Begeisterung für die so außergewöhnliche Landschaft. Es ist wohl eine der ersten Beschreibungen dieser Art und einer der ersten Texte, die so ausführlich auf die Dolomitenlandschaft und deren Bewohner eingehen:

    „Stern fand ich am Fuße eines Dolomitfelsen gelegen; und nach einem kurzen Halt zog ich weiter in Richtung Talende an Colfosco, dem letzten Dorf vorbei, und stieg auf das Joch, das das Gader- vom Grednertal trennt. Dieses erstreckt sich ziemlich hoch zwischen zwei gegenüberstehenden Felsstöcken, die miteinander hinsichtlich ihrer Öde und grotesken Form wetteifern. Der südlichere muss von einer beträchtlichen Höhe sein, da große Schneefelder zwischen seinen Türmen liegen. Der Aufstieg war lang, doch die Länge war seine einzige Schwierigkeit: Und ein steter und beharrlicher Marsch brachte mich bald auf die Sonnenseite des Jochs, die bis am obersten Ende mit Wiesen bedeckt war, die genug Gras ergaben, um gemäht werden zu können. Ich nahm meine üblichen zwanzig Minuten Rast in der Gesellschaft von zwei, drei gutgelaunten Bauern, die mit der Heueinnahme beschäftigt waren; dabei bekam ich eine sehr vorteilhafte Meinung von den Bewohnern des Tals, das sich unter mir öffnete, wegen des gesunden Menschenverstands und der guten Ansichten, die sie zeigten. Ein Fremder ist in diesen Bergen eine Seltenheit. Was für ein Vergnügen! Rast nach der Arbeit – Sonnenschein – vorzügliche Luft – eine klare Quelle – eine fantastische Landschaft."

    (Latrobe, The Pedestrian, S. 294–295)

    Charles Latrobe, der 1832 in die Vereinigten Staaten von Amerika und 1834 zusammen mit dem Schriftsteller Washington Irving von New Orleans nach Mexiko reiste, veröffentlichte noch weitere Reisebücher über sein abenteuerliches Leben. 1839 wurde er Superintendent des Port Phillip Districts in New South Wales, heute das australische Bundesland Victoria mit der Landeshauptstadt Melbourne. Nach Monaten als Leutnant-Gouverneur von Tasmanien übernahm er von 1851 bis 1852 das Amt des Vize-Gouverneurs von Melbourne. In Melbourne und dessen Umgebung ließ Latrobe Straßen bauen und sah außerdem in der „Zivilisierung der Aborigines ein erstrebenswertes Ziel. Mit dem Tod seiner Frau 1854 kehrte er nach Europa zurück, wo er 1875 in England verstarb. Noch heute sind in Australien verschiedene Orte und Einrichtungen wie zum Beispiel das Latrobe-Tal oder ein Teil der Staatsbibliothek Victoria nach ihm benannt. Auch seine Frau hat in Australien Spuren hinterlassen, so ist angeblich der Melbourner Stadtteil Jolimont nach ihrem Ausruf „Quel joli mont! benannt.

    Landeskundliche Bestandsaufnahme: Beda Weber

    Beinahe mit den Augen eines Insiders betrachtete der Autor des Werks „Das Land Tirol, das 1838 in drei Bänden in Innsbruck erschien und 1842 in einer gekürzten Fassung mit dem Titel „Ein Handbuch für Reisende in Tirol publiziert wurde, die Dörfer, Täler und Menschen dieser Bergregion. Dieser Autor war der Schriftsteller und Theologe Johann Chrysanth Weber. 1798 in Lienz in Osttirol geboren, besuchte er zunächst das Franziskanergymnasium in Bozen und studierte dann Philosophie und Theologie in Innsbruck und Brixen. Kurze Zeit später trat er in den Benediktinerorden der Abtei Marienberg in Burgeis im Vinschgau ein und erhielt dort den Namen Beda. Zwischen 1848 und 1849 war Weber Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung, wo er der nationalliberalen Casino-Fraktion angehörte. Ab 1849 übernahm er das Amt des katholischen Stadtpfarrers in Frankfurt. Weber schrieb Biografien und Reiseführer und verlegte Texte des spätmittelalterlichen Dichters Oswald von Wolkenstein. Durch seine Hilfe wurde auf der Burg Obermontani am Eingang des Martelltals eine Originalhandschrift des Nibelungenlieds aus dem Jahr 1323 als solche erkannt und dadurch erhalten. Beda Weber verstarb 1858 in seinem 60. Lebensjahr überraschend an Herzversagen. Er ist auf dem Frankfurter Hauptfriedhof begraben.

    In seiner umfangreichen Beschreibung der Täler, Dörfer und Städte Tirols geht Beda Weber sehr genau auf deren wirtschaftliche, geschichtliche, soziale, politische und volkskundliche Besonderheiten ein und verzichtet dabei auf die poetische Besingung der Berge oder die Erwähnung schöner Aussichten, wie es zumeist Besucher*innen, die aus entfernteren Gegenden und insbesondere aus den Städten des Flachlands kamen, zu tun pflegten. Bei der Beschreibung der Dolomitengebiete auffallend ist die Selbstverständlichkeit in der Handhabung der Toponyme in den Sprachen Deutsch, Italienisch und zuweilen Ladinisch. Ein gutes Beispiel dafür ist die im dritten Band von „Das Land Tirol, in dem Weber systematisch verschiedene Orte im Dolomitengebiet erörtert, vorkommende Darstellung des „Avisiothals, das einen wichtigen, aber selten erwähnten Zugang zu den Dolomiten darstellt:

    „Das Avisiothal, so genannt vom Avisiostrom, welcher an der Grenze von Buchenstein auf dem Berge Fedaja entspringt, das längste Nebenthal von Nord- und Südtirol, das merkwürdigste mineralische Gebiet von Europa, hochberühmt im Liede von König Laurin, der hier seinen hohlen Berg, seine Krystallburg und seine Bergmännlein hatte, berühmter auf der geognostischen Karte Leopolds von Buch als Mittelpunkt der europäischen Gebirgsformationen, die Heimat der höchsten und schönsten Dolomite der alten Welt, streckt sich in nordöstlicher Richtung in einer Länge von 20 Stunden von der Region der Etsch bei Lavis bis an die Grenzen von Wälschnofen, Tiers, Gröden, Enneberg und Buchenstein aus, und berührt mit

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1