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Die Entdeckung der Dolomiten
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eBook306 Seiten4 Stunden

Die Entdeckung der Dolomiten

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Über dieses E-Book

Vor gut 150 Jahren bereisten zwei englische Gentlemen und ihre Ladys eine lockende Terra incognita: die Dolomiten. Staunend. Begeistert. Immer wieder. In der Kutsche, mit Packtieren, auf weiten Strecken zu Fuß. Die ersten Touristen! Ihr Reisebericht "The Dolomite Mountains" erschien 1864 in London und rückte die zuvor nur Einheimischen bekannten "Bleichen Berge" erstmals eindrucksvoll in den Blick der Welt. Seither sind die Dolomiten ein Sehnsuchtsziel im Herzen der Alpen. Und seit zehn Jahren Unesco-Weltnaturerbe. Dessen "einzigartige monumentale Schönheit" wurde durch dieses
Buch entdeckt, erkundet und gefeiert.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Raetia
Erscheinungsdatum14. März 2018
ISBN9788872836484
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    Buchvorschau

    Die Entdeckung der Dolomiten - Josiah Gilbert

    1

    VON DER DRAU ZUM EISACK. DOLOMIEU UND DER DOLOMIT – DIE ZAUBERHAFTEN UNHOLDE – LIEBLICHES LIENZ – UNSER KUTSCHER AMMAN – TIROLER GASTHÄUSER – MEHR DOLOMITEN – BRUNECK – AMMAN BEKREUZIGT SICH WIEDER – BRIXEN UND DIE BRENNERSTRASSE – BOZEN IM ABENDLICHT – ABSCHIED MIT HANDKUSS

    Vier Engländer im heiligen Land Tirol

    «Was ist Dolomit?» Wir wollen diese Frage einstweilen nur damit beantworten, dass es magnesiasaurer Kalk ist, der sich in einem besonderen Zustand befindet, dessen Ursache noch immer Stoff für viele Streitfragen abgibt und dass der Name von dessen Entdecker, Monsieur Dolomieu⁶, hergeleitet ist. Der Begriff mag übrigens vielen geläufig sein, auch wenn ihnen die Dolomiten unbekannt sind, denn er kommt häufig vor, ohne der Gegend irgendeine Eigentümlichkeit zu verleihen. Zudem hat die Tatsache, dass unser Parlament⁷ aus Quadern dieses Gesteins erbaut ist, die in den Steinbrüchen bei Bolsover in Derbyshire gewonnen werden, in letzter Zeit diesen Namen oft vor die Öffentlichkeit gebracht.

    Es gibt jedoch nur ein Gebiet, wo der Dolomit so vorherrschend ist, dass er die ganze Szenerie prägt. Nur hier zeigen sich jene eigenartigen Berge, die diese Landschaft von jeder anderen unterscheiden. Vor allem mit diesem Gebiet beschäftigen sich unsere Reisen, obwohl wir auch die benachbarten Gegenden besuchten, wo der Dolomit nur untergeordnet auftritt, aber seine besonderen geologischen Züge beibehält.

    Das eigentliche Gebiet der Dolomiten liegt im südöstlichen Teil von Tirol, etwas nordwestlich vom venezianischen Golf. Man kann sagen, dass es im Norden vom Pustertal, im Westen von den Tälern des Eisack und der Etsch, im Süden von einer Linie, die man von Trient nach Belluno ziehen kann, im Osten durch das Tal der Piave⁸ und eine Linie, die nordwärts gegen das Pustertal verläuft, begrenzt wird. Im Süden und Osten sind diese Grenzen jedoch nicht so genau. Der Dolomit tritt weniger weit südlich als landschaftsbeherrschend auf, geht aber im Osten beträchtlich weiter als bis zur Piave, denn sonst hätten wir den überraschenden Anblick dolomitischer Formen nicht schon in Winklern genießen können. Das Herz der Dolomiten kann als in einem Viereck liegend beschrieben werden, dessen Eckpunkte die Städte Brixen, Lienz, Belluno und Trient bilden. Oder als im Westen von der Brennerstraße begrenzt und im Osten von der Ampezzaner Straße durchschnitten.

    Der höchste und berühmteste Berg der Dolomitenregion, die Marmolata, liegt ziemlich genau in ihrer Mitte. Nordwestlich davon erhebt sich der Langkofel und im Südosten der Pelmo. Diese drei Berge führen die bekanntesten Namen, doch sind viele andere von nicht geringerer Wichtigkeit. Der Schlern ist der westlichste Gipfel der Gruppe, der Antelao, die Marcora und die Tofana überschatten majestätisch die Ampezzaner Straße und die Civetta ragt stolz oberhalb des lieblichen Sees von Alleghe in die Lüfte.

    Wenn der geneigte Leser eine Karte zur Hand nimmt, wird er merken, dass wir in Winklern, in Kärnten, weit von dem hier in groben Umrissen beschriebenen Gebiet entfernt waren, und er wird begreifen, dass wir auf die plötzliche Erscheinung der Dolomitberge gänzlich unvorbereitet waren. Auch wussten wir damals noch nicht, dass sie in vereinzelten Gruppen auch in den Karnischen Alpen und in den Karawanken vorkommen.

    Auf dieser ersten Reise gelangten wir jedoch noch nicht in das eigentliche Dolomitengebiet, und so habe ich hier vorerst nur zu berichten, wie wir dessen nördliche und westliche Grenzen umkreisten und dass uns verschiedene Ausblicke auf ihre fremdartigen Formen vergönnt waren, von denen freilich jeder unser Verlangen erhöhte, diese Berge zu erkunden.

    In Winklern hatten wir nach dem Schauspiel am Tag der Ankunft gute Gründe, sogar das Kennenlernen der Dolomiten zu verschieben. Am oberen Ende des Mölltals steht nämlich der Großglockner, der höchste Berg der Norischen Alpen⁹, der östliche Nebenbuhler von Montblanc und Monte Rosa. Begleitet vom Sohn des Wirts, fuhren wir mit zwei leichten Einspännern in fast vier Stunden nach Heiligenblut. Dort hob sich, gerade vor einem steilen Abhang, der weiße Kegel rein und blendend von einem tiefblauen Himmel ab – eine der schönsten und überraschendsten Szenen unserer Reisen in den Alpen …

    Bei der Rückkehr nach Winklern trafen wir unsere elegante Wirtin als Kellnerin im Ausschank der Gaststube an. Sie war deshalb nicht weniger eine Dame und wir bewunderten die Einfachheit der Sitten, die dadurch bezeugt wurde. Vierzehn Tage später bewirtete sie den Kaiser und die Kaiserin auf deren Weg von Heiligenblut nach Klagenfurt. Doch erst am nächsten Tag wurde uns die Besonderheit dieses Hauses klar. Nach einem herzlichen Lebewohl an Wirt und Wirtin brachen wir zu Fuß nach Lienz auf und wunderten uns über die überaus bescheidene Rechnung. Fast überlegten wir umzukehren, um sie berichtigen zu lassen, als eine Stelle in „Murray’s Handbook", die uns bisher gar nicht aufgefallen war, die ganze Sache in ein unerwartetes Licht setzte: «Das Gasthaus in Winklern gehört einem vermögenden Ritter, dessen äußerst billige Rechnung von einem Gulden pro Tag alles einschließt.» Das also war die Erklärung! Wir waren in der Tat fast so etwas wie Gäste des Hauses gewesen, und es tat uns herzlich leid, dies nicht früher gewahr geworden zu sein. Alles, was wir jetzt noch tun konnten, war, uns dem Ritter Aichenegg von Winklern sehr verpflichtet zu fühlen und ihn hinfort in Ehren zu halten.

    Murray erwähnt in seinen knappen Notizen über diese Gegend «die prachtvollen Ansichten der seltsamen Dolomitberge auf dem andern Ufer der Drau», und ich führe diese Stelle an, um unsere Erwartungen zu rechtfertigen. Nur ein niedriger Bergrücken trennt hier das Mölltal vom Drautal und zugleich Kärnten von Tirol. Hätten wir uns früher daran erinnert, so wären wir über das, was wir Sonntagabend sahen, weniger erstaunt gewesen. Als uns nun jeder Schritt weiter nach oben brachte, waren wir auf dem Gipfel der Erwartung – und wurden nicht enttäuscht. Die vollkommene Klarheit der Luft ließ uns bis an die äußersten Grenzen des Horizonts sehen, der im Süden und Südwesten von Felszinnen starrte. Die volle Wirkung entfaltete sich, nachdem wir vom ersten Aussichtspunkt etwas tiefer gestiegen waren. Zu unseren Füßen lag das Tal der Drau als flache, schmale Ebene, in der sich das Silberband des Flusses dahinschlängelte und aus der die Dolomitriesen aufragten: gezackt, zersplittert, gespalten und die Aussicht im morgendlichen Schatten wie eine Mauer versperrend. Die höchsten, östlichen Gipfel der Reihe – höher als 9 000 Fuß – tragen einen angemessenen Namen: „Die Unholden"¹⁰.

    LIENZER DOLOMITEN

    Der weite Talboden verleiht dem unvermittelt aus ihm aufsteigenden Bergwall eine ganz eigene Wirkung. Diese Flachheit ist ein besonderes Charakteristikum der Täler des Festlandes; englische Täler haben gewöhnlich die Form eines Beckens, doch nirgends zeigt sich der Gegensatz von senkrecht und waagrecht so schön wie in dieser Aussicht von der Passhöhe des Iselsbergs.

    Der Abstieg auf holprigen Wegen durch üppige Obstgärten war reizend. Ein Paradies der Pomona¹¹, das sich in der Herbstsonne wärmte. Beim Dorf Dölsach erreichten wir die Ebene, und S. und A., die wieder ihren Pferdewagen bestiegen, wurden uns durch Maisfelder und taufunkelndes Gras gen Lienz zu entführt, die erste Stadt Tirols, deren Türme schon im oberen Teil des Tals sichtbar waren. Die Ebene wird hier von Bergmassen eingeschlossen; die Drau kommt durch eine Schlucht im Süden und die Isel von Nordwesten aus einem höher gelegenen Tal, nahe am Zusammenfluss der beiden liegt die Stadt.

    Unseren Frauen folgend, die auf der Straße im Staub verschwunden waren, mussten wir in der Hitze einen Marsch von fünf Meilen zurücklegen. Nachdem wir auf einer malerischen Brücke die tobenden Wasser der Isel überschritten hatten und durch das Tor des Stadthauses gegangen waren, betraten wir die breite Straße, die als Platz gelten mochte. S. und A. saßen dort bereits auf einer Bank vor der „Post". Da dies nicht der von uns gewählte Gasthof war, wollten sie uns nicht durch ihr Eintreten in das Haus in Verlegenheit bringen und blieben sitzen, während sich alle Fenster mit Neugierigen füllten. Wir wurden indessen bald überzeugt, dass es auch hier bequem sein würde, und der gutmütige, biedere Wirt erwies sich als der beste Mensch der Welt.

    Von Lienz ist nicht nötig mehr zu sagen, als seine Lage als «eine der schönsten von ganz Tirol» zu bestätigen. Es kann auch nicht anders sein, da diese Lage auf der einen Seite die majestätischen Dolomiten, auf der anderen die Schönheit der grünbekleideten Hügel umfasst, die Vereinigung zweier Flüsse wie Drau und Isel und den Anfang des herrlichen Tals, dem der erste Fluss seinen Namen gibt. Ringsum sind Dörfer und Schlösser über jede waldbekrönte Höhe ausgestreut. Zu einem dieser Schlösser spazierten wir eines Abends und freuten uns über die herrliche Aussicht von dort oben.

    Das Schloss gehört den Grafen von Görz, wird aber von einer wohlbekannten Person, Sir John Barleycorn¹², bewohnt: es ist … eine Brauerei! Lienz war einst römische Station, eine Römerstraße führte von hier nach Aquileia am Adriatischen Meer. Derzeit scheint das Städtchen nichts sonderlich Bemerkenswertes zu besitzen. Es zählt nur 2 000 Seelen, doch es hinterließ bei uns den Eindruck ruhiger Freundlichkeit. Vielleicht ist ein Teil der Annehmlichkeit, die Lienz für uns hatte, dem guten Wirt der „Post zuzuschreiben, der ein freundliches Interesse an uns zeigte, obwohl sein unglückliches Lispeln die Verständigung erschwerte. Als wir mit ihm besprachen, wie wir nach Bozen gelangen könnten, schien sein halbes Gespräch aus dem Wort „Ponicken zu bestehen.

    Das war reichlich verwirrend, bis uns ein genauerer Blick auf die Karte belehrte, dass er die ganze Zeit von „Brunecken"¹³ gesprochen hatte, dem besten Ort, um auf unserer weiteren Reise wieder Station zu machen. Ohne Zweifel lag für ihn als Postmeister die Benutzung der Post am nächsten, doch lenkte er bereitwillig ein, als wir einen „Lohnkutscher" vorzogen, und empfahl uns einen seiner Nachbarn namens Amman.

    Wir trafen diesen Mann nachmittags nicht an, aber seine Frau versprach, dass er am Abend kommen würde, zusammen mit einer etwas Französisch sprechenden Person, um bei der Verständigung zu helfen. Als wir von unserem Spaziergang zurückkehrten, stand natürlich die halbe Stadt vor Ammans Tor. Die nun folgende Verhandlung hatte den Vorteil, in mindestens vier Sprachen zugleich – Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch – geführt zu werden, und in kurzer Zeit wurde man handelseins, diese „vier Engländer" in zwei Tagen nach Bozen zu fahren.

    Die Straße von Lienz in das Pustertal steigt zuerst durch eine Schlucht an, durch die sich die Drau in die Ebene ergießt. Hier erheben sich zur Linken die großartigen waldbedeckten Lienzer Dolomiten, doch der Reisende ist viel zu nah an ihrem Fuß, um auch deren gezackte Spitzen sehen zu können. Weiter oben, bei Sillian, öffnet sich das Tal und könnte rau genannt werden, wenn nicht glänzende Kornähren und anmutige Ortschaften diesen Eindruck milderten. Man befindet sich hier auf einer Wasserscheide, die wir alsbald überschritten. Dann verloren wir die Drau und begannen hinter Innichen, das Pustertal hinunterzufahren. Hier zeigten sich wieder dolomitische Formen über den nahen Hügeln im Süden. Einer dieser Berge stach ganz besonders hervor, war mit Zinnen gekrönt und bot einen sehr erhabenen Anblick. Wir nannten ihn „das Diadem". Von da an wollte sich keine Öffnung in den Hügeln mehr zeigen, um unsere Erwartung zu befriedigen – bis bei Toblach die Straße von Ampezzo durchbrach und der düstere Eingang zwischen steilen Felswänden uns noch neugieriger machte. Es war der gerade Weg nicht nur nach Venedig (stets ein reizvoller Gedanke!), sondern auch mitten durch das Herz der Dolomiten. Eine Qual, sie diesmal unerforscht lassen zu müssen!

    In Niederdorf aßen wir zu Mittag, und auch hier waren die spitzen Gipfel, die die Ampezzaner Straße bewachen, noch sichtbar. Es müssen wohl sie gewesen sein, über die Sir Humphry Davy¹⁴ in seinem Reisetagebuch von 1819 am 20. Juni notierte: «Unter Brunecken sieht man eine großartige Bergkette im Süden gegen Italien zu, deren Anblick mich bis Sillian begleitete. Diese Berge scheinen von Granit zu sein und sind von ungemein kühnen und steilen Formen – sehr ähnlich den Nadeln im Tal von Chamonix und mit fast derselben Beziehung zum Schnee, der sie, selbst bei ihrer Vereinigung mit den fichtenbewaldeten Hügeln, in ungeheuren Mengen bedeckte.»

    Sonderbar, dass Davy diese Gipfel für Granit hielt. Dolomit war ihm natürlich unbekannt, aber er hätte sie für Kalkberge halten können. Schnee sahen wir keinen, aber es war ja nicht Juni, sondern August.

    Tirol ist ein für Fremde sehr angenehmes Land wegen seiner geräumigen, kühlen und reinlichen Gasthäuser an der Straße, die den Reisenden mit alter Gastfreundschaft willkommen heißen. Der Tisch wird meistens im breiten Hausflur des ersten Stocks gedeckt, auf den auch die Schlafgemächer für die besseren Stände ausmünden. Blumentöpfe schmücken die hölzernen Balkone, und die Tochter des Wirts überreicht beim Abschied zierliche Sträuße – eine vollendete Beigabe zu der kleinen Rechnung, die kaum eine Rechnung zu nennen ist. Sie wird mit Kreide in so kleinen Beträgen auf den Tisch geschrieben, dass man die Überzeugung gewinnen muss, dieses Volk besitze jegliche Tugend unter dem Himmel.

    Die mittäglichen Halte unseres Kutschers brachten manche anmutige Erfahrung dieser Art. Und wenn man über Nacht bleibt, sind die ausgezeichneten Schlafgemächer selbst an Orten, wo man es gar nicht erwarten würde, so bequem und reinlich, wie sie nur sein können – und ganz ohne jenes frostige Aussehen, das in Englands Gasthäusern durchaus üblich ist. Die Möbel sind oft aus Nussholz, hübsche Holzschnitte oder Kupferstiche zieren die Wände und rote Decken die Betten. Doch leider dürfte das Tiroler Landgasthaus in seiner einnehmenden und gemütlichen Einfachheit nicht mehr lange leben. An den Hauptstraßen verschwindet es schon – dort, wo englische Reisende sich der Anmaßung überlassen, die unserem Volk oft zu eigen ist, und die bescheidene, anständige Kellnerin mit „Garçon!" rufen. Um solchem Geschmack Genüge zu tun, wachsen Hotels empor, wo dann wirklich bald der „Garçon" erscheinen wird.

    Ein angenehmes Gasthaus wie oben beschrieben ist jenes in Niederdorf, und nach einer langweiligen, staubigen Nachmittagsfahrt durch das lange Pustertal hinab, wurden wir von einem gleichen in Bruneck aufgenommen. Hier übte die Nähe der Dolomiten wieder große Anziehungskraft auf uns aus, denn im Süden öffnet sich hier das Gadertal, einer der großen Zugänge zu ihrer Abgeschiedenheit. In Verbindung mit dem Fassatal und dem Seitental von Gröden ist es der einzige Weg, den Murray angibt, um diese Berge zu besichtigen – wenn auch, wie wir später erkannten, der weitaus am wenigsten attraktive.

    Es war ein prachtvoller Abend und die Aussicht von der alten Burg zu Bruneck war herrlich. Das Schloss erhebt sich steil über dem hübschen Städtchen, das sich mit seinen schmucken Türmen an einen reißenden Fluss, die Rienz, anschmiegt. Das Tal von Taufers, das sich im Norden mit dem Haupttal vereinigt, bietet ein schönes Panorama der Tiroler Zentralalpen und macht die Lage ebenso imposant wie sehenswert.

    So entlegen der Ort auch ist, so hat er doch einen Platz in der europäischen Geschichte. Als Kaiser Karl V. im Jahr 1552 aus Innsbruck floh, um den Truppen des Kurfürsten Moritz von Sachsen zu entgehen, war sein erster Zufluchtsort diesseits des Brenners eben dieses Schloss Bruneck, das damit für kurze Zeit der Mittelpunkt der Herrschaft über fast die halbe Welt¹⁵ wurde. War es an solch einem Abend, dass der gichtkranke, alte Kaiser in seiner Sänfte den Schlossberg hinaufgetragen wurde? Oder eine fackelerhellte Nacht, in der sie ihn ächzend durch das Schlosstor schleppten?

    Amman war der höflichste aller Kutscher. Sein Gefährt war nicht geräumig und seine Pferde nicht besonders schön, doch gingen sie einen guten Schritt und ihr Herr glich auf der Straße einem Edelmann, der einige seiner Freunde spazieren fährt. Wir waren in sehr gutem Einvernehmen, als wir zu unserer zweiten Tagesetappe aufbrachen. Doch befürchte ich, dass unsere Gesellschaft eine Schlinge für sein Gewissen wurde. Wir hatten beobachtet, dass er – anders als die Kärntner Kutscher – keine Notiz von den vielen religiösen Darstellungen nahm, an denen wir vorüberkamen. Oder wenn er es tat, dann geschickt unter dem Vorwand, seinen Hut etwas bequemer zu richten. Wir haben diese Scheu in unserer Gegenwart auch bei anderen Gelegenheiten und stets mit Bedauern bemerkt. Denn wenn der Glaube vorhanden ist, soll er auch gezeigt werden, und es wäre unrecht, wenn man uns für fähig hielte, ihn ins Lächerliche zu ziehen.

    Ein kleiner Unfall ließ uns ahnen, was in Ammans Gemüt vorgehen mochte. Im Laufe des Morgens stolperte eines der Pferde und verletzte sich am Knie. Amman machte davon zwar kein großes Aufheben, bezeugte aber von diesem Augenblick an jedem Kreuz und jedem Bildstock die allergrößte Ehrfurcht. Kein Zweifel, dass er nun das Unglück seiner früheren Nachlässigkeit zuschrieb, und vielleicht glaubte er auch, seine vier Protestanten hätten ihm nichts Gutes gebracht.

    Die Häufigkeit dieser frommen Erinnerungszeichen in Tirol weckt eine günstige Meinung von der Frömmigkeit des Volkes. Doch dies ist eine heikle Frage und ich würde bezweifeln, dass man den Tirolern ein tieferes religiöses Gefühl zuschreiben kann als unserer protestantischen Bevölkerung. Der Reisende bedenke, wie schnell er selber aufhört, diese Zeichen der Ehrerbietung auch nur wahrzunehmen, vorausgesetzt, dass sie überhaupt Eindruck auf ihn gemacht haben. Und muss dies nicht noch mehr bei Menschen der Fall sein, die stets unter diesen Zeichen leben?

    In einem Dorf nahe dem Stelvio¹⁶ gibt es eine lebensgroße Figur des Erlösers unter einem Dach an der Straße. Aus einer Wunde an seiner Seite fließt ein Strahl Wasser, mit dem die Frauen den ganzen Tag lang ihre Eimer füllen. Dieses geheiligte Sinnbild dient als ein gewöhnlicher Brunnen! Wir können uns nicht vorstellen, dass die Wahrheit, die dadurch gelehrt werden soll, dem täglichen Leben nähergebracht wird. Dies ist gewiss ein extremes Beispiel und zeigt, gleich den frommen Redensarten, die manchen so oft und leicht über die Lippen gehen, dass deren Bedeutung gänzlich vergessen ist. Um den Wert dieser Dinge zu schätzen, muss man auch den „Fetisch"-Charakter gehörig würdigen, der mit einem solchermaßen geheiligten Gegenstand verknüpft wird. Obwohl die Figur seit langer Zeit aufgehört haben mag, ihre Lehre zu vermitteln und Bewegtheit auszulösen, würde deren Beseitigung doch zweifellos vom ganzen Dorf als Unglück betrachtet werden. Doch sie wurde vielmehr zum Palladion, zum geheimnisvollen Wächter des Ortes. Den Sinn mit der Vorstellung zu verwechseln – das ist die menschliche Natur überall nur allzu sehr gewohnt.

    Doch Tirol ist ein frommes Land. Noch auffallender als die vielen religiösen Erinnerungszeichen sind die Morgen- und Abendlitaneien, zu denen sich jedes Haus versammelt. Die bunte Dienerschaft der größeren Wirtshäuser trifft sich auf diese Weise regelmäßig zum Gebet im Flur, wo man sie – Männer und Weiber getrennt – auf ihren Knien sehen kann, während in der Dämmerung die einförmigen, feierlichen Gebete aus jeder Hütte zu hören sind. In Sterzing, das als ein bequemer Rastplatz am südlichen Fuß des Brenner fast nur aus Wirtshäusern besteht, blieben wir bei anderer Gelegenheit über Nacht, und um sieben Uhr abends war nicht ein Fuhrmann oder Müßiggänger auf der Straße zu sehen – aber aus jedem Tor drangen wie leichtes Donnergrollen die Bittgebete. Alle Ehre dem einfachen und frommen Tirol!

    So hielt also das gebrochene Knie unseres Kutschpferdes, das uns im nächsten Dorf etwas aufhielt, auch unsere Erzählung auf. Endlich erreichten wir den Ausgang des Pustertals, das im Ganzen wegen seiner landschaftlichen oder irgendeiner anderen Schönheit nicht besonders bemerkenswert ist. Die Frauenzimmer verunstalten sich selber durch den erstaunlichsten Kopfputz, den man sich vorstellen kann. Mehr als allem anderen gleicht er einem Bienenkorb: Es ist ein großes wollenes Zubehör, passend eher für Eskimos. Das Tal verengt sich zu einer Schlucht, sobald es sich dem weiten Eisacktal nähert, in das es in einem rechten Winkel mündet. Wo auch immer man in Tirol zu einer solchen Schlucht kommt, kann man sicher sein, dass sich dort irgendeine Szene des berühmten Jahres 1809 abgespielt hat. So auch hier: Jenseits der Straße markiert die Ruine einer Festung den Ort eines der heftigsten Kämpfe mit den eingedrungenen Franzosen.

    Nun erreicht man eine offene, hügelige Fläche. Zur Rechten sieht man den tiefen und waldigen Eingang zu der Schlucht von Mittewald, in der die Brennerstraße nach Innsbruck führt. Die weißen Umrisse einer österreichischen Festung – der Franzensfeste – zeigen, dass dies eines der Tore von Deutschland ist. Zur Linken hinab führt die gleiche Straße gen Süden, nach Brixen und Bozen. Dies war unsere Richtung. Nachdem wir durch das Pustertal die nördliche Seite des Dolomitengebietes umfahren hatten, wollten wir nun dasselbe auf der westlichen Seite tun. In Brixen, einer alten Bischofsstadt, die von Gärten und Weingärten umgeben ist, rasteten wir ein, zwei Stunden. Nach Süden zu wird das Eisacktal in seinen Zügen nun immer großartiger und die Vegetation reicher, obwohl es nur mehr oder weniger eine Klamm ist. Nachdem wir Klausen, eine schmale Häusergasse knapp am Ufer des rauschenden Flusses, hinter uns gelassen hatten, öffnete sich zur Linken das Grödental, doch in zu großer Höhe, um seine Landschaft zu enthüllen. Bemerkenswert ist es vor allem wegen des Langkofel, einem hervorragenden Gipfel, dessen Namen man sich einprägen sollte. Wir musterten jede Öffnung in dieser Richtung – aber vergeblich. Eine Mauer von Porphyr entzieht hier die Dolomiten den Blicken, und dies ist der Grund, weshalb gewöhnliche Touristen so wenig von ihnen wissen.

    Unsere Annäherung an Bozen im frühen Abendlicht war prachtvoll zu nennen. Hier erhoben sich dunkle und rote Porphyrfelsen, bekleidet mit dem weichsten, reichsten Laubwerk. Unterhalb dieser Felsen rankten Weinreben über jeden Sims und Absatz und füllten auch die Talsohle. Am Punkt, an dem hier vier Täler zusammentreffen und sich zu einer weiten Mulde gegen Italien hin öffnen, liegt Bozen, eine Stadt, die durch das glänzende grüne Dach und die

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