Schwarzbuch Alpen: Warum wir unsere Berge retten müssen
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Buchvorschau
Schwarzbuch Alpen - Matthias Schickhofer
QUELLEN
„MEINE" ALPEN
In die Berge bin ich schon fast immer gefahren. Das erste Mal mit sechs Jahren. Es ging nach Schladming, zu Sepp und Elsa im Untertal. Damals war das noch eine recht lange Fahrt. Ich erinnere mich noch, wie wir im Untertal ankamen und ich das erste Mal den Dachstein sah. Wir hielten an, am Rohrmoos, von wo man den riesigen Kalkstock gut sehen kann. Als Kind des Waldviertels waren mir solche Höhen bis dahin unbekannt. Die riesigen Berge stellten mein gewohntes Landschaftskonzept auf den Kopf. Ich war verzaubert. Und bin es noch heute.
Für mich war das Gebirge eine fremdartige, leere, freie, wilde, verwunschene Landschaft. Ich erfuhr von den dort lauernden Gefahren, ich erlebte mein erstes (furchterregendes) Gebirgs-Gewitter in einen Regenponcho gehüllt auf den Schultern meines Vaters. Und ich lernte, dass mit den Abgründen nicht zu spaßen ist. Es war meine erste Erfahrung mit so etwas wie „Wildnis".
Die Alpen waren für mich ein Übergang zu einer wilderen, freieren Welt, wo es Wind und Licht, Hitze und Kälte, hartes Gestein und weiche Matten (mit stechenden Gräsern) und jede Menge frische Luft, angereichert mit dem Duft der Berge, gibt.
Ich verbrachte die meisten meiner kleinkindlichen Urlaube in den Niederen Tauern, winters wie sommers. Den Geruch des alten Holzhauses oder des heimelig flackernden Herds im Zimmer (es gab noch keine Zentralheizung) habe ich heute noch in der Nase. Die Heimfahrten waren stets von Trauer begleitet. Und ich sehnte mich nach der nächsten Alpenfahrt.
Seitdem bin ich den Alpen treu geblieben – als Gast, als Umweltschützer und als Fotograf. Im Zuge vieler familiärer Aufenthalte, Bergtouren, Skiurlaube und beruflicher Reisen konnte ich beobachten, wie sich die Alpen veränderten, und gewann Einblicke in ihr Innenleben. Als Greenpeace-Campaigner und -Aktivist erhielt ich Einsicht in die vertrackte Problematik der alpinen Verkehrsmisere. Gemeinsam mit Einheimischen organisierte ich Proteste entlang der Transitachsen. Das Problem ist längst nicht entschärft.
Für Natur-Reportagen begab ich mich auf die Suche nach den letzten ursprünglichen Winkeln in den Alpen. Und wurde fündig: In abgelegenen Hochtälern und Gebirgszonen haben Urlandschaften überlebt, die heute teilweise unter Schutz stehen. Das gilt leider nicht für alle „wilden" Orte. Für Naturschutzfachleute gehören die Alpen zu einem der bedeutendsten Hotspots der Biodiversität in Europa. Gleichzeitig gelten sie als eines der am gefährdetsten Gebirgs-Ökosysteme der Welt.
Die Naturschätze der Alpen sind auch ein wertvolles Kapital für die hier lebenden Menschen: Dezentraler, „sanfter" Naturtourismus ist für viele Talschaften vermutlich die einzige Chance, die Abwanderung zu bremsen.
Im Februar 2017 besuchte ich Zermatt. Das ehemalige Bergdorf unter dem Matterhorn ist nur durch eine Art Gebirgs-S-Bahn von Großparkplätzen weiter unten im Tal erreichbar. Eine Großstadtszenerie am Rande der bewohnbaren Welt. Die Gornergrat-Bahn brachte mich auf über 3000 Meter. Dort steht ein Gebäudekomplex aus Hotel, Shoppingmall und Gastronomie. Drinnen werden Messer und Uhren verkauft, im Selbstbedienungsrestaurant gibt es teuren Cappuccino (und vertrocknete Lasagne).
Draußen wehte ein Föhnsturm. Eine chinesische Touristin sprach mich an. Sie sei hier mit ihrer Familie. Für einen Tag. Um „den Berg, das Matterhorn, zu sehen. „Der Berg
war allerdings unter dicken Föhnwolken verborgen. Die Gruppe trug Straßenschuhe, fror und alle waren im Gesicht dick mit Sonnencreme beschmiert. Jeder im Taktverkehr eintreffende Zug spülte weitere Selfies schießende Städter auf den Gornergrat, die dann etwas verloren an diesem grandios-unwirtlichen Ort herumstanden. Rundum herrschte Pistenbetrieb. Auf etlichen Graten waren Liftstationen zu sehen.
Hier waren die Grandezza und die Crux der Alpen auf einem Bild versammelt: die an sich nutzlose Schönheit der wilden Berge und der Versuch, sie der geschäftigen Menschheit zugänglich zu machen. Die Menschen sind hier aber ganz offensichtlich nur Gäste. Wenn die Elemente hier ungnädig werden, dann ist der Spuk schnell wieder vorbei. Technische Großanlagen sind besonders verwundbar. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es hier in 30 Jahren aussehen könnte – wenn Gletscher- und Permafrostschmelze ihre unheilvollen Spuren vertieft haben werden.
Dieses Buch ist keine umfassende oder wissenschaftliche Aufarbeitung der Situation der Alpen. Vielmehr eine subjektive Zusammenstellung von aktuellen Schlaglichtern auf einige Themen, die mir wichtig erscheinen. Über Lösungen wurde viel nachgedacht und geschrieben. Die Materialien, die in Zusammenhang mit der Alpenkonvention erarbeitet wurden, bieten eine Unzahl von mehr oder weniger konkreten Ansätzen. Es gibt keine Patentlösung. Aber vielversprechende Modelle für einen besseren Umgang mit unseren Bergen und für ein gutes Leben in dieser einzigartigen Region.
Die Alpen verdienen einen radikalen Wandel in unserer Wahrnehmung und in unserem Umgang mit ihnen. Möge dieses Buch einen Anstoß dazu geben.
DIE EROBERUNG DER ALPEN
Am Beginn stand eine gewaltige Kollision: Vor 230 Millionen Jahren bildete sich zwischen Eurasien und Afrika ein seichtes Meer, die Tethys. Diese Senke füllte sich langsam mit abgestorbenen Lebewesen und Schutt. Daraus wurde später das Kalkgebirge. Dieser Vorgang spielte sich in vier Sedimentationsbecken ab, dem „Helveticum, dem „Penninikum
, dem „Ostalpin und dem „Südalpin
. Die Namen geben Hinweise auf die Alpengebiete, in denen sich diese Sedimentgesteine heute befinden.
Vor 100 Millionen Jahren begann die afrikanische Platte gegen den eurasischen Kontinent zu driften. Die riesigen Landmassen schoben sich in extremer Zeitlupe übereinander, durch diese Verfrachtungen entstanden verschiedene Gesteinsdecken und die Sedimentablagerungen wurden nach Norden bewegt.
Vor etwa 30 Millionen Jahren setzte die alpidische Hebung ein: Die afrikanische Platte drückte stärker gegen die eurasische Landmasse und aus den Alpen wurde allmählich ein Hochgebirge. Flüsse und Eiszeitgletscher modellierten die alpinen Tallandschaften. Die Bewegung der Kontinentalplatten ist nicht zum Erliegen gekommen: Jedes Jahr rückt Rom einen halben Zentimeter näher an den Bodensee.
Wasser und Eis (Eiszeiten) bewirken eine beständige Abtragung der Alpen, ohne sie wären die Alpen wesentlich höher, zwischen 8000 und 10.000 Metern.
Zum Ende der letzten Eiszeit, vor etwa 12.000 bis 10.000 Jahren, waren die Alpen sehr wild und fast menschenleer. Damals wichen die riesigen, ganze Täler füllenden Gletscher, die viele Kilometer in das Alpenvorland vordrangen, wieder zurück und hinterließen zunächst eine Kältesteppe.
Bis vor etwa 10.000 Jahren lebten in Europa noch fantastisch anmutende Tiere wie das Woll-Mammut oder das Woll-Rhinozeros. Große Pflanzenfresser wie Wisente und Elche waren auch in den Alpen heimisch. Wisent-Knochen wurden im Alpenraum bis in große Höhenlagen gefunden.¹ Noch im Frühmittelalter waren Wisente in Europa verbreitet.
Die einst vorherrschenden größeren Pflanzenfresser in den Alpen – Wisente, Elche, Steinböcke – wurden (bis auf Hirsche und Gämsen) ausgerottet oder stark dezimiert. Steinböcke waren bis in die Jungsteinzeit in verschiedenen Bergregionen das vorrangige Jagdwild. Um 1800 gab es nur mehr etwa 100 Tiere im italienischen Gran-Paradiso-Nationalpark. Im letzten Moment konnten diese Tiere geschützt und ein völliges Aussterben abgewendet werden. Mithilfe von Wiederansiedlungsprogrammen gelang es, den Steinbock in vielen Alpen-Gebieten wieder heimisch zu machen.
Als das Eis zurückwich, setzte auch die kontinuierliche Wiederbesiedlung durch die Menschen ein. Die frühen Siedler lebten als Jäger und Sammler. Aber schon früh begann die industrielle Nutzung der Alpen: Wie neue Forschungen ergeben haben, begann der Salzabbau in Hallstatt vermutlich deutlich früher als bisher angenommen. Bereits um 5000 v. Chr. wurde die Landschaft in diesem Gebiet intensiv bewirtschaftet. Hallstatt ist eine der ältesten Kultur- und Industrieregionen der Welt.
In der Jungsteinzeit bildeten sich sesshafte Bauernkulturen. Um die Mitte des 5. Jahrtausends v. Chr. wurde der zentrale Alpenraum für die Menschen auch als Dauersiedlungsraum interessant. Das führte zu einer zunehmenden Nutzung und Abholzung von Wäldern, zunächst im Einzugsbereich der Siedlungen. Auf den gerodeten Flächen wurde Ackerbau betrieben, im Wald weidete das Vieh.
Die bekannteste Gletschermumie, der „Ötzi", stammt aus dem Zeitraum um 3200 v. Chr. Damals lebten die meisten Menschen bereits von Ackerbau und Viehzucht.
In der Bronzezeit (ca. 2200 v. Chr.) verdichtete sich die menschliche Präsenz. Die Menschen stiegen bereits auf die Berge, entfernten alpine Waldbestände und nutzten die frei werdenden Flächen als Sommerweiden. Davon zeugen Funde von Werkzeugen und Felsbildern in großen Höhen.
Die Römer begannen die Alpen systematisch zu erschließen und schufen ein erstes, großes Wegenetz. Das war die Grundlage für die Ausbreitung des Handels und der „Zivilisation". Der Brennerpass wurde bereits im 2. Jahrhundert mit einer Straße gebändigt. Gehandelt wurde mit Salz, Holz oder Wein. An den Wegen entstanden Orte mit Herbergen, an den Kreuzungen und bei wichtigen Rohstoff-Abbaugebieten bildeten sich Städte.
Salz war im Mittelalter die begehrteste Handelsware. Viele alpine Ortsnamen mit dem Wort „Hall" (das keltische Wort für Salz) zeugen von der Bedeutung der Salzgewinnung, etwa Reichenhall, Hallein oder Hall in Tirol. Ausgehend von den Salinen und Salzbergwerken in den Alpen entstanden Salzstraßen – Handelswege für den Salztransport zu den großen Städten.
Die Salzproduktion veränderte die Landschaft: Wälder wurden als „Salinenschläge abgeholzt, um Holz für die Befeuerung der Siedepfannen zu gewinnen. Das Holz für die Salinen musste „leicht
sein, was die Anpflanzung von Fichten begünstigte.
Salzgewinnung und Bergbau brachten auch große Veränderungen für die Gesellschaft: An etlichen Orten schürften Tausende Knappen nach den begehrten Bodenschätzen. Das förderte auch die Ausbildung relativ fortschrittlicher Sozialsysteme. Bergbau-Städte wuchsen und wurden reich. Insgesamt entwickelte sich die Urbanisierung im Alpenraum aber viel langsamer als im europäischen Tiefland.
Die Landschaft der Alpen, wie wir sie heute kennen, wurde maßgeblich durch die Landwirtschaft geprägt: Die Täler und Almen der Alpen sind eine alte Kulturlandschaft mit lange zurückreichenden bäuerlichen Traditionen. Bergbauernhöfe wurden selbst in hoch gelegenen, oft nur schwer zugänglichen Lagen errichtet. Der Süden – die romanische Region – und der Norden – die germanischen Regionen – unterscheiden sich hinsichtlich der Bewirtschaftungsformen: In der romanischen Bergbauernwirtschaft haben Ackerbau und Milchwirtschaft den gleichen Stellenwert. Die sonnigen Lagen werden für den Ackerbau genutzt, auf schattigen und höher gelegenen Flächen finden sich Weiden. Es gibt Winter-, Sommer- und Almsiedlungen. Dank Realerbteilung bestehen die Siedlungen aus kleinen, verwinkelten Steinhäusern, die als „Haufendörfer" auf den oft steilen Sonnenhängen kleben. Die romanischen Bergbauern waren wirtschaftlich autark. Nur Salz, zur Konservierung von Lebensmitteln, musste zugekauft werden.
Der Norden der Alpen weist ein feuchteres und kühleres Klima auf, was den Anbau von Getreide erschwert. Die germanische Berglandwirtschaft hat sich daher auf Grünland- und Viehwirtschaft spezialisiert. In den Nord- und Ostalpen fehlen somit Ackerterrassen. Weide und Wald gehören zum Hof, Allmende-Flächen (gemeinschaftlich bewirtschaftete Wälder oder Almen) gibt es im Unterschied zum romanischen Raum nicht. Almwirtschaft ist nur wenige Wochen im Jahr möglich. Meist erbt nur ein Sohn, daher dominieren über die Hänge verstreute, stattliche Bauernhöfe, die oft aus Holz gebaut sind. Die Bevölkerungsdichte in der romanischen Region ist viel höher, weil Ackerbau mehr Menschen ernähren kann.
Im späten 18. Jahrhundert entdeckte man die ästhetischen Reize der alpinen Welt. Die Alpen waren längst eine überwiegend vom Menschen geprägte Kulturlandschaft, mit Ausnahme der Zonen im Hochgebirge und der Steilhänge, die für die Nutzung ungeeignet waren. Das tat der Begeisterung der ersten Touristen für diesen – im Vergleich zum übrigen Europa – relativ naturnahen und daher faszinierenden Raum keinen Abbruch.
Die „Entdeckung der Alpen durch den städtischen Tourismus führte zu einem Umbruch in der Wahrnehmung und Bewertung dieses Gebirges in der Mitte Europas. Für die Bewohner waren die Alpen ein mit Gefahren und Mühsal verbundener, aber „alltäglicher
Lebensraum. In den Städten hingegen dominierte das Bild der „schrecklichen Berge, die von mehr oder weniger kulturlosen (weil fernab der kulturellen Zentren lebenden) Menschen bewohnt werden. Der Alpenforscher Werner Bätzing spricht in diesem Zusammenhang von einem „Zerrbild, das mit der Realität dieses Gebirges wenig zu tun hat
², weil bereits das Leben in diesem Raum eine hohe Kulturleistung darstellte.
Die Bewertung der Alpen als „schreckliches Gebirge wandelte sich zum ästhetisch verklärten Bild der „schönen Alpen
. Bätzing zufolge verlor die Natur aufgrund der „Herausbildung der modernen Naturwissenschaften und der „rationalen Weltsicht in Form der Aufklärung
ihren Schrecken. Es entstand eine neue ästhetische Deutung einer „schrecklich-schönen Gebirgswelt, ein verklärtes, ländliches Idyll vor einer bedrohlichen, alpinen Kulisse. Laut Bätzing ist dieses neue „romantische
Alpenbild ebenfalls ein Zerrbild, weil die Landschaft der Alpen nicht überall schön sei, man denke etwa an Geröll- und Schuttlandschaften.
HEILE, ROMANTISCHE ALPEN-WELT
Die einsetzende Natur- und Alpenbegeisterung in den urbanen Zentren wurde auch genährt durch Veröffentlichungen wie jene des Schweizer Naturforschers Horace-Bénédict de Saussure, der als Pionier der Alpenforschung und Wegbereiter des Alpinismus gilt: Er bestieg als Erster das Klein Matterhorn und führte eine erste wissenschaftliche Besteigung des Mont Blanc durch, bei der er den