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Abenteuer Einsamkeit: Moderne Einsiedler
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eBook276 Seiten5 Stunden

Abenteuer Einsamkeit: Moderne Einsiedler

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Über dieses E-Book

Was veranlasst einen Menschen unserer Zeit, seinen Job aufzugeben und sein komfortables Leben gegen ein Einsiedlerdasein einzutauschen? Der belgische Schriftsteller Freddy Derwahl hat sich von den Ardennen über den Berg Athos bis in die innere Wüste Ägyptens auf den Weg zu diesen "Verrückten" und Sonderlingen gemacht und erzählt ihre unglaublichen Lebensgeschichten. Der Trappistenmönch, Schriftsteller und Mystiker Thomas Merton ist nur der bekannteste von ihnen. Derwahl geht es aber nicht um oberflächliche Sensationslust. Sensibel spürt er dem Geheimnis und dem spirituellen Profil dieser ungewöhnlichen Zeitgenossen nach.
SpracheDeutsch
HerausgeberTopos
Erscheinungsdatum9. Jan. 2017
ISBN9783836760638
Abenteuer Einsamkeit: Moderne Einsiedler

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    Buchvorschau

    Abenteuer Einsamkeit - Freddy Derwahl

    Sélignac

    Die Schönheit kam im

    Verborgenen

    Vorwort

    Über Einsiedler zu schreiben war ein spannender Auftrag. Was waren das für Menschen: Weltflüchtlinge, Sonderlinge, Frömmler, Versteckte, vielleicht gar etwas psychopathisch? Allein schon der Zugang schaffte Probleme: Wo sie finden, sie kontaktieren, ihre Zustimmung erhalten? Güte und Zufälle halfen. Seit 1963 kannte ich Gabriel Bunge, der als Eremit in der Schweiz lebt; er überlegte und sagte „Ja, als Dank für unsere lange Freundschaft". In einem norddeutschen Kloster traf ich den koptischen Bischof, der spontan vorschlug, mich in die Salzwüste Ägyptens zu begleiten. Ein Freund von Thomas Merton, der Trappist Charles Dumont, erzählte über ihre persönlichen Begegnungen. Der griechische Außenminister verhalf mir zu einem Sonderaufenthalt auf dem Heiligen Berg Athos. Mit der Übersetzung eines Buches von Kardinal Suenens erhielt ich Zutritt in eine entlegene Kartause. Eine kleine Notlüge öffnete mir die Türe zur verborgenen Zelle einer Reklusin auf dem Aventin in Rom. Überall großartige Köpfe, intensive Lebensgeschichten. Das Vertrauen wuchs, man ließ uns sogar filmen. ORF, ZDF, Arte und BRF zeigten die Reportagen, die mit einem internationalen Fernsehpreis ausgezeichnet wurden.

    Die Überraschung war ja, dass ich bei den zweijährigen Recherchen keineswegs Weltfremde oder Verirrte traf, sondern starke Menschen. Jeder verschieden mit seinem besonderen Charisma, keineswegs abweisend und mit beiden Füßen auf dem kargen Boden ihrer jeweiligen Einsamkeit. Echte Abenteurer, die in unserer amüsierten Zeit der Gottvergessenheit allein seine Nähe suchten. Gewiss am Tag, aber auch nachts, wenn die Stille alles bedeckte. Keine Selbstverliebtheit trieb sie um, sondern eine enge Beziehung zur Welt, die sie nicht hinter sich gelassen, sondern mitgenommen hatten. „Wüste", nannten sie ihre Hütten und Höhlen. Die meisten lebten vom Minimum. Besucher kamen selten, und es war gut so. Im Garten und ringsum im Wald packten sie an. In den rauen Händen die zarten Seiten der heiligen Bücher. Das einzig Notwendige.

    Bei der Überarbeitung dieses Buches machte ich eine überraschende Entdeckung: In den 16 Jahren seit seiner Veröffentlichung sind die eigentlichen „Inhalte die gleichen geblieben. Mehr noch, sie haben in der zeitlichen Distanz eine Frische bewahrt, die jenes „Abenteuer Einsamkeit als Fortsetzungsgeschichte erscheinen lässt. Das Einsiedlertum breitet sich seit den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts, in der Folge der erschütternden Biografien von Charles de Foucauld, Siluan und Thomas Merton, stetig aus. Im befreiten östlichen Europa gewiss auch als Folge des Wiederauflebens des Mönchtums, im Westen kurioserweise als eine kleine, aber starke Alternative zum dramatischen Rückgang klösterlichen Lebens.

    Es gibt diskrete Hinweise auf Veränderungen. Waren die „Wüstenmütter" in den Eremitagen der Sketis oder des Wadi Araba im frühen Christentum noch eine Ausnahme, die meist erst bei der Waschung der Leichen entdeckt wurde, ist heute die Zahl der Einsiedlerinnen auf markante Weise gestiegen. Sie sind nicht mehr eine Minderheit in der Minderheit. Ihre Zeugnisse entsprechen einer Tendenz, die sich im spirituellen Leben weiter ihren Weg bahnt: ad fontes, zurück zu den Quellen. Diese finden sich vor allem in den „Apophtegmata, den Weisungen der Wüstenväter aus dem 3. und 4. Jahrhundert. Ihr illusionsloser Blick für den geistlichen Kampf gegen die „Dämonen haben manche Klöster aus ihrer Lethargie befreit und den Einsiedlern die innere Kraft gegeben, „in der Zelle auszuharren". Kurze Sprüche, demütige Mitteilungen und väterliche Ratschläge über die entscheidenden Dinge mönchischer Herausforderungen.

    Da verwundert es, dass in einer Zeit davoneilender Hochtechnologie eine Weisheit wieder auflebt, die in ihrer Schlichtheit naiv wirken könnte. Altvater Kolobos mahnt: „Nichts als Mühsal ist der Mönch. Der Einsiedler Antonios warnt die Jüngeren vor Angriffen des Widersachers „bis zum letzten Atemzug. Evagrios Pontikos steigt von Ungeziefer übersät in einen Brunnen. Ein Mitbruder behält zur Einübung des Schweigens mehrere Jahre einen Kieselstein im Mund.

    Kein Zweifel, dass der christliche Osten mit seiner mystischen Tradition, den nächtlichen Liturgien und dem Siegeszug der Ikonen das wachsende Phänomen des „Abenteuers Einsamkeit maßgeblich prägt. Die Anziehungskraft, die der Heilige Berg Athos seit Ende der Sechzigerjahre ausstrahlt, hat viele junge Christen aus Europa und den USA in das Felsenkloster von Simonos Petras und in die Einsiedeleien von Katounakia geführt. Ein „Metochion, eine Außenstelle der Mönchsrepublik, wurde in Frankreich gegründet. Der Philosoph Martin Heidegger, der mit einer Athosreise liebäugelte, beklagte dabei die „tobende Welt der Technik, noch bevor von Digitalisierung die Rede war. Er wusste: Fortschritt im Geistesleben geht den entgegengesetzten Weg: im Schweigen, langsam zurück in die Reinheit des „Wortes. Dann nichts anderes als „im Dank stehen".

    Die Neufassungen in diesem Buch betreffen Todesfälle oder die Änderung von Lebensumständen. So war eine der schönsten Begegnungen auf meiner langen Einsiedler-Reise von Karelien bis in die innere Wüste Ägyptens der Besuch bei dem amerikanischen Eremiten, dem Poeten Robert Lax auf Patmos. Als Autor sollte ich der letzte Gast dieses „Meisters der Entschleunigung sein, von dem eine Zeitung nach seinem Tod im September 2000 schrieb: „Gestern haben sich die Himmelspforten für einen der Heiligen geöffnet …

    Der in den Bergen des Tessins lebende Einsiedler Gabriel Bunge, dessen Schriften zu den Klassikern der zeitgenössischen spirituellen Literatur zählen, trat im August 2010 zur russischen Orthodoxie über. Auch ich zählte zu den Kritikern des alten Freundes, doch lassen seine glücklichen Gesichtszüge während der Nachtwache in der Moskauer Kirche der Gottesmutter-Ikone „Freude aller Trauernden" erkennen, dass es wohl seine Berufung war, diesen schwierigen Weg zu gehen.

    Im Kapitel über das außergewöhnliche Leben der Reklusin Nazarena ist alles gesagt. Doch erlaubte mir im Herbst 2008 die Pfortenschwester des Camaldoli-Klosters auf dem Monte Sabina in Rom, ihre dunkle Zelle zu besuchen. Da stand noch der Holzkasten ihres Bettes, wo sie auf einem Kreuz schlief. Ein kleines Fenster zur Kapelle, wo sie das Offizium mitbetete. Getrocknete Blumen für die Handarbeit. In der Schublade die Peitsche für die Selbstgeißelung, ein Gürtel mit spitzen Nägeln.

    Meine belgischen Freunde, der Eremit Jacques Winandy und der Trappistenmönch Charles Dumont leben nicht mehr. Nach einer Weltreise auf der Suche nach einem einsamen Ort ruht P. Jacques auf dem Friedhof seiner ehemaligen Abtei Clervaux in Luxemburg. Der Dichter P. Charles starb in der Frühe des Weihnachtsfestes 2009. Von ihm stammt das „Eremitische Journal von der Liebe, das in der Erstausgabe dieses Buches noch mit dem Pseudonym „Pater M. erschien.

    Die Eremiten-Zellen aus dem Schlusskapitel „Sterne über Sélignac" stehen seit 2001 verwaist. Die Kartäuser mussten wegen Nachwuchsmangels den einsamen Ort aufgeben und zogen sich in die Klöster von Montrieux und La Grande Chartreuse zurück. Doch der Bericht behält seinen ganzen Wert, denn das strenge Leben, die Tag- und Nachtgebete sowie die Gestaltung der Örtlichkeiten mit den Häuschen und Gärten am Großen Kreuzgang sind im nie reformierten Einsiedler-Orden die gleichen geblieben.

    Dieses Buch zu schreiben und neu zu überarbeiten war eine spannende, jedoch schwierige Aufgabe. Eremiten führen ein Leben in der Verlassenheit und Stille. Nichts liegt ihnen ferner als Neugier und Werbung, sie scheuen die Öffentlichkeit. Möglich wurde dieses Projekt nur deshalb, weil sich der Autor verpflichtete, diesen Lebensstil in keinster Weise zu stören und in seinen Berichten dem tiefen Grund ihres Wagnisses auf der Spur zu bleiben: getrennt von allen, vereinigt mit allen.

    Die Herausforderungen waren hart. In den Wüstenklöstern Bishoi und Baramos herrschte die radikale Regel der Fastenzeit. Die koptische Weihnachtsvigil dauerte zwölf Stunden. Der schwerkranke Robert Lax war nur nach Sonnenuntergang ansprechbar. Vater Gabriels Zelle blieb verschlossen. Die Eremitagen der Kamaldulenser lagen in unwegsamem Gebirge. Beim Nachtoffizium in Sélignac sank die Temperatur auf minus 24°. Thomas Mertons Liebesgeschichte erfuhr man nur stückchenweise. In der Höhle von Abba Makarios kroch eine giftige Natter. Ein Unwetter am Athos-Kap verhinderte drei Tage den Aufstieg.

    Aber, aber. Die Schönheit kam im Verborgenen. Das Warten öffnete in eine andere Welt. Die Gnade leuchtete in lapidaren Details. Die Glut eines Blicks lohnte alle Mühe. Da waren Hände, die unvergessen bleiben. Worte, die für ein Leben reichen. Plötzlich wirkte die Einsamkeit wie bewohnt, die Armut wie ein Geschenk. Kamen Tränen, dann nicht aus Trauer. Die Nacht war nicht finster. Dann nahmen die einsamen Männer und Frauen das alte vergilbte Buch, die seit Jahrzehnten gelesenen heiligen Schriften und Psalmen: Klagen, Jubel, Hilferufe, Schreie, manchmal auswendig, nur noch ein Flüstern. Tiefer hinein in die Intimität Gottes, dessen Liebe sie so glücklich macht.

    Eupen, am Fest Johannes’ des Täufers, 2016

    Freddy Derwahl

    Der Sprung von der Brücke

    Dieser kleine, schlanke Mann mit den dichten Afrolocken: Er wirkte nicht wie jemand, der für die Einsamkeit eines Klosters bestimmt ist, eher wie ein den Theaterproben entlaufener Komödiant. Er wäre auch als Straßenmaler oder Jazzpianist auf Montmartre durchgegangen. Als einer, der die Farben liebt, nachdenklich klimpert, der, wenn er rechnete, mit Wundern rechnete. Dass also Frère Mathieu nicht bleiben würde, schien eine abgemachte Sache zu sein. Kam die Sprache auf das vermeintliche oder bevorstehende Ende seiner Probezeit, bezeichnete er solche Mutmaßungen allerdings als „Kalendergeschichten und Ausgeburten einer „Stoppuhren-Mentalität. Er tat dies mit so furiosem Unterton, dass man über seine unter dem friedlichen Benediktiner-Habit schlummernde Gereiztheit schmunzeln musste. Er strahlte eine Art maghrebinischer Verschlagenheit aus, die zu einem abendländischen, der Keuschheit, Armut und dem Gehorsam verpflichteten Orden nicht passen wollte. Wo immer der flippige Zottelkopf auftauchte, löste er Staunen aus. Seine Repliken auf Anspielungen auf sein Mönchsein erwiesen sich als kleine Meisterwerke der Scharfzüngigkeit. Da schoss ein tückisches Gemisch aus pechschwarzem Sarkasmus und pikanten Bibelzitaten über die Klosterflure, sodass die Urheber des Spotts rasch in Deckung gingen. Schließlich schritt er mit kaum gezügeltem Triumph durch die sich lichtenden Reihen der Beobachter, als wollte er fragen: „Ist da noch jemand? Will noch einer sein Maul aufreißen?"

    Mathieu war 28 und verkrachter Philosophiestudent mit kurzem Übersetzervolontariat in einem Verlagshaus des linken Seine-Ufers. Als er in der Abtei des Heiligen Erlösers um Aufnahme bat, geschah dieser Wechsel in die Ardennen überraschend und geräuschlos. Es gab da im Vorfeld offenbar eine Affäre, aber außer Geraune erfuhr man nicht viel. Übrigens war sein wirklicher Name nicht „Mathieu" – und auch das Kloster, in dem ich ihm in den späten Achtzigerjahren begegnete, hieß anders. Bestimmte Beteiligte an der Geschichte wollen nicht genannt werden. Aber die Geschichte selbst ist keine Fiktion. Sie hat sich im Detail so zugetragen, wie ich sie erlebte. Und sie muss erzählt werden.

    Ich hielt diesen „Mathieu zunächst für einen jener eingebildeten Pariser Linksintellektuellen, die die Weltrevolution verkünden und sich nach der ersten enttäuschten Liebe zu klösterlichen Schnuppertagen berufen fühlen. Doch dann kippte er mir im Refektorium als Tischdiener eine brühend heiße Tomatensuppe über die Jeans. Ich schrie auf, und er sagte leise: „Scheiße.

    Als er sich nach dem Essen mit hochroten Wangen entschuldigte, antwortete ich zugeknöpft, dies als einen „Anschlag revolutionärer Zellen zu betrachten und das „Blutvergießen beim nächsten Essen heimzuzahlen. Er hat nur schüchtern gelächelt, aber hinter den runden randlosen Gläsern seiner Gandhi-Brille erkannte ich plötzlich eine Spielart von Melancholie, von der man nicht weiß, wo Trauer und Müdigkeit, vielleicht sogar Lebensmüdigkeit, ineinanderfließen. Viel später gestand er, meine Empfindungen wie mit einem Echolot bis in die letzten Fasern registriert zu haben. Er nannte dieses heimliche Abtasten „alarmbereite Vorfeldsicherung". Mathieu dachte mit seinem klugen Afrokopf, den er bald dem Klosterfriseur zum Schnitt vorlegen wollte, tiefenpsychologisch um die Ecke. Er musste wohl seine Gründe haben.

    Eine verschüttete Suppe! Nie in meinem Leben hat etwas ähnlich Banales so viel an erregendem, abenteuerlichem Erwachen ausgelöst. In Wahrheit brachte dieser erste Blickkontakt, ohne dass wir es ahnen konnten oder eine Absicht gehegt hätten, seine und meine Trauer für Sekundenbruchteile auf eine gemeinsame Wellenlänge. Sogleich war wortlose Verständigung. Das, was wir nicht nur vor aller Welt, sondern auch vor uns selbst mit Todschweigetricks oder defensiver Frivolität zu verbergen verstanden, löste sich in dieser tragikomischen Begegnung über dem bespritzten Tischtuch. Es war weder blindes Vertrauen noch ein Erkennen auf den ersten Blick, sondern das überrumpelnde gemeinsame Erstaunen über die plötzliche Nacktheit unserer verletzten Herzen.

    Mathieu trat als angehender Mönch in mein Leben, als ich gerade als Anwärter auf dieses Leben gescheitert war. Das, worauf er sich mit einem unverkennbaren Hauch an Kühnheit für immer festzulegen schien, war mir wenige Monate zuvor verweigert worden. Spät, offenbar zu spät, hatte ich den Versuch unternommen, in das Trappistenkloster Abbey of the Genesee im amerikanischen Bundesstaat New York einzutreten. Aber der Abt, Dom John Eudes, kannte kein Erbarmen. Zwar hatte ich auf seine gezielte Frage, ob ich die Keuschheit leben könne, die devote Antwort gegeben: „With the help of the Virgin", doch meinte er mitleidvoll lächelnd, das reiche nicht. Er wolle seine betont eremitisch lebende Gemeinschaft derlei Risiken nicht aussetzen. So kehrte ich schließlich ernüchtert und niedergeschlagen nach Europa zurück. Mathieu war der erste Mensch, mit dem ich nach diesen Ereignissen zu sprechen wagte.

    Er war ja nicht nur dabei, meine eigenen, jäh zusammengebrochenen Mönchsträume zu verwirklichen, sondern gab mir sofort zu verstehen, dass ich mich deshalb nicht schämen müsse. Er habe eine nicht minder dramatische Vorgeschichte. Und es sei daraus nur zu lernen, dass es zwischen Gott und dem Menschen Ereignisse gebe, die unsere schönen Inszenierungen vom Leben einfach über den Haufen werfen. Sein Eintritt in die Abtei, so ließ er mich bald wissen, beruhe keineswegs auf einer erbaulichen Geschichte, sondern auf tragischen „Zufällen, deren Schrecken nach wie vor präsent seien. Und da ein anderer offenkundig die Fäden gezogen habe, sollte er vielleicht von „brutaler Gnade sprechen. Ich horchte auf, doch verschlug mir der Verlauf seiner „Berufung" bald die Sprache. Seine Geschichte spielt im Pariser Studenten- und Intellektuellenmilieu und mutet wie das Drehbuch zu einem Stück an, das in den Fünfzigerjahren in Pariser ExistenzialistenKellern hätte verfasst werden können.

    Mathieu, der an der Sorbonne studiert, lebt zusammen mit David in einer mehrere Räume umfassenden Wohnung in der Rue St. André-des-Arts; es ist mehr als eine Wohngemeinschaft, jedoch keine sexuelle Beziehung. Beide sind heterosexuell und leben das. Was sie in der Folge immer enger verbindet, ist eine Marotte, ein literarischer Topos, eine „idée fixe", in die sich beide sukzessive hineinsteigern. Hintergrund ist das geistige Vakuum, die selbstverständliche Geltung einer nihilistischen Sicht auf die Dinge. Nichts geht, nichts ist etwas wert. Das Leben ist völlig ohne Sinn. Machen wir etwas daraus.

    Was nun die Marotte betrifft, so nennt Mathieu sie „mein obsessives Abschiedstrauma", eine Besessenheit der Loslösung von allem, was Freude macht und Wert hat. Sind die psychischen Ursachen dieser Einstellung bei Mathieu noch nachvollziehbar – er spricht von der grauenhaften Trennung der Eltern, vom Verrat des Vaters an der aus Algerien stammenden Mutter, die er öffentlich betrog –, so bleibt das, was David zum Mitspielen bewog, im Dunkeln. Vielleicht habe ich Mathieu auch nicht danach gefragt.

    Anfangs lesen sie nur und tauschen sich über bestimmte Autoren aus, so die französischen Existenzialisten und Nihilisten der Nachkriegsära, vor allem Camus, aber auch Sartre. Alles wird der Kritik unterzogen und geistig unterminiert, aber es bleibt nicht bei der negativen Ästhetik, beim verächtlichen Blick und bei geistigen Formen des Abschieds. Das Spiel mündet in eine Praxis der radikalen Reduktion, in einen von beiden in gegenseitiger Herausforderung betriebenen fatalen Wettstreit, der sich gegen die normalen Bedürfnisse und Freuden richtet, sie nach und nach eliminiert und in diesem Prozess der Auslöschung gegen Null tendiert. Ab einem bestimmten Punkt: keine alkoholischen Vertröstungen mehr, keine illuminierenden Versuche mehr mit Psychopillen, mit irgendwelchem Stoff. Keine dauerhaften Beziehungen zu Frauen, bestenfalls da und dort ein verbrennendes Abenteuer. Beziehungen erscheinen „heftig und belastend, nur Umklammerungen …". Mathieu erinnert sich daran, eines Tages das dreibändige Dictionnaire Quillet, ein Weihnachtsgeschenk seines Vaters, aus dem Haus gebracht und bei einem Buchhändler seine Sartre-Taschenbuchausgabe verhökert zu haben. Nur von Rimbaud wollte er sich noch nicht trennen.

    Die beiden leben ein Leben sorgfältig arrangierter Abschiede. Es gibt für sie nichts als das Abhorchen einer immensen, nur mühsam unterdrückten Trauer. Neues tritt nicht an ihren Horizont. Zen erregt wegen seiner puristischen Kargheit kurz ihre Aufmerksamkeit, auch der Buddhismus ist ihnen, seiner skeptischen Weitsicht halber, einen Blick wert, doch empfinden sie schließlich, wie Mathieu es formulierte, „das Getingel all der Himalaya-Mönche durch die politischen Akademien" als desillusionierend.

    Goethes Werther hat mich immer bedrückt – heikle Pubertätsliteratur, auch wenn mir sehr wohl bekannt war, dass der Roman im 19. Jahrhundert unter jungen Leuten eine ganze Welle von Selbstmorden ausgelöst hat. Selbstmord siedelte ich ausschließlich auf dem Terrain der Psychopathologie an. Plötzlich saß mir mit Mathieu ein Mensch gegenüber, der mir plausibel machte, dass man sich tatsächlich in Freiheit für den Tod entscheiden kann, ohne im Geringsten depressiv oder unheilbar krank zu sein. In langen nächtlichen Sitzungen machen er und David sich mit dem Thema vertraut, tasten sich persönlich immer näher heran. Natürlich auch anhand des Werther, doch stößt beide die romantische Attitüde ab. Auch die einschlägigen Villon-Gedichte legen sie wieder beiseite. Mehr finden sie bei den Theoretikern des Hand-an-sich-Legens, Pavese und Améry.

    Irgendwann überschreiten sie den Rubikon, treten aus dem Stadium der Theorie heraus und erfinden schließlich eine ihnen angemessen erscheinende Inszenierung: den gemeinsamen Sprung vom Pont-du-Gard, dem römischen Aquädukt in der Provence. „Ein enormer Luftzug im Morgengrauen eines Frühlingstages, so lautet ihr tödlicher Plan, „ein befreiender Absturz zwischen romanischen Bögen. Mathieu schildert mir den Sarkasmus, mit dem sie sich die Tat bis ins Detail ausmalten: Die Entdeckung der Leichen durch die erste Busladung japanischer Fototouristen. „Den Göttern der Frühe und der Kirschblüten ein reines Opfer."

    Dann nimmt das angekündigte Drama seinen Lauf. Am Samstag nach Ostern im Jahr 1983 fahren sie nach Uzès, flanieren am Abend durch die Altstadt. Im Schatten mächtiger Kastanien an der Tour Fenestrelle trinken sie einen Pastis und bemerken nicht ohne Stolz, in einem uralten Land der Ketzerei zu sein, wo Arianer, Albigenser und Calvinisten einst heldenhaften Widerstand geleistet hatten. Zwischen den Wehrtürmen lassen sie sich bei „Fontaines" ein opulentes Menü auftischen und trinken dazu einen Liter Rosé aus dem Weingut von Terrebrune. Nach Mitternacht fahren sie zur fatalen Brücke und warten auf das Morgenrot.

    Alles läuft sehr schnell und wortlos, ohne jede theatralische Geste ab. Jeder weiß, „worauf es ankommt. Oberhalb des sechsten großen Bogens befindet sich die abgesprochene Stelle, den sie „Punkt Omega nennen. David klettert vor und springt sofort, ohne sich noch einmal umzublicken. Mathieu hört keinen Schrei, „nur eine Art erstauntes Piepsen, das sogleich in einem dumpfen Aufprall verstummt. Tief unten auf den Felsen, neben dem grün schimmernden Wasser des Gard, liegt der Freund. Tot. „Seitdem, sagt Mathieu, „stürze ich noch immer, ich stürze und stürze durch mein armes Leben …"

    Das, was in den nachfolgenden Jahren auf ihn einstürzt, empfindet er nie als Rache oder Strafe für sein feiges Zögern. Nur die eine, die naheliegende Lösung, seinen toten Freund noch einmal einzuholen, ist für immer ausgeschlossen. Die Versuchung dazu tritt niemals an Mathieu heran. Er ist bereit, alles in Kauf zu nehmen an Schande und Pein. Nur das eine nicht. So sehr er sich auch unter seinem Dach verkriecht und wie ein Hund leidet, nur noch allein sein will, ohne es tatsächlich zu können, muss er begreifen lernen, dass er bis zu seinem letzten Atemzug ein

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