Korridorium – letzte Erkenntnisse: Erzählungen, Storys, Miniaturen
Von Cory d'Or
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Über dieses E-Book
Ursprünglich im Rahmen eines temporären Blogs und "fraktalen Romans" veröffentlicht, gibt es in "Letzte Erkenntnisse" ein Wiedersehen mit 70 der "einsichtsvollsten" und inspirierendsten Kurz- und Kürzestgeschichten aus dem Korridorium – zusammen mit der unveröffentlichten Erzählung "Bekenntnisse eines Erkenntnissuchers".
(Käufer des Buchs erhalten Link und Passwort zur archivierten Originalversion des Blogs "Korridorium" mit sämtlichen 398 Texten und den dazugehörigen Soundtracks von Tychonian Soundworks.)
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Buchvorschau
Korridorium – letzte Erkenntnisse - Cory d'Or
Vorwort
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1/398
11.11.11
Ich betrete den Korridor …
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»Ich betrete den Korridor …« Dieser unscheinbare Satz war am elften November 2011 der Startschuss für das in vielerlei Hinsicht außergewöhnliche literarische Blog Korridorium.de.
Von diesem Tag an veröffentlichte Cory d’Or Tag für Tag weitere Beiträge: Storys, Fabeln, Offenbarungen, Einwürfe, Glossen und miteinander verwobene Fortsetzungsgeschichten – alle mit dem gleichen Anfangssatz und begleitet von einem Soundtrack passender Länge, komponiert und produziert von Tychonian Soundworks.
Zum angekündigten Ende des Projekts am zwölften Dezember 2012 waren es insgesamt 398 Blogeinträge, darunter auch so ausgefallene wie ein QR-Code, eine Infografik und ein Filmnachspann.
Was anfangs wie eine wilde und genreübergreifende Mischung von Prosa-Miniaturen und Kurzgeschichten wirkt, entfaltet sich Tag für Tag, Kapitel für Kapitel, zu einem Kaleidoskop aus Themen, Figuren, Orten, popkulturellen und historischen Verweisen, Selbstbezüglichkeiten und Erzählperspektiven, dessen einzelne Facetten mit der Zeit verborgene Querverbindungen offenbaren und sich zu einer großen, »pluridimensionalen« Geschichte entfalten – durchsuchbar mit Hilfe einer Reihe von Kategorien und Keywords (wobei Tags wie »Nous« und »K.« in den eingebauten FAQs des Blogs näher erläutert wurden).
Einige der Ich-Erzähler und Ich-Erzählerinnen im Korridorium stellen sich den großen Fragen und suchen nach Erkenntnis und Sinn, versuchen, sich aus der sumpfigen Beliebigkeit der Postmoderne am eigenen Schopf herauszuziehen – was nicht immer gelingt. Aber lesen Sie selbst!
Dieses E-Book präsentiert Ihnen – in einer handverlesenen Auswahl aus den 398 Kapiteln des Blogromans – die in das Korridorium eingebetteten Weisheitsgeschichten und Erkenntnissplitter in chronologischer Reihenfolge: Fortsetzungsgeschichten und in sich geschlossene Kurzprosa.
Als Bonus-Korridor ist eine bislang unveröffentlichte Erzählung von Cory d’Or angefügt: »Bekenntnisse eines Erkenntnissuchers«.
Exklusiv für Sie als Leser eines Korridorium-E-Books erhalten Sie im Nachwort das Passwort für das Original: eine archivierte Version des gesamten fraktalen Blogromans mit allen zwischen dem 11/11/11 und dem 21/12/12 veröffentlichen Texten von Cory d’Or – inklusive der externen Links unter vielen der »Korridore« sowie aller 398 Soundtracks zu den Texten, exklusiv für das Korridorium komponiert und produziert von Tychonian Soundworks.
Weitere E-Books mit (Fortsetzungs-)Geschichten aus dem fraktalen Blogroman:
• Korridorium – ein pluridimensionaler Thriller
• Korridorium – Zeitgeistfrakturen
• Korridorium – Storys aus dem Labyrinth
• Korridorium – der SciFi-Fraktor
• Korridorium – Mythenwege, Märchenpfade
• Korridorium – fraktale Romanzen
• Korridorium – magische Abenteuer
Die acht Korridorium-E-Books, mit Cory d’Ors freundlicher Genehmigung als E-Book-Reihe herausgegeben von Margret Phlippen, enthalten insgesamt 328 der originalen 398 Kapitel des Blogs (mit – aus inhaltlichen Gründen – sieben Dopplungen) sowie sieben bislang unveröffentlichte Bonus-»Korridore« aus der Feder von Cory d’Or, Texte, die es aus unterschiedlichen Gründen zwischen dem 11.11.11 und dem 12.12.12 nicht ins Blog geschafft haben.
2/398
12.11.11
Ich betrete den Korridor der schwindenden Sinne. Er wird nach hinten hin immer enger und dunkler, doch je weiter ich vordringe, desto farbenfroher und heller werden die Bilder an Wänden, Boden und Decke, und desto deutlicher werden die Klänge, die mäandernd durch den Raum schweben und manchmal auf mein drittes Ohr treffen.
»Eure Majestät, darf ich versuchen, Nemo hierher zu bringen? Ich habe da eine äußerst brillante Idee.«
Fasziniert und staunend betrachte ich die Imaginationen und Manifestationen meines Geistes, lausche der inneren Musique concrete meiner Seele.
Leider kann ich, trotz jahrelangen Trainings, nur eine kurze Zeitlang einen Rest Bewusstsein dafür bewahren, und wenig später (und viel zu schnell, immer viel zu schnell) nimmt mich Hypnos in seine Arme, umfängt mich der Schlaf.
22/398
2.12.11
»Ich betrete den Korridor wie alle anderen auch«, sagte der Meister zu seinem Besucher, als der gefragt hatte, wie er seinen Weg durchs Leben finden könne.
»Dann seid Ihr ein Sucher wie ich?«, fragte der Besucher weiter.
Doch der Meister schüttelte den Kopf: »Der Weg verzweigt sich, viele Gänge stehen zur Auswahl, lange, kurze, gerade, abknickende, über Treppen hinauf und hinunter führende – und die meisten enden als Sackgasse.«
»Das ist es ja gerade«, klagte der Besucher. »In diesem Labyrinth finde ich meinen Weg nicht.«
Wieder schüttelte der Meister den Kopf: »Labyrinth? Das wäre ein langer gewundener Gang, der in vielen Schlaufen, aber ohne Abzweigungen ins Zentrum führt. Du dagegen sprichst von einem Irrgarten.«
Der Besucher zögerte. »Und wie finde ich nun meinen Weg durch den Irrgarten?«
Ein drittes Mal schüttelte der Meister den Kopf und wiederholte: »Ich betrete den Korridor wie alle anderen auch.« Dann lächelte er. »Doch unter meinen Schritten verwandelt sich der Irrgarten in ein Labyrinth.«
26/398
6.12.11
Ich betrete den Korridor. Hier herrscht ein lustiges Treiben. Eine Frau in bunten, weiten Gewändern begrüßt mich lächelnd und mit einem Kuss auf die Stirn. Sie führt mich zu ihren Freunden, die mit ein paar Kindern um ein Feuer herumsitzen, singen, tanzen und Marshmallows braten. Ich gefalle offenbar noch weiteren Frauen aus der Gruppe. Sie betasten mich, schmiegen sich an mich und binden mir Blumen ins Haar. Als ich weitergehen will, zieht mich eine von ihnen zu Boden und bietet mir ein glimmendes Röllchen Papier an. Die Türen des Korridors – sehe ich nun – haben sie mit Fantasiewelten bemalt, mit Mandalas und Blumengirlanden.
Ich habe meinem Volk versprochen, nicht eher in meiner Suche innezuhalten, als ich das Tjurunga wiedererlangt habe, ohne das unser Schamane machtlos ist. Dennoch: Kann ich nicht kurz verweilen, mich von den Strapazen der Wanderung erholen? Vielleicht sollte ich die Sprache dieses Volks erlernen und bei ihnen in Erfahrung bringen, was mich am Ende des Korridors erwartet – und hinter den vielen Türen, die sie seit Jahren, vielleicht Jahrzehnten nicht mehr und womöglich nie geöffnet haben. Die fröhliche Stimmung dieser Menschen steckt mich an. Ja, ich bleibe: Ich nicke den Frauen zu und gebe ihnen zu verstehen, dass ich die freundliche Einladung annehme. Möglicherweise finde ich das Tjurunga ja hier bei ihnen. Mir wird ein wenig schwindlig von all den neuen Eindrücken. Der schwelende Papierstengel ist heruntergebrannt, und irgendwie weiß ich, dass der Rauch nie mehr bitter schmecken wird.
32/398
12.12.11
Ich betrete den Korridor zwischen den Zellen. Eine große Ehre! – was habe ich gebeten, gebettelt und gebetet, einmal die Chance zu bekommen, mit den alten Meisterpoeten zu sprechen, ihren Rat einzuholen, von ihrer Weisheit zu profitieren? Nun endlich, nach langen Verhandlungen, wird mir der Zutritt zum Akasha-Palast gewährt. Hier werden nicht nur ihre zeitlosen Werke sicher verwahrt, hier lebt ebenfalls ihre damalige Persönlichkeit in immerwährender Sicherheitsverwahrung fort. Nichts vergeht, auch nicht der Geist unserer Ahnen, die uns Rede und Antwort stehen, falls wir denn den Weg zu ihnen finden.
Man hat mich in den Korridor der Dichter gelassen – einen eigenen für Kurzprosatexter gibt es nicht – und wer sich von ihnen nicht nur auf Lyrik beschränkt hat, dessen Zelle öffnet sich schätzungsweise noch zu anderen Korridoren hin: Tragödien, epische Dichtung, Komödien, Chorlyrik, astrologische Deutungen …
Aber das ist nur eine Vermutung, keine Gewissheit. Die Wächter hier sind nicht sehr auskunftsfreudig. Jedenfalls scheint das Aufnahmekriterium für die Insassen der Kuss einer Muse zu sein. Hier also wohl der von Euterpe. Ich lese auf den Schildchen an den Türen Namen wie Milton, Dante, Bolo, Orpheus, Neidhart, Brant, Shiki, Bukowski, Vergil, Yeats, Tyrtaios, Tao Yuanming und viele, die ich noch nie gehört habe. Euterpe war fleißig. Oder war es Erato?
Wen soll ich hier befragen? Man lässt mir nicht viel Zeit. Ich darf einem der Dichter hinter den schweren Bohlentüren eine Frage stellen. Jahre, Jahrzehnte habe ich über diese eine Frage nachdenken können. Ich kenne sie in- und auswendig. Es ist die Frage, der Schlüssel zur Antwort hinter allen Antworten.
Der Wächter wirkt bereits ungeduldig. Aus der Zelle Bukowskis scheint ein Heulen zu dringen, aber vielleicht ist es auch der Wind der Zeit, der sich in diesen endlosen verschlungenen Korridoren gefangen hat. Mein Blick fällt auf den Namenszug Rumi. Ja! Er soll es sein! Er wird die Antwort wissen und sie mir gerne sagen. Innerlich jubiliere ich, als ich die kleine Holzplatte in der Tür zur Seite schiebe. Ja, wer könne mir besser Auskunft geben als der persische Meisterpoet und Visionär der mystischen Liebes- und Gottesekstase!
»Dschalaluddin?«, rufe ich ins Dunkel seiner Zelle. Undeutlich sehe ich dort einen Mann mit einer turbanumkränzten Derwischmütze, der sich mit ausgebreiteten Armen auf der Stelle dreht. Er strahlt, jenseits aller denkbaren Worte, eine unendliche Ruhe dabei aus, und gleichzeitig dringt mir eine unsägliche Freude, die in schimmernden Spiralen von ihm ausgeht, tief ins Herz.
Ich weiß nicht, ob ich einen Atemzug lang dort stand oder eine Ewigkeit verging. Die Hand des Wächters schiebt die kleine Holzpforte zu Rumis Zelle zu. Er geleitet mich zurück. Als ich endlich wieder im Freien stehe und der Wächter die Tore des Palasts hinter sich geschlossen hat, beginne ich mich zu drehen, langsam um meine Achse, mit ausgebreiteten Armen.
34/398
14.12.11
Ich betrete den Korridor aus verschiebbaren Plastikwänden. Die Forscher starten ihre Stoppuhr. Sie wollen testen, ob ich etwas weiß, was ich eigentlich nicht wissen kann: ob sich aus den Lernerfahrungen einzelner Individuen sogenannte morphische Felder bilden, auf die andere Individuen derselben Spezies Zugriff haben.
Ich für meinen Teil kenne den Weg durch diesen Irrgarten nicht. Aber vor mir sind unzählige andere Ratten solange hindurchgeirrt, bis sie sich die kürzeste Route zum Futter merken konnten. Einige von ihnen sind inzwischen tot und seziert – sie begleiten mich unsichtbar mit ihren Kenntnissen, helfen ihrem unwissenden Genossen, geben mir Impulse ein, hier rechts, dort links zu laufen oder Abzweigungen zu ignorieren.
Am Ziel des Parcours lasse ich mir das Dosenfleisch schmecken, die Belohnung für mich, während die Forscher ihr Ergebnis in eine Tabelle eintragen.
Alle Lebewesen haben Ahnen, die ihnen helfen. Auch die Forscher. Nur dass diese sich, ähnlich wie sie ihre unbehaarten Körper mit Fellen und Stoffen vor Auskühlung bewahren müssen, auch alle Ahnungen von sich fernhalten. Wahrscheinlich hat sich ihr Gehirn zu dem Zweck so sehr aufgebläht, dass keiner dieser schwachen Impulse mehr ins empfindsame Innere dringen kann.
So gehen sie oft und immer wieder in die Irre, bevor sie, wenn sie viel Glück haben, ans Ziel ihrer Wünsche gelangen.
35/398
15.12.11
Ich betrete den Korridor. Wieder einmal. Es ist fast, als würde ich es jeden Tag aufs Neue tun und immer wieder denselben Korridor betreten: den zur philosophischen Fakultät. Doch ist das überhaupt möglich? Nein. Es scheint nur so. Das Ich ist nicht mehr das von gestern, und noch weniger das von letztem Jahr. Und auch der Korridor wirkt zwar wie der, den ich kenne und der mir wohlvertraut ist – mitsamt der Schleifspuren, die die metallenen Aktenschränke beim Umzug des Sekretariats auf den Fliesen hinterlassen haben, und einschließlich des schalen Geruchs aus der Zeit, als hier noch das Rauchen erlaubt war –, aber auch er kann gar nicht der von gestern sein.
Die Täuschung ist perfekt. Ich könnte schwören, dass ich genau diese Schritte hier schon