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Vier Blicke zurück
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eBook341 Seiten4 Stunden

Vier Blicke zurück

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Über dieses E-Book

Freiwillig gibt Santana Laurent ihren Traumjob auf einer kleinen Malediveninsel auf und startet eine Reise in das Ungewisse. Erinnerungen begleiten sie und sie blickt zurück in Ihre Vergangenheit. Verschiedene Momente durchlebt sie noch einmal: Liebe, Lust, Trauer, Peinlichkeiten, Verlust und Frustrationen. Das alles breitet sich erneut vor ihr aus. Ebenso wie die Suche nach der wahren Liebe. Und was wird sie am Ende der Reise erwarten? Liebe? Schmerz? Hoffnung? Oder ein wahrgewordener Traum?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum2. Jan. 2018
ISBN9783742757586
Vier Blicke zurück

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    Buchvorschau

    Vier Blicke zurück - Mandy Raddau

    Widmung

    Für

    Sarah, Romy, Claudia

    und

    Jennifer

    Heute

    Die Warteschlange ist mir egal. Selbst jetzt noch, nach fast vierzig Minuten anstehen, grinse ich dämlich vor mich hin.Ich bemerke wie die Menschen um mich herum die Geduld verlieren und gleichzeitig Abstand von mir nehmen.Wahrscheinlich wirke ich wohl mehr als abnormal auf sie.Jemand der nicht wütend auf die Fluggesellschaft ist, kann einfach nicht richtig ticken, werden sie sich denken.Mein Lächeln hält an und setzt sich hinweg, über Beschim­pfungen, Flüche und andere negative Energien, die sich hier geballt zusammengefunden haben. Die Riemen meines Rucksacks drücken auf meine Schultern. Auch das ist weit weg und vollkommen egal.Mit einer freundlichen Stimme, die so gar nicht zu ihrem gestressten Gesichtsausdruck passen möchte, begrüßt mich eine junge Dame am Flugschalter. Als sie ihr Gesicht ein wenig zu einer eigenartigen Grimasse verzieht, weiß ich, dass es an meinem Gepäck liegt. Meine Koffer sind voll mit Tauchutensilien und sprengen wie gewohnt die Kilogrammanzeige am Schalter.Nach den immer gleichen Floskeln, gehe ich mit meiner Bordkarte weiter und mache dem jungen Mann hinter mit Platz, der seit geraumer Zeit der Fluggesellschaft mit Beschwerden droht. Ich höre nur noch seine bissigen Antworten auf die Fragen der Fluglinienangestellten und schüttle den Kopf. Wie kann man nach einem zweiwöchigen Erholungsurlaub so angespannt und gereizt sein? Das Einzige, was ich verstehe ist, dass die Menschen Trauer empfinden diesen wundervollen Ort verlassen zu müssen.Mit langsamen Schritten suche ich mir einen ruhigen Platz und gebe mich erneut meiner Vorfreude hin.Das unablässige Kribbeln in meinem ganzen Körper will sich nicht beruhigen. Ängste, Bedenken und Unsicherheit schiebe ich für einen kurzen Moment beiseite und erlaube meinen Empfindungen in meinem Körper ein Chaos zu veranstalten.Ich fühle mich, als öffnen sich hunderte, wenn nicht sogar tausende wunderschöne Blüten in meinem Herzen, wie auf einer saftig grünen, berauschend bunten Frühlingswiese. Schnell schlüpfe ich durch die Sicherheitskontrolle und begebe mich zu einer abgelegenen Ecke in der Abflughalle. Vorsichtig nehme ich mir das immense Gewicht meines Rucksackes von den Schultern und setze mich. Meine Blicke gleiten über hunderte Gesichter, die alle eines gemeinsam zeigen: Abschiedsschmerz! Tief in mir finde ich ebenfalls dieses Gefühl, doch liegt es zurzeit verschüttet unter meiner Erwartung und der Freude.

    Ungern verlasse ich diesen Ort, mein eigenes kleines Paradies, doch ich hoffe sehr ein Neues am anderen Ende der Welt zu finden.

    Bedächtig streiche ich über die Außentasche meines Rucksacks. Nicht konsequent genug untersage ich mir diese zu öffnen und den Brief hervor zu holen. Mittlerweile habe ich vergessen wie oft ich ihn schon gelesen habe. Aber die verknickten und abgegriffenen Seiten sprechen Bände. Also öffne ich die Tasche und greife hinein. Das bloße Berühren des seidigen Papiers reicht mir diesmal allerdings aus und ich kann vor meinem inneren Auge die unverkennbar geschwungenen Buchstaben deutlich sehen.

    Durch einen Tritt auf meinen Fuß werde ich von den wunderbaren Worten weggerissen und sehe gerade noch den Rücken des ungehobelten Mannes, der nicht eine einzige Silbe der Entschuldigung an mich richtet. Touristen! Eine blecherne Stimme sagt meinen Flug an und ich warte bis die meisten der Passagiere das Flugzeug betreten haben. Sodann wuchte ich meinen Rucksack hoch und gehe zu der freundlichen, kleinen Frau, die meine Bordkarte entwertet und mir mit zuckersüßer Stimme einen schönen Flug wünscht.

    Ich werde nicht am Fenster sitzen, da ich keine Lust habe über neun Stunden neben einem Wildfremden eingeklemmt zu sein.

    Der Abschied ist nun da und schnürt mir die Luft ab. Es fällt mir schwerer, als ich es mir eingestehen möchte. Genau aus diesem Grund betrachte ich, mit einem wehmütigen Lächeln, mein türkisblaues Wasser, sauge noch einmal die salzige Luft in meine Lungen und verspreche mir selbst, wieder zurück zukommen.

    Gemächlich gehe ich über die Gangway. Leicht betrübt nutze ich jede Gelegenheit das flimmernde Silber auf den Wellen zu betrachten. Ich sehe noch einmal die Wasservögel, wie sie sich belustigt in die Fluten stürzen, und sage ihnen in Gedanken ›Lebewohl‹.

    Ein Räuspern lässt mich meinen Blick von den Vögeln nehmen und richtet sich auf knallroten Lippen, die mir ein aufgesetztes Lächeln entgegen werfen. Die Stewardess schaut mich nervös an und ich bemerke, dass sie nur noch auf mich wartet.Fahrig und überbetont höflich, weisen mir die immer noch lächelnden Lippen den Weg zu meinem Sitzplatz. Den schweren Rucksack vorsichtig durch die wuselnden Menschen manö­vrierend, kämpfe ich mich zu meinem Platz. Schon sehe ich die zwei freien, nebeneinander liegenden Sitzplätze und freue mich meine Ruhe zu haben, als ich meinen Namen höre.»Huhu Santana! Santana hier!«

    Mein Blick folgt der piepsigen Stimme und bleibt an den winkenden Händen von Katrin Michel und ihren frisch angetrauten Ehemann Leon-Alexander hängen. Beide hatten bei mir ihren Open Water Schein gemacht und ich bin sehr froh, dass man unter Wasser nicht sprechen kann. Jedenfalls nicht mit den Lippen.»Mensch Santana, was machst du denn hier?«

    Was sie wohl jetzt als Antwort hören möchte?

    Ich hasse solche Fragen und muss mir auf die Zunge beißen, um nicht zu antworten, dass ich hier den Reifendruck checke oder aber an Board Kompressionsstrümpfe verkaufe. Ich zwinge mich Katrin anzulächeln und erkläre ihr, dass ich Urlaub vom Urlaub brauche. Ihr fast hysterisches Kichern wirkt echt beängstigend und ich hoffe inständig, dass sie nicht auf die Idee kommt, nachher mal bei mir vorbei zu schauen.

    Weiter krampfhaft lächelnd, bahne ich mir meinen Weg und setze mich erleichtert auf einen der leeren Plätze, nachdem ich den Kampf gegen die Gepäckklappe gewonnen habe.

    Jetzt wo ich zur Ruhe komme, springen meine Gedanken wieder, wie wild, in meinem Kopf herum. Ich schließe meine Augen und erblicke ihn. Sehe seine wundervoll leuchtenden, bernsteinfarbenen Augen, die dunkelbraunen, lockigen Haare, die in alle Himmelsrichtungen weisen, das verschmitzte Lächeln, die langen Wimpern und spüre zeitgleich seine warmen und gefühlvollen Hände. Ich weiß nicht zum wievielten Male ich mir die Frage stelle: Womit habe ich ihn nur verdient?

    Das Flugzeug rollt zur Startbahn. Leicht spüre ich das Ruckeln, welches mich wieder zurück zu meinen Gedanken geleitet. Erneut tauche ich ein in das Glimmen der Augen, die ich so liebe. Der Tumult in meinem Körper verbindet sich mit dem kribbelnden Gefühl, welches der Flugzeugstart mit sich bringt. Beruhigt und doch etwas traurig nehme ich das Steigen wahr und kuschle mich in meinen Sitz. Ich lächle, denn meine Gedanken machen sich auf in eine ganz andere Richtung. Zurück - Jahre zurück. Ich lasse es geschehen und tauche, in meinem ganz eigenen Flugzeug, in die dichten Wolken meiner Erinnerungen.

    chapter2Image1.png

    1. Blick zurück

    -dreizehn Jahre zuvor-

    »Santana, Santana! Verdammt steh endlich auf!«

    Ich vergrub mein Gesicht unter dem Kissen und hoffte mich in Luft aufzulösen. Ich hatte die ganze Nacht kaum ein Auge zugemacht. Mir war kotzübel vor lauter Aufregung und die Nummer mit dem Kissen schien nicht zu funktionieren.

    Mit einem rabiaten Ruck flog meine Bettdecke weg und der kühle Windhauch rief auf meinem Körper eine unan­genehme Gänsehaut hervor.

    »Willst du an deinem ersten Schultag zu spät kommen? Steh auf und mach dich fertig. Ich hab dir deine Sachen schon rausgelegt!«

    Der letzte Satz ließ mich aufschrecken.

    »Was für Sachen? Ich ziehe mich seit meinem vierten Lebensjahr selbst an!«

    Meine Mutter ignorierte meinen Einwand und ging aus dem Zimmer. Verärgert blickte ich ihr nach und rappelte mich auf. Langsam schlurfte ich ins Bad und versuchte meinen Ärger hinunter zu schlucken. Erneut überkam mich ein Schauer Übelkeit, der bald meinen ganzen Magen zusammenkrampfen ließ. Als ich in den Spiegel blickte verschlimmerte sich das unangenehme Gefühl noch mehr. Mir gegenüber stand ein Mädchen mit kurzen, zu kurzen Haaren. Die dunkelgrünen Augen wurden von unschönen, dunklen Ringen umrahmt und ließen es älter als fünfzehn aussehen. Sie empfand sich selbst nicht als schön oder gutaussehend. Die gerade Nase wirkte wie aus Papp­maschee und nicht wirklich zu dem Gesicht passend. Die Ohren waren so klein, als gehörten sie einem Säugling. Einzig schön fand sie ihre geschwungenen Lippen hinter denen sich zwei Reihen gerader, weißer Zähne versteckten. Aber wer achtete schon auf so etwas, wenn der Rest so wenig ansprechend war?

    Schnell blickte ich weg. Ich wischte mir ein paar hellbraune Franzen aus der Stirn und griff zu meiner Zahnbürste. Den vorhersehbaren Verlauf des Tages versuchte ich so gut wie möglich zu verdrängen. Nach meinem Versuch mich etwas ansehnlicher aussehen zu lassen und mich die Erkenntnis erdrückte, dass dies nicht möglich sein könnte, bewegte ich mich langsam zurück in mein Zimmer.

    »Santana, hör auf so herumzutrödeln und beweg deinen Hintern hier runter!«

    Ich überging das Geschrei und schloss meine Zimmertür.

    Jetzt sah ich nicht nur das Spiegelbild meines Gesichts, was schon schlimm genug war … nein … jetzt hatte ich das Glück mich im Ganzen sehen zu dürfen. Mein Spiegel­schrank zeigte mich in meiner ganzen Pracht. Irgendetwas stimmte nicht mit mir. Ich sah aus, als hätte man mich falsch zusammengesetzt. Im letzten Jahr war ich enorm gewachsen. Leider hatten sich dazu nur meine Beine ent­schieden, ohne entsprechende Rücksprache mit dem Rest meines Körpers zu halten. Es war zum verrückt werden. Mein Hals sah aus wie ein Fahnenmast, dem man einen unförmigen Luftballon an das Ende gebunden hatte. Mein Oberkörper hatte eher etwas von einem Schneidebrett, als von weichen, weiblichen Rundungen. Einen Hintern hatte ich schon mal gleich gar nicht. Meine Arme gingen mir nur eine winzige Kleinigkeit bis unter die Hüften, so dass ich aussah, als hätte man Kermit den Frosch mit einem Schwan gepaart. Und dann diese Stelzen auf denen ich durchs Leben staksen sollte. Prima.

    Tja, ich war definitiv gewappnet für den ersten Schultag in der neuen Schule. Ich kannte niemanden, war eine Lach­nummer und hatte keine Ahnung wie ich alles überstehen sollte.

    Unmotiviert suchte ich mir eine bequeme Jeans und ein passendes T-Shirt heraus, zog mich schnell an, suchte meinen Schulrucksack und trottete die Treppen hinab.

    »Du solltest doch die schöne Bluse anziehen und die gelbe, luftige Hose. Es ist dein erster Tag und ich will nicht, dass du nur gewöhnlich bist.«

    Ich verdrehte die Augen.

    »Mutter, ich bin mehr als gewöhnlich. Und es macht’s nicht besser, wenn ich herumlaufe wie ein Kanarienvogel. Außerdem fahre ich mit dem Fahrrad.«

    Ich sah wie meine angespannte Mutter ihre Augen aufriss und sogleich wild mit den Armen herum fuchtelte.

    »Mit dem Fahrrad? Das kannst du vergessen! Es fährt ein Schulbus und den wirst du auch benutzen, sonst bringe ich dich höchst persönlich bis in den Klassenraum!«

    Dies war keine leere Drohung. Das wusste ich und gab mich offiziell geschlagen.

    »Ich muss los. Will doch nicht zu spät kommen!«

    »Willst du nichts essen? Ich habe dir extra ein paar frische Butterhörnchen aufgebacken.«

    »Nein danke. Ich kann nichts essen. Mein Magen würde das nicht lustig finden. Aber dank dir vielmals. Vielleicht esse ich sie heute Nachmittag!«

    Bevor ich mir meinen Rucksack über die Schulter geworfen hatte, stand meine Mutter hinter mir, strich mit ihrer Hand leicht über meine Wange und wünschte mir viel Glück. Ich wusste, dass sie nicht im Geringsten ahnte, was in mir vorging.

    Mit hastigen Schritten lief ich die Straße entlang, vorbei an der Bushaltestelle, an der ich eigentlich auf den Schulbus hätte warten sollen, bog scharf nach links ab und holte mein Fahrrad unter einem Busch hervor, wo ich es den Abend zuvor schon platziert hatte. Ich kannte meine Mutter eben besser, als sie mich.

    Es wäre für mich unerträglich gewesen in einem Bus mit wildfremden Jugendlichen herumzufahren.

    Mit ein wenig innerer Genugtuung, radelte ich auf meine neue Wirkungsstätte zu. Erst vor zwei Wochen hatten mich mein Eltern dorthin gezerrt. Und ich wusste jetzt schon, dass es eine Tortour werden würde. Zum einen hasste ich die Schule, also im Allgemeinen, zum anderen hatte ich Probleme mit Menschen, die ich nicht kannte. Das betraf alle Menschen. Aber dies war ein ganz anderes Thema.

    Der Direktor, Herr Lempert, hatte mich vor zwei Wochen überschwänglich begrüßt und mir seine feuchte Waschlappenhand zum Gruß hingehalten. Bei dem Gedanken daran verzog ich angewidert mein Gesicht. Berührungen mit Menschen versuchte ich auf ein Minimum zu reduzieren. Ich hatte keine guten Erfahrungen gemacht. Während der Fahrtwind lau durch meine kurzen Haare fuhr, schüttelte ich meine unschönen Erinnerungen ab. Ich genoss nun wieder die letzten paar Minuten der Ruhe, der Freiheit. Glücklicherweise hatte ich ein Buch eingepackt und wusste wie ich meine Pausen verbringen würde. Es war nicht geplant, dass ich auch nur ein Wort mit irgendjemandem wechsle.

    Schon tauchte das Schulgelände auf. Darauf stand ein neues, sandfarbenes, unansehnliches und wenig einladendes Gebäude mit weißen Fensterrahmen und unförmig anmutenden Säulen. Ich musste unwillkürlich schmunzeln, als ich versuchte mir klar zu machen, dass der Architekt mit Sicherheit einen in der Krone gehabt haben musste, als er den unförmigen Klotz entworfen hatte. Aber prinzipiell war ich froh, dass mich mein Vater auf diese Schule gehen ließ. Er hatte erwartet, ich würde auf eine renommierte Schule, mit einem voraus schreienden Ruf gehen und dort einen angesehenen Abschluss machen. Aber das waren Dinge, die ich ihn nicht für mich entscheiden ließ. Seit einem Monat sprach er nicht mehr mit mir. Ich war unbeeindruckt und würde es bleiben, bis in alle Ewigkeit.

    Diese Schule war neu. Noch ohne Geschichte und Traditionen und was noch viel wichtiger war, alle Schüler würden, wie ich, am selben Tag ihren ersten Schultag haben.

    Nur einige kannten sich untereinander, von ihrer alten Schule. Heute waren alle die Neuen, und das beruhigte mich ein wenig.

    Ich war nicht die Einzige die mit dem Fahrrad kam. Am Abstellplatz war einiger Trubel, doch ich entzog mich diesem, indem ich mein Zweirad in der hintersten Ecke anschloss. Schnell und zugleich zaghaft, begab ich mich zur riesigen Turnhalle, um den Willkommensfeierlichkeiten bei­zuwohnen.

    Nur sporadisch flogen meine Augen über einige Gesichter der ebenfalls neuen Schüler. Manche sahen glücklich aus, andere passten in meine Schublade und wieder andere schienen so selbstbewusst zu sein, als wären sie schon immer hier zur Schule gegangen. Gelegentlich bekam ich ein paar Schubser ab, aber es war erträglich. Weitere Busse rollten an, die noch mehr Schüler brachten. Mir war gar nicht klar gewesen, dass es so viele sein würden. Es kam mir vor, als hätte man alle Kinder der Stadt aufgenommen.

    Ich versuchte nicht weiter darüber nachzudenken und quetschte mich durch die Flügeltüren des Turnhallen­ein­gangs. Kurz darauf sah ich das Grauen in seinem ganzen Ausmaß. Das Gebäude schien vor lauter jungen Menschen zu bersten. Alle Neuankömmlinge wurden von mehreren erwachsenen Personen in verschiedene Richtungen ge­schickt. Ich vermutete, dass es Lehrer waren.

    Als ich an der Reihe war, blickte ich hinab, auf einen kleinen Mann mit Halbglatze, der mich über seine schief sitzende Brille hinweg anschaute. Seine Haare, die verbliebenen, waren kunstvoll über die kahle Stelle gekämmt, so dass es aussah, als hätte man ihm einen gestrickten Teppich, mit riesigen Löchern, auf den Kopf geheftet. Die piepsig hohe Eunuchenstimme erklang und in diesem Moment war mir klar, dass niemand anderes mein Klassenlehrer werden würde, als diese eigenartige Gestalt vor mir.

    »Welcher Jahrgang?«, piepste er mir entgegen.

    »Neun!«, war die kürzeste Antwort die ich parat hatte.

    »Nach links oben bitte!«, fiepte er mir den Weg.

    Ich nickte stumm und ging.

    Nun stand mir das Schlimmste bevor. Jetzt wo der Menschenpulk aufgelöst worden war, liefen die Schüler vereinzelt durch die Halle. Jeder hatte nun die Möglichkeit mich zu sehen, wie ich meinen Abstellplatz suchen würde und bei meinem Glück, würde ich mich tierisch auf mein Fressbrett legen. Würde passen! Das Gespött der Schule schon am ersten Tag. Quatsch, denn eigentlich hatte der erste Tag ja noch gar nicht begonnen. Das wäre in der Tat Rekord. Selbst für mich.

    Hochkonzentriert betrachtete ich meine Schuhspitzen und schaffte es ohne Zwischenfälle zur rettenden Tribüne. Ich suchte mir einen freien Platz und setzte mich, ohne die neuen Mitschüler rechts und links zu registrieren.

    »Was möchten Sie trinken?«

    Schlagartig öffne ich meine Augen und sehe wieder das rote, aufgesetzte Lächeln der Stewardess.

    »Ich hätte gern einen Tomatensaft und ein Wasser!«

    Das Grinsen kommt meiner Bitte nach und reicht mir die gewünschten Getränke. Die Lippen bewegen sich dabei kaum und lassen nur ein stereotypes »Bitte schön!« erklingen.

    Vorsichtig stelle ich beide Becher auf die Ablage des Nachbarsitzes und setze mich wieder aufrecht hin. Überall wuseln die Menschen mit ihren Getränken herum. Leises Gemurmel gelangt dumpf an meine Ohren. Schnell trinke ich meinen Saft und spüle mit etwas Wasser nach. Mit einem Lächeln schließe ich wieder meine Augen und blicke erneut zurück. Zurück zum ersten Tag in der neuen Schule.

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    »Junger Mann! Junger Mann!? Würden Sie bitte Ihren Rucksack zwischen die Beine nehmen, dass sich noch jemand neben Sie setzen kann?«

    Erst jetzt begriff ich, dass der kleine Kerl, mit dem Teppich auf dem Kopf, mit mir sprach. Ich merkte wie meine Gesichtsfarbe locker den Farbenvergleich mit einer Erdbeere gewonnen hätte und versuchte mich in einem imaginären Loch zu vergraben. Verletzt sah ich dem herumfuchtelnden Männchen in die Augen und presste ein: »Junge Frau, wenns geht!« hervor.

    Unbeeindruckt gestikulierte er weiter, bis ich den Rucksack zwischen meinen Beinen abstellte. Ich bemerkte das Flüstern um mich herum und die Blicke brannten sich durch meinen Körper. In meinen Kopf schossen die gewohnten Bedenken herum: Glotzten sie auf meine nicht vorhandenen Brüste oder die Miniohren, vielleicht aber auch auf die Schuhe, die mit einer Größe von zweiund­vierzig fast die Ausmaße eines Mini U-Bootes besaßen?

    Angewidert nahm ich wahr, wie sich jemand rechts neben mich setzte. In meinem Augenwinkel erkannte ich lange blonde Haare, die meiner neuen Nachbarin, leicht gewellt, über die Schultern fielen. Ich zwang mich nicht hinüber zu sehen.

    »Was für ein tollwütiger Zwerg! Ich hoffe nur den Gnom haben wir nicht in Englisch. Aber bei meinem Glück!«

    Mein Grinsen konnte ich nicht unterdrücken und dabei blinzelte ich zu dem blonden Mädchen mit der scharfen Zunge.

    »Hi, mein Name ist Sophie, bin eine Null in Englisch und bin neu hier. Und du?«

    Sie schob mir ihre Hand direkt unter die Nase. Bedächtig nahm ich sie in meine und drückte zu.

    »Meine Güte. Was für ‘n Müsli futterst du denn? Du drückst ja zu, wie manch einer auf der Toilette!«

    »Oh, entschuldige. Ich mag es nur nicht, wenn man mir so ein labbriges Ding in die Hand drückt.«

    »Ha, ich weiß, was du meinst. Das hab ich meinem Ex­freund auch immer gesagt!«

    Auf Sophies Gesicht erschien ein verschmitztes Grinsen, welches mir die Zweideutigkeit meiner Aussage bewusst machte.

    »Oh, nein … nein, das hatte ich nicht gemeint.«, erwiderte ich fast panisch.

    »Schon gut. Sei nicht so verkrampft. Also, wie heißt du?«

    Mir war die ganze Situation total unangenehm und ich hasste mich wieder einmal selbst. Normalerweise war ich gar nicht schüchtern, na jedenfalls nicht so. Eigentlich hatte ich eine ziemlich große Klappe und scheute keine Konfrontation, doch der heutige Tag überforderte mich. Ich überforderte mich!

    »Ich heiße Santana! Und nein, mein Vorname ist nicht Carlos. Ich bin froh darüber, dass mein Vater kein Fan von Howard Carpendale ist, wer weiß wie ich dann heißen würde.«, versuchte ich mich selbst etwas aufzulockern.

    »Santana, hm?«

    Sophie schien angestrengt darüber nachzudenken und sah mich nickend an. »Ja, das passt. Schöner Name! Mal was anderes als Lena, Lisa, Lara, Mandy, Sandy.«

    Ich nickte dankend.

    »Und … haste dich hier schon mal nach ’n paar Kerlen um­gesehen? Also ich hab noch nichts Beeindruckendes gesichtet.«

    Nun hob auch ich meinen Blick und ließ ihn über die vielen Köpfe gleiten. Ehrlich gesagt wusste ich nicht genau wonach ich suchen sollte und schaute etwas unbeholfen zu den Zehntklässlern. Ich wollte nichts mehr mit Kerlen zu tun haben. Nie wieder!!! Doch wanderte mein Blick vorsichtig von einem zum anderen. Ganz nett aussehende Jungen waren schon dabei. Aber das war vollkommen egal.

    Ohne, dass ich es merkte, waren mir Sophies Augen gefolgt und versuchten meine Beobachtungen nachzuvollziehen.

    »Jap, der sieht schnuckelig aus. Gute Wahl!«, posaunte sie heraus, so dass uns einige andere Schüler hörten und eben­falls zu dem Jungen mit den dunkelblonden, kurzen Haaren sahen. Nachdem dieser nun von dutzenden Augen ange­starrt wurde, fühlte er sich eindeutig beobachtet und blickte nun seinerseits zu mir und Sophie. Und … er lächelte.

    Scheiße! Hatte er Sophie eben gehört? Ich hoffte, dass dem nicht so war. Schnell riss ich meine Augen von ihm weg und stierte auf meine Füße. Gott war mir das peinlich! Und ich hatte gedacht das Schlimmste schon überstanden zu haben. Wieder mal zu früh gefreut!

    »Ich kann herausbekommen wie er heißt. Ein Freund von mir geht hier auch in die Zehnte. Also wenn Interesse besteht?«, flötete Sophie mich fröhlich an.

    »Nein danke, lass mal!«, war alles, was ich momentan sagen konnte und wollte.

    Sophie erzählte noch ein wenig, während ich meinen Blick weiter gesenkt hielt.

    Als alle Neuankömmlinge ihre Plätze eingenommen hatten, versammelte sich die gesamte Lehrerschaft auf einer kleinen Bühne. Kurzzeitig hatte ich wieder das Gefühl, dass ihre Blicke nur auf mir ruhten und das veranlasste mich all meine Muskeln anzuspannen. Wie von der Medusa in Stein verwandelt, saß ich da. Ich schüttelte meine Lähmung je­doch schnell wieder ab und versuchte auf die Worte des Direktors zu hören.

    Glücklicherweise quälte man uns nicht ewig mit langweiligen Reden und wir wurden in Klassen aufgeteilt. Sophie entfuhr ein kurzes Kreischen, als sie hörte, dass wir beide in eine Klasse kommen würden. Ich war mir noch nicht ganz sicher, was ich davon halten sollte und grinste erst einmal oberflächlich.

    Man sagte uns unsere Klassenraumnummer, wo wir uns in zehn Minuten einfinden sollten.

    Als ich mich erhob bestaunte Sophie meine Größe, hielt diesmal aber den Mund.

    Und so verrann der erste Tag ohne weitere Zwischenfälle. Und ja, der Kerl mit dem geklöppelten Teppich auf der Birne wurde mein Klassenlehrer.

    Die Schüler in meiner Klasse wirkten ganz sympathisch, obwohl natürlich einige Jungen aus der Form geraten waren. Aber das war bei Kerlen mit fünfzehn auch nicht anders zu erwarten. Die Lehrer, die ich kennenlernen durfte, machten einen ganz passablen Eindruck, wollte mir aber nicht zuviel davon versprechen.

    Wir bekamen die Stundenpläne und Kursaufteilungen. Ich hatte nichts daran auszusetzen, außer, die Doppelstunden Mathe mittwochs und freitags, und das in den letzten Stunden des Schultages. Klasse!

    Ansonsten lief der erste Tag ganz gut. Ich fiel nicht über meine Füße, steckte nichts in Brand und hielt mich auch sonst ganz tapfer, wenngleich ich oft das Gefühl hatte angestarrt zu werden. Kunststück! Ich war die Größte in der Klasse, abgesehen von zwei Jungs.

    Am erfreulichsten war die Mitteilung, dass wir mittags schon nach Hause gehen durften. Daher packte ich schnell meinen Rucksack und stürmte gleich nach dem Klingeln hinaus. Flink schnappte ich mir mein Fahrrad und fuhr, ohne mich umzugucken, nach Hause.

    Sanft und vorsichtig holt mich die Stewardess aus meinem Zeitsprung. Verschlafen blinzle ich sie an und starre wieder auf die vollen, roten Lippen. Überrascht bemerke ich, dass ich der jungen Frau noch nicht einmal in die Augen gesehen habe und hole es sogleich nach. Doch sofort danach verlagere ich meine Aufmerksamkeit zurück auf die Lippen, denn diese scheinen mir nicht so aufrichtig abgeneigt zu sein, wie es ihr kalter Blick vermuten lässt.

    »Vegetarisch oder Fleisch?«

    Normalerweise würde ich jetzt oberlehrerhaft sagen: »In ganzen Sätzen bitte!«, schlucke es aber herunter. Ich möchte sie nicht allzu sehr belasten.

    »Das vegetarische Gericht hätte ich gerne.« Mein lockeres Lächeln hilft nicht das Eis in den Augen der jungen Frau zum Schmelzen zu bringen.

    »Bitte sehr!« Und schon landet dass Tablett mit dem heißen Schälchen auf meiner Ablage … wenig liebevoll.

    Eigentlich habe ich keinen Hunger. Meine Aufregung versetzt mich schon seit geraumer Zeit in einen Strudel, der bestimmte Bedürfnisse nicht mehr in mein Bewusstsein lässt. Trotzdem stochre ich in meinem, keine Ahnung was es ist, eigenartigen Nudel-Gemüseauflauf herum und schiebe mir kleinere Häpp­chen in den Mund.

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