Laufender Tod
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Buchvorschau
Laufender Tod - Michael Aulfinger
Kapitel 1
Allmählich senkte sich die Sonne hinter den Baumzipfeln am Horizont. Dennoch würde es noch einige Stunden hell sein. Zeit genug also, um seinen Lauf in der erwarteten Zeit zu beenden. Die Zeit war ihm wichtig, denn er wollte seine Leistung unbedingt verbessern. Der Marathon stand schließlich vor der Tür.
Sein Blick fiel derweil auf seine GPS-Sportuhr, welche er seit Monaten ständig beim Laufen am Handgelenk trug.
Wunderbar.
Carsten war zufrieden. Das Tempo stimmte. Einen guten Schnitt legte er hin. Sein Schnitt lag derweil unter fünf Minuten auf dem Kilometer.
Ja, beim Laufen war er zufrieden. Das tat ihm unendlich gut. Ein herrliches Lebensgefühl breitete sich stets in ihm aus. Dabei war seine, in letzter Zeit, ansteigende Laufintensivierung nicht nur wegen des kommenden Marathon begründet. Es gab noch speziellere Gründe, welche, in ihm unbewußt oder bewußt, als Antriebsfeder fungierten.
Natürlich gab es einerseits diesen Gesundheitsaspekt: Bleibe gesund, achte auch deine Fitness und deine Figur.
Bla,bla, bla... und so weiter.
Das war aber nicht sein eigentlicher Antrieb. Auch nicht seine Arbeit, die ihn selbstverständlich in hohem Maße beanspruchte. Schließlich betrieb er mit einem Kompagnon zusammen, ein florierendes Steuerberatungsbüro. Für zehn Angestellte war er Brötchengeber. Das bedeutete immer viel Arbeit und dementsprechend Verantwortung. Aber die Zeit für seine Ausdauerläufe nahm er sich wie selbstverständlich. Es war gleichermaßen ein guter Ausgleich für die anstrengenden Tage mit Kunden und dem studieren und analysieren der staubtrockenen Zahlen.
Aber all diese Gründe zusammen genommen, gereichten nicht an die eigentliche Ursache seiner kontinuierlichen Flucht auf die Laufstrecke, heran. Denn in erster Linie war seine Frau dafür verantwortlich. Es war wie eine Entkommen vor ihr. Ihr ständiges Genörgel an ihm trieb ihn dazu ein langandauerndes Hobby auszuüben, welches ihn für lange Zeit von dieser Furie auf zwei Beinen trennte. Jede Minute, die er nicht in ihrer Nähe verbringen mußte, hatte die Aura und Atmosphäre eines paradiesischen Urlaubs. Da kam dem fünfundvierzigjährigen Mann eine Marathonvorbereitung gerade recht.
Sie war aber nicht immer so gewesen. Früher gab es Zeiten des perfekten Glücks. Das hatte sich leider im Trott des Alltags gewandelt. Schade, sagte er zu sich. Er hatte sie einst so sehr geliebt. Das hatte sich leider ebenfalls geändert.
Er lief so geistig dümpelnd vor sich hin. Hin und wieder fiel sein Blick auf seine Uhr. Ein leichtes Augenzwinkern ließ seine Zufriedenheit aufflackern.
Noch eine Stunde.
Ja, eine Stunde würde er noch laufen. Dann hätte er über zweieinhalb Stunden Lauf, und an die dreißig Kilometer, hinter sich. Das würde für den heutigen Tag reichen.
Ohne einem gewissen Gedanken zu verfolgen, setzte er kontinuierlich einen Fuß vor dem anderen. Automatisch zog die Landschaft mit nahezu zwölf Stundenkilometer an ihm vorbei. Bald war der Waldrand erreicht, und er belief den Waldweg.
Es ist eine Eigenart des Laufens, daß sich trotz des Schwitzens die Blase und der Darm füllt. Nach weiteren zwei Kilometern konnte er es nicht mehr unterdrücken. Es galt sich schleunigst zu entleeren.
Mit einem Blick nach vorne und zurück vergewisserte er sich, daß sich kein weiterer Läufer, oder Forstarbeiter, in der Nähe aufhielt. Aber man wußte ja nie. Er hatte schon alles erlebt. Vor ihm zeichnete sich eine Waldwegkreuzung ab. Seine Absicht war, gerade aus zu laufen. Direkt im rechten Winkel bog noch ein Weg ab. Ein weiterer Weg zweigte sich ebenfalls rechts ab, welcher anscheinend parallel zu jenem verlief, für welchen er sich entschieden hatte.
Nachdem er einige hundert Meter weiter gelaufen war, konnte er nicht mehr an sich halten. Schnurstracks enterte er den Wald, und lief gebückt unter den tief hängenden Ästen und Zweigen hindurch. Als er meinte, genügend Pietätsabstand zwischen sich und dem Waldweg gelassen zu haben, hielt er an, und erleichterte sich hinter einem dicken Baum. Nachdem der letzte Tropfen die Baumrinde berührte, meinte er ein Geräusch vernommen zu haben.
Tiere, herabfallende Äste und der Wind, welcher durch die Zweige und Wipfel wehte, mochten als Urheber gelten. Die Ursache vermag mannigfaltig zu sein. Er zog seine Laufhose gerade wieder zurecht, als er erneut das Geräusch vernahm. Das machte ihn neugierig. Es klang nicht wie ein knickender Ast, sondern eher wie ein menschliches Fluchen. Das erkannte er sofort, denn im Fluchen war er ungekrönter Meister.
Deshalb wagte er eine Blick um den Stamm des dicken Baumes herum. Täuschte er sich, oder stand dahinten zwischen den Bäumen – es mochten keine fünfzig Meter sein – ein blau glänzender Gegenstand? Ein Auto vielleicht sogar?
Wenn ja, was hatte dieser in dem Wald verloren, wo doch hier ein striktes Verbot für diese Art von Vehikel galt?
Angestrengt versuchte er sich davon zwischen den Baumstämmen hindurch zu vergewissern, als er von einer Bewegung abgelenkt wurde. Zwischen ihm und dem Gefährt tauchte nämlich eine Gestalt auf. Das es sich dabei um eine Frau handelte, erkannte er trotz der beeinträchtigten Sicht umgehend. Sie war blond und trug eine blaue Sportjacke. Ihre Harre hingen ihr wirr herunter, denn sie war damit beschäftigt, etwas schweres zu ziehen. So war ihr Gesicht nicht zu erkennen. Sie zerrte und hievte irgend etwas, so gut es ging. Schwer ging ihr Atem. Das hörte er. Was sie bewegte, war ein schwarzer Plastiksack, wie er beim näheren hinschauen erkannte. Soweit konnte Carsten das schon deuten.
Endlich war der Sack verschwunden. Anscheinend war er der Länge nach in ein vorbereitetes Loch geplumpst. Die Frau stützte sich nach dieser anstrengenden Arbeit mit den Händen auf ihren Oberschenkeln ab. Endlich verbreitete sie keinerlei hechelnde Geräusche mehr und richtete sich auf.
So hatte Carsten von seinem Versteck aus eine gute Aussicht auf ihr Gesicht. Ihre verschwitzten Haare fielen zurück.
Ein wissender Ruck ging durch seinen Körper.
Er kannte sie!
Nun, das war nicht ganz korrekt. Er kannte ihr Gesicht. Nur ihr Namen war ihm nicht geläufig. Carsten hatte sie aber schon öfters gesehen. Nur wo? Das mochte sich ihm beim besten Willen und trotz angestrengtem Nachdenken nicht offenbaren.
Aus dieser Phase der inneren Rückblende wurde er jäh gerissen, weil sich die Frau nach der Erholungsphase bewegte. Sie wurde wieder aktiv, indem sie eine bereitliegenden Schaufel in die Hand nahm. Dann begann sie zu schaufeln. Aber die Aktion dauerte nicht lange. Bald war das Loch geebnet, da es vorher schon nicht tief war. Die übrige Erde verteilte die Frau mit schnellen Schaufelbewegungen in der Umgebung. Sie ebnete alles. Zum Abschluß verteilte sie noch Laub und Äste in loser Anordnung auf dem geschlossenen Loch. Es sollte wohl niemandem auffallen.
All das beobachtete Carsten aus seinem sicheren Versteck heraus. Ein verdammt ungutes Gefühl stieg in ihm auf. Was war in dem Sack gewesen? Ein innerer Skrupel widersetzte sich dem, was ihm ein Gefühl des Wissens anzeigte. Denn eigentlich war er sicher, daß der Inhalt des schwarzen Plastiksacks nur eine Leiche gewesen sein konnte.
Bitte nicht, betete er innerlich, mit dem Blick nach oben, wo sein Blick sich zwischen den Baumwipfeln verlief.
Bitte, bitte, lieber Gott. Laß es Sondermüll oder sonst irgend etwas Verbotenes sein. Aber keine Leiche. Das könnte ich nicht vertragen.
Dennoch war sich Carsten sicher, daß sein Gebet unerhört bleiben würde.
Es war geschehen.
Während sein Körper ein gruselndes Schütteln durchlief, wurden seine Augen wieder von jener Frau abgelenkt, deren Namen ihm immer noch ein Rätsel aufgab.
Sie war mit ihrer Arbeit fertig, und ging zu ihrem blauen Auto zurück. Die Heckklappe fiel mit einem Knall ins Schloß. Sekunden später sprang der Motor an, und der Wagen fuhr zunächst rückwärts, bis er eilig wendete, und bald zwischen den Bäumen verschwand. Das Motorengeräusch ebbte Sekunden später ab.
Mindestens zwei Minuten vergingen, bis sich Carsten aus seinem Versteck hervortraute. Er hatte zwar gesehen, daß die Frau alleine war, aber er traute in dieser Sekunde nicht mal der Stille des Waldes. Immer noch konnte jemand aus dem Dickicht der Bäume auftauchen, und ihm das Leben zur Hölle machen.
Oder es sogleich beenden. Welch schrecklicher Gedanke.
Angst stieg ihn ihm auf. Eine stärker werdende Angst.
Was sollte er tun?
Verschwinden?
Vielleicht war es das Beste. Das war aber nicht so einfach. Neugierde trieb ihn an. Neugierde, welche befriedigt sein wollte, ob sein schrecklicher Verdacht der Wahrheit entsprach. Das zerriss ihn innerlich. Auch wenn die Vernunft ihm innerlich vehement riet, das Weite zu suchen, so unterlag sie schließlich dem inneren Zwist. Die Neugierde obsiegte.
Langsamen Schrittes verließ er die Deckung des Baumes und tastete sich vor. Der Blick war auf den Fleck gerichtet, den er hinter zwei weiteren Buchen wußte. Bald hatte er ihn erreicht. Seine anfängliche Angst vor einem Hinterhalt war vorbei und gänzlich der Neugierde gewichen. Binnen Kurzem stand er vor dem vermeintlichen Grab.
Mit bloßen Händen hub er die lockere Erde an jener Stelle aus, an der er den vermeintlichen Kopf wähnte. Das dauerte eine geringere Zeit als er vermutete, denn bald schon stieß er auf eine schwarze Folie.
Mit einem Mal wurde ihm schwarz vor Augen. Es drückte ihm aufs Gemüt, denn er ahnte Böses. Vier kräftige Ein- und Ausatmungen später nahm er sich ein Herz, und riß mit einem Ruck die schwarze Folie auf.
Kein Ton wurde seinen Lippen entlockt.
Still starrte er auf den leblosen Kopf, welcher mit geschlossenen Augen da lag, als wenn er sich gerade zu einem Mittagsschlaf hingelegt hätte. Aber dieser Mittagsschlaf würde länger dauern, das wußte Carsten nur zu gut.
Ewiglich.
Sein Verdacht war bestätigt worden. Vor ihm lag eine männliche Leiche. Sie mochte Mitte bis Ende der dreißiger Jahre alt sein.
Wenn Carsten gedacht hätte, daß ihm beim Anblick seiner ersten Leiche im Leben schwarz vor Augen, oder gar schlecht, werden würde, so hatte er sich geirrt. Selbst von sich überrascht verspürte er in sich eine gewisse Abgeklärtheit und vor allem Ruhe. Das war schon immer eine Eigenschaft von ihm gewesen, in brenzligen Situationen die Ruhe zu bewahren. Als Geschäftsmann wurde von ihm des öfteren die notwendige Eigenschaft abverlangt. Das passierte öfters. In diesem Fall kam es es ihm zu Gute.
Deshalb war er nicht verwunderlich, als er mit einer ungespielten Ruhe in seine Tasche griff, die er über einen Gürtel am Gesäß baumeln ließ. Die hatte