Die schönste Brücke der Verständigung: Das 2. Klavierkonzert von Brahms und eine deutsch-polnische Liebesgeschichte
Von Helmut Lauschke
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Die Menschen werden es hören, dass es die Liebe zwischen zwei Menschen ist, die die Musik so tief begreifen lässt.
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Buchvorschau
Die schönste Brücke der Verständigung - Helmut Lauschke
Das 2. Klavierkonzert von Brahms und eine deutsch-polnische Liebesgeschichte
Ankunft in Warschau
Vor dem Flughafengebäude standen die Taxis, die sich aus VW’s, Fiat und Renault in langer Folge hintereinander reihten. Die Taxis rückten nach, wenn das erste Taxi vom Gebäudeeingang abfuhr. Boris nahm das nächste nachrückende Taxi. Der Fahrer verstaute den Koffer im Kofferraum des Fiat, der seine besten Jahre abgefahren hatte. Wohin?
, fragte er im slawisch verzogenen Dialekt, weil er Boris das Deutsche angesehen oder an ihm gerochen hatte. Hotel Polnischer Hof
, sagte Boris, und der Fahrer startete den Motor. Da der Flughafen außerhalb der Stadt gelegen war, ging es über eine unbeleuchtete Straße in die Stadt. Das machte etwa zehn Kilometer oder zwanzig Minuten aus. Je näher es an die Stadt heranging, desto heller wurde die Straßenbeleuchtung.
Der Taxifahrer war ein stiller Mann, der offenbar das Reden im Sinne einer Unterhaltung beim Fahren nicht mochte. So wurde bis zum genannten Hotel kein Wort gesprochen, geschweige denn gewechselt. Er hielt vor dem breiten, hell erleuchteten Portal des Hotels an, stieg aus, gab dem Portier ein Hand- und Pfeifzeichen, der darauf zum Auto kam und den Koffer in die Hand nahm, den der Fahrer aus dem Kofferraum holte und ihm gab. Boris fragte, was er zu zahlen habe. Darauf sagte der Fahrer: hundert Zloty
. Sein Gesicht klarte auf, als er im Deutsch der drei Worte
sagte: drei DM gut; drei DM sehr gut.
Darauf gab ihm Boris zehn DM, was für den Taxifahrer unglaublich, ja fürstlich war. Er zog die Fahrermütze vom Kopf, dankte in polnisch, gab dem Portier, der den Koffer in der Hand hielt, die nötige Anweisung, dass dieser zu Lächeln begann, als das Taxi abfuhr und Boris dem Portier zum Hoteleingang folgte.
Die junge attraktive Polin an der Rezeption sprach ein tadelloses Deutsch: Guten Abend, Herr Baródin. Wir freuen uns, Sie bei uns begrüßen zu dürfen. Wir stehen ihnen zu jeder Zeit gerne zu Diensten. Ihr Zimmer hat die Nummer 7 und ist im ersten Stock. Unser Speisesaal ist bis 22 Uhr geöffnet. Ich kann ihnen die Spezialität des Tages sehr empfehlen. Benötigen Sie einen Telefonanschluss?
Boris: Ja, ein Telefon brauche ich schon.
Die junge Polin an der Rezeption: Das ist überhaupt kein Problem. Sie bekommen den Anschluss in den nächsten zehn Minuten. Falls Sie sonst etwas benötigen, ob es Getränke, der Friseur oder das Bügeln der Hemden und Anzüge sind, zögern Sie nicht, mir Bescheid zu sagen. Die Direktion hat Anweisung gegeben, ihnen unseren Vorzugsdienst zukommen zu lassen.
Boris: Das ist sehr freundlich von ihnen.
Die junge, blonde Polin gab dem Portier den Schlüssel, der Boris zum Aufzug und dann zum Zimmer 7 im ersten Stock führte. Der Portier schaltete das Licht in dem großen Raum, einem Sitzraum, an, der mit zwei Sesseln, einem Klubtisch und einer Stehlampe ausgestattet war. An den Sitzraum schloss sich das Doppelbettzimmer und das Badezimmer mit Toilette an. Boris gab dem Portier zehn DM Trink-, beziehungsweise Tragegeld, was für ihn nicht nur ein Zeichen der Aufmerksamkeit vonseiten des Gastes, sondern ein königliches Trinkgeld war, für das sich der junge Portier sehr bedankte. Boris sah die innere Rührung in seinen Augen, die zu glänzen begannen, als er die bundesdeutsche Banknote in der Hand hielt, sie zusammenfaltete und glücklich in seine Brusttasche schob.
Der Portier verließ das Zimmer und legte die Tür leise ins Schloss. Boris wusch sich die Hände und das Gesicht mit lauwarmem Wasser. Er stand für einen Augenblick am Fenster und schaute über den erleuchteten Platz vor dem Hotel mit den vom Platz abgehenden Straßenzügen. Die Stadt war erleuchtet, stand aber nicht in einem Lichtermeer, wie es Berlin zum Strahlen brachte. Boris war in der polnischen Metropole, der Stadt des Warschauer Aufstandes und der vielen anderen Ereignisse von historischer Bedeutung. Er setzte sich in einen der beiden Sessel, zog die Partitur aus der Notentasche und blätterte im Selbstgespräch darin herum: "Großer Brahms, hier sollst du in zwei Tagen zu hören sein. Hoffentlich haben die Polen die offenen Ohren und das offene Gemüt, dich zu verstehen, was du im zweiten Klavier-Konzert ihnen mitzuteilen hast.
Musikalisch ist das polnische Volk und auch anspruchsvoll, das einen Frédéric Chopin und viele andere große Musiker hervorgebracht hat. Da muss ich mich anstrengen und gut spielen, um den Zuhörern das zu Gehör zu bringen, was sie von dir hören sollen. Er legte die Partitur auf den Klubtisch, ließ sie am Anfang des zweiten Satzes, dem Allegro appassionato, aufgeschlagen und meldete ein Gespräch nach Hamburg-Blankenese an, um seiner Mutter, Anna Friederike Elbsteiner, geborene Dorfbrunner, mitzuteilen, dass er gut in Warschau angekommen sei. Die Vermittlung nahm einige Minuten in Anspruch. Dann meldete sich Frau Elbsteiner. Boris:
Mutter? Hallo Mutter! Ich bin gut in Warschau angekommen. Mutter:
Dann bin ich beruhigt. Wie fühlst du dich? Boris:
Wie sich ein Pianist fühlt, der ein schwieriges Konzert zu spielen hat. Mutter:
Das wirst Du schaffen, mein Sohn. Was macht dein Husten? Boris:
Der ist fast weg. Doch werde ich den Hustensaft weiter einnehmen, damit ich beim Spielen nicht dazwischenbelle, was der Vortrag nicht verträgt. Mutter:
Das ist keine gute Nachricht. Ich dachte, die Medizin hätte geholfen und dich kuriert. Boris:
Sie hat mir geholfen. Die Tonsillitis ist völlig abgeheilt. Mutter:
Die Aufführung ist übermorgen. Boris:
Ja, Mutter. Morgen ist die Probe. Mutter:
Dann hast Du noch etwas Zeit, dich zu erholen. Nimm dir die Zeit, damit Du stark genug für das Konzert bist. Boris:
Ich werde mich bemühen. Doch ein Klavier fehlt mir hier. Wenn ich nicht ständig dran sitze, packt mich die Angst, dass ich aus der Übung komme. Mutter:
Nun rede dir nicht noch so etwas ein. Du bist ein brillanter Pianist und beherrschst das zweite Brahms-Konzert. Boris:
Dein Wort in Gottes Ohr, Mutter. Ich muss mich anstrengen, denn die Erwartungen sind hoch. Da darf mir kein Fehler unterlaufen. Mutter:
Sei zuversichtlich! Die Menschen werden von deinem Spiel begeistert sein, so wie sie es in Antwerpen waren, als Du vor einem Jahre dort den Brahms gespielt hast. Was mir einfällt: Frage doch bei der Rezeption nach, ob es im Hotel einen Flügel gibt, den sie dir an den beiden Tagen zur Verfügung stellen können. Boris:
Ja, das werde ich tun. Das ist ein guter Einfall. Mutter:
Ich wünsche dir eine gute Nacht und drücke dir die Daumen, wie ich es immer vor deinen Konzerten getan habe. Boris:
Vielen Dank, Mutter, und auch dir eine gute Nacht."
Boris nahm nicht den Fahrstuhl, um nach unten zum Speisesaal zu kommen, er ging die Treppe hinunter, die an der Rezeption endete. Die hübsche, junge Polin war mit einem Gast, einem russischen Herrn beschäftigt, mit dem sie in fließendem Russisch sprach. Boris wartete vor der Rezeption, frischte seine Russischkenntnisse dadurch auf, indem er das Gespräch, in dem es um das Auffinden von zwei Ministerien ging, verfolgte und im Geiste seinem Vater, Ilja Igorowitsch Tscherebilski, dankte, der ihm als kleines Kind neben den ersten Schritten auf dem Klavier auch die ersten Schritte in der russischen Sprache mit ihren sonoren Kehllauten beigebracht hatte. Das Gespräch war beendet. Der russische Gast dankte charmant mit einem Augenzwinker der attraktiven Polin und verschwand im Speiseraum.
Die junge Polin schaute ihn aus ihren wunderschönen großen, dunklen Augen an: Herr Baródin, kann ich etwas für Sie tun?
Das fragte sie in einem fehlerfreien Deutsch und lächelte Boris fast verheißungsvoll an. Boris: Darf ich zunächst um ihren Namen fragen, damit ich Sie korrekt ansprechen kann, wenn ich mit meinen ständigen Bitten komme.
Die Polin lachte, wobei ihr strahlend weißes Gebiss zur vollen Geltung kam: Vera ist mein Name.
Boris: Vielen Dank. Fräulein Vera, ich brauche ein Klavier oder einen Flügel. Haben Sie so etwas im Hotel? Ich habe zu arbeiten, das heißt zu spielen.
Vera schaute aus noch größeren Augen Boris an: Das ist ja interessant. Das kommt im Jahr selten vor, dass ein Gast nach einem Flügel fragt.
Mit dem Lächeln der Neugier fuhr sie fort: Nun begreife ich, Sie sind der Boris Baródin, der übermorgen ein Konzert in der Philharmonie gibt.
Boris: Ja, dieser Boris bin ich und muss mich auf das Konzert intensiv vorbereiten.
Vera: Seit einem Jahr steht hier ein neuer Konzertflügel im Musiksaal. Ich werde Sie zum Flügel hinführen.
Sie führte Boris den breiten Flur entlang, der sich in die entgegengesetzte Richtung vom Speisesaal erstreckte. Vera ging einige Schritte voraus und begann ein freundlich lockeres Gespräch: Da haben Sie einen großen Abend vor sich. Im Kulturteil der Zeitungen werden Sie als namhafter Pianist mit internationalem Renommee beschrieben." Boris schwieg und folgte Vera, die sich in der Anmut ihres Ganges in den Hüften wog.
Vera: Da sind Sie durch ihre Konzerte sicher in der Welt herumgekommen.
Boris: Ja, das bin ich.
Vera: Das muss doch ein aufregendes Leben sein, als Künstler gefeiert zu werden.
Boris: Wissen Sie, Fräulein Vera, oft wünschte ich mir weniger auf dem Präsentierteller zu stehen und dafür mehr Ruhe und Beschaulichkeit zu finden.
Vera: Das können nur Sie sagen, weil Sie ganz oben auf der Ruhmesleiter stehen. Für uns normale Menschen ist und bleibt es der große Traum.
Boris: Aber Sie haben doch einen interessanten Beruf, der Sie mit vielen Menschen der unterschiedlichsten Herkunft und Berufe zusammenbringt. Da sind Sie mir doch voraus, denn ich habe es fast ausschließlich mit Musikern und meinem Agenten zu tun.
Vera: Sie haben recht, Herr Baródin, in den ersten Monaten ist der Beruf einer Rezeptionistin spannend und aufregend, wenn auf einen die Menschen zukommen, um hier zu übernachten, und die anderen Menschen nach dem Frühstück das Hotel verlassen, die hier übernachtet und schließlich gezahlt haben. Aber dann wird es zur freundlichen Routine, die auch ihre schlechten Seiten hat, wenn sich ein Gast etwas herausnimmt, was er besser nicht tun sollte, weil es geschmacklos und ungezogen ist.
Boris: Ich verstehe, was Sie sagen. Doch das sind doch die Ausnahmen.
Vera: Das können Sie so nicht mehr sagen, denn die Respektlosigkeit dem weiblichen Geschlecht gegenüber hat in den letzten Jahren bedenkliche Ausmaße angenommen. Der Mangel an guter Erziehung zeigt nun und besonders uns gegenüber die Folgen, gegen die wir uns zu wehren haben.
Vera öffnete die hohe Flügeltür: Kommen Sie! Jetzt sind wir im Musiksaal.
Sie schaltete das Licht an, und zwei riesige Kronleuchter ließen den Saal erstrahlen. Vera: Es wird gesagt, dass hier auch Chopin seine Klavierabende gegeben haben soll. Das war zu einer Zeit, als das Hotel den Namen ‘Fürstenhof’ führte. Im letzten Krieg sollen hier jüdische Künstler vor den hochrangigen Nazis aufgetreten sein, auch solche von der Berliner Philharmonie, die wenig später in Auschwitz-Birkenau ihr Leben verloren haben.
Boris schockierte dieser Satz. Er erinnerte sich an die Erzählungen seines Großvaters, als er durch die multiple Sklerose in den Beinen gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt war, wie brutal die Nazis mit den Juden und anderen Minderheiten sowie den Regimekritikern umgegangen waren. Vera führte ihn ans Ende des Saales, wo der Flügel stand: Da ist er, den Sie suchen.
Boris setzte sich an den Flügel, der ein Steinway war, und spielte ihr zum Dank die beiden ersten ‘Préludes op.28’, das ‘Agitato’ in C-Dur und das ‘Lento’ in a-Moll von Frédéric Chopin vor. Vera stand wie gebannt am Flügel mit Tränen in ihren großen dunklen Augen. Da sie kein Tuch bei sich hatte, um ihre Tränen abzuwischen, zog Boris sein ungebrauchtes Taschentuch aus der Jackentasche und hielt es ihr mit der Frage entgegen, ob sie damit vorliebnehmen wolle. Vera nahm sein Taschentuch, das noch zusammengefaltet war, wortlos entgegen und wischte sich die Tränen vom Gesicht, während Boris die beiden nächsten ‘Préludes’, das ‘Vivace’ in G-Dur und das ‘Largo’