Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Dorfbrunners: Zeitkritischer Roman über Generationen einer Familie
Die Dorfbrunners: Zeitkritischer Roman über Generationen einer Familie
Die Dorfbrunners: Zeitkritischer Roman über Generationen einer Familie
eBook781 Seiten12 Stunden

Die Dorfbrunners: Zeitkritischer Roman über Generationen einer Familie

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Der Kern des Romans gilt dem Pfarrer Eckhard Hieronymus Dorfbrunner und seiner Familie in der Zeitspanne nach dem 1. Weltkrieg bis in die ersten Jahre nach dem 2. Weltkrieg. Die Familien- und Berufsgeschichte streift die Wirren nach dem 1. Weltkrieg mit dem politisch-gesellschaftlichen Zerfall des Deutschen Reiches unter dem Vertrag von Versailles und dem missglückten Versuch der Errichtung der ersten Republik, die eine Republik auf dem Papier aber ohne Bürger geblieben war (Weimar), und den Wirren mit der Armut bis hin zur Entstehung des Nationalsozialismus mit dem 'gestiefelten' Führerstaat.

An Beispielen wird auf die staatliche Einkesselung der Glaubensfreiheit und der Kirche durch das Nazi-Regime eingegangen. Der Zwang des Ariernachweises macht Eckhard Hieronymus Dorfbrunner Kopfzerbrechen, weil seine Frau eine getaufte Halbjüdin ist, deren Mutter mit dem Mädchennamen Sara Elisa Kornblum als Volljüdin und Frau des Breslauer Pfarrers i.R. Eduard Hartmann auf einem Bauernhof versteckt wird. Ein einsichtiger Standesbeamter hat die offizielle Todesurkunde ausgestellt, dass Mutter Hartmann als getaufte Christin nun als 'Tote' das Nazi-Regime überleben soll. Die 'Reichskristallnacht' mit der Zerschlagung der Türen und Fenster jüdischer Häuser und Geschäfte erschüttern Eckhard Hieronymus und seine Familie sehr. Mit dem Krieg und der blutenden Ostfront wird auch die Kesselschlacht gegen die Kirchen immer härter. Eckhard Hieronymus Dorfbrunner beginnt als Prediger in Burgstadt, einer Kohlestadt mit einer alten Burg östlich von Breslau und erwirbt sich durch seine Predigten den Namen eines 'paulinischen' Predigers, dass ihn der schlesische Bischof als den jüngsten Superintendenten nach Breslau holt.

Es bleibt nicht aus, dass Eckhard Hieronymus Dorfbrunner als Superintendent von der Gestapo verhört wird. Seine Karten stehen schlecht.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum3. Dez. 2015
ISBN9783738049961
Die Dorfbrunners: Zeitkritischer Roman über Generationen einer Familie

Mehr von Helmut Lauschke lesen

Ähnlich wie Die Dorfbrunners

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die Dorfbrunners

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Dorfbrunners - Helmut Lauschke

    Erstes Kapitel

    Zeitkritischer Roman über Generationen einer Familie

    Die ersten Wurzeln

    Die Vorfahren der Dorfbrunners lebten im Sächsischen, wo sie als Bauern und Brunnenbauer tätig waren. August Dorfbrunner wurde als dritter Sohn des Dorflehrers Julius Martinus Dorfbrunner 1754 im Dorf Pommern in der Oberlausitz geboren. Als der sächsische Kurfürst mit seinem Gefolge vom evangelisch-lutherischen zum katholischen Glauben übersetzte, damit die Bedingung der polnischen Aristokratie erfüllte und König von Polen wurde, setzten auch die Königstreuen nach dem fürchterlichen Glaubensscharmützel des Dreißigjährigen Krieges und des nicht weniger fürchterlichen Hussitenkrieges vom reformatorisch verlustreich erkämpften Bekenntnisufer zum katholischen über. So tat es auch der Lehrer aus dem Dorf Pommern samt seiner sechsköpfigen Familie, der sich, wie andere Lehrer auch, dem bedingungslosen Gehorsam der Obrigkeit gegenüber verpflichtet fühlte. Diese Pflichtübung in Sachen Glauben mit dem Bekenntniswechsel zurück zum Katholischen hin, dem verschnörkelt aufgesetzten Glaubensversetzungsschreiben mit der pedantisch verkanteten Unterschrift auf der vorher mit dem Lineal etwas schief gezogenen Zeilenlinie, in dem der Dorflehrer den Wittenberger Thesen des Dr. Martin Luther die Absage erteilte und die weitere Gefolgschaft versagte, wurde ihm durch die sächsisch-kurfürstliche Schulbehörde mit der Aufstufung zum Oberlehrer honoriert, dessen Urkunde ihm an seinem 39. Geburtstag mittwochs, den 26. Juni 1747, durch einen kurfürstlichen Boten persönlich überbracht wurde. Dieser Oberlehrer, den sein Vater Julius (offenbar in Gedankenrichtung auf Julius Cäsar), der Dorfpfarrer des lutherischen Glaubens für Pommern und die umliegenden Dörfer war, auf die Namen Julius Martinus taufte, ließ seinen drittgeborenen Sohn mit den Namen August Emanuel ins Taufregister der Gemeinde eintragen. Für seine Namensfindung stand der sächsische Kurfürst Pate, der sich den kraftvollen Namen August der Starke trotz seiner erheblichen Schwächen zugelegt hatte. So war August ein Name, der sich bei der sächsischen Königstreue in kürzester Zeit großer Beliebtheit erfreute, dass man sich wunderte, wenn ein August in der Namenspalette für den Neugeborenen nicht erschien.

    Es war August Emanuel Dorfbrunner, unter dessen Vorfahren außer Lehrern, lutherischen Pastören, einem Tierarzt auch gewöhnliche Bauern waren, aus denen in weiter zurückliegenden Zeiten die Brunnenbauer hervorgingen, die so erfolgreich waren, dass sie nach Generationen des Wassergrabens und Brunnenbaus zu geringem Wohlstand gelangten. Sie waren in diesem Beruf gefragt und wurden die Dorfbrunner genannt. Es war der Erfolg im Beruf, dass sie die Berufsbezeichnung zu ihrem Namen machten, in einer Zeit, als die meisten Bauern bei den Grundbesitzern als ihren Lehnsherren noch in Fronarbeit standen, die immer härter wurde, und die ersten selbständigen Kleinbauern von den gräflichen und kurfürstlichen Landesherren mit immer höheren Abgabesteuern überzogen wurden. Es war die Härte des Feudalsystems, unter dem auch die Dorfbrunners litten, so dass es der Erfolg im Brunnenbau war, der sie mit ihrem kleinen Hof besser als andere Kleinbauern überleben ließ. Sie wurden von den Grundbesitzern mit ihren Abgabeforderungen weniger schikaniert.

    August Emanuel aus der fünften Folgegeneration der Dorfbrunners und dritter Sohn des Dorfschullehrers Julius Martinus Dorfbrunner in Pommern in der Oberlausitz, dem Oberlehrer nach Glaubenswechsel mit der beurkundeten Gefolgschaftsaufkündigung der Wittenberger Thesen des Reformators Dr. Martin Luther, war mit einem Augenfehler im Sinne des Einwärtsschielens zur Welt gekommen. Es bekümmerte den Vater sehr, der sich durch das Hänseln und den Spott der anderen Kinder persönlich gekränkt fühlte. Er suchte mit seinem schielenden Sohn mehrere Ärzte in Bautzen, in Hoyerswerda, dann in Dresden auf, die ihm nicht helfen konnten. Er machte mit dem kleinen Gehalt eine größere Reise nach Leipzig, weil ihm versprochen wurde, dass da an der Universität die Augenspezialisten mit der erforderlichen Einrichtung seien, um den Augenfehler des Sohnes durch eine Operation zu beheben und dem Schielen ein Ende zu setzen. Der Sohn wurde operiert und blieb zur Beobachtung zwei Wochen in der Universitätsklinik, so dass sich der Vater für diese Zeit in einer Pension einquartierte. Die Kosten waren höher als erwartet, so dass er die Verwaltung um eine Ratenzahlung bat, die ihm nicht nur diese Art der Begleichung zugestand, sondern ihm für die Bezahlung über die Hälfte der Kosten erließ. So kehrte der Oberlehrer mit seinem Sohn nach neuntägiger Fahrt mit der zweispännigen Postkutsche und acht Übernachtungen in kleinen Pensionen an der Straße und Scheunen etwas abgelegener Bauernhöfe nach Pommern in der Oberlausitz zurück. Er zahlte den Kutscher buchstäblich mit dem letzten Taler, der ihm schon einen Vorzugspreis gewährte.

    Der Abschluss der achten Klasse in einer Grundschule der Kreisstadt Bautzen war bei August Emanuel Dorfbrunner weniger erfolgreich als bei seinen älteren Brüdern Claudius Markus und Matthias Johannes, die bereits das Gymnasium in der Kreisstadt besuchten und dort mit ihren Leistungen zum guten Durchschnitt zählten. Der Vater wog mit pädagogischer Genauigkeit die Begabungen seines dritten Sohnes ab, fand dabei heraus, dass sie mehr den Händen als dem Kopf zusprachen, und beschloss, ihn den Beruf seiner Vorfahren, den Brunnenbau erlernen zu lassen. Die Bodenkenntnisse, die für diesen Beruf erforderlich waren, sollte er in einem praktischen Jahr der landwirtschaftlichen Arbeit auf einem Gut erwerben, das sich ans Dorf Pommern anschloss. Es war ein Herrengut mit weitläufigen Feldern, Wäldern mit Birken, Buchen, Linden und Fichten, dem das Dorf als kleine Wohneinheit vorgelagert war. Viele der Dorfbewohner hatten sich zur Feldarbeit auf dem G ut verdingt und bestritten das Leben ihrer Familien mit dem bescheidenen Einkommen, das ihnen der Gutsherr zugestand, der den Adel im Namen führte gleich unterhalb eines Grafen, dessen Grafschaft sich weit über das Land erstreckte, der auch die Kreisstadt zugehörte. Der Gutsherr führte zu seinen reichen Erträgen aus der Bewirtschaftung des guten Bodens noch ein Gestüt, das einen renommierten Namen hatte, der bis nach Dresden reichte und seit langem in den kurfürstlichen Ohren einen guten Klang erzeugte.

    Der Vater machte sich mit seinem dritten Sohn an einem Mittwochmorgen, für den er den Schulkindern nach Rücksprache mit seinem Vorgesetzten einen schulfreien Tag gegeben hat, auf den Weg zum Gutsherrn, mit dem er einen Besprechungstermin für diesen Tag vereinbart hatte. Der G utsherr mit dem Adel im Namen schickte dem Oberlehrer, Julius Martinus Dorfbrunner, aus diesem Grunde früh genug den offenen Einspänner vors Nebengebäude des Schulhauses, in dem der Lehrer mit seiner Familie residierte. Vater und Sohn hatten sich sonntäglich angezogen. Frau Dorfbrunner hatte beiden tags zuvor die Haare geschnitten, fehlende Knöpfe an den weißen Hemden angenäht, Hemden und Anzüge mit dem schweren Dampfeisen gebügelt und die Sachen mit den passenden, dunkelblauen Schlipsen und den schwarzen Socken auf den Stühlen zurechtgelegt, während der Sohn am Abend vorher seine und des Vaters schwarze Schuhe auf Hochglanz polierte.

    Der Kutscher Fritz Lehmann, der den Lehrer Dorfbrunner zwecks Nachhilfeunterricht schon etliche Male zum Herrenhaus gefahren hatte, wartete draußen vor dem Schulhaus, wischte mit einem gelben Wolllappen den Staub von der gepolsterten Sitzbank und Rückenlehne und schlug dann mit demselben Lappen den Staub aus dem rechten und linken Einstieg vom Boden vor der Sitzbank. Der Kutscher Fritz nahm die Kutschermütze vom Kopf, als der Oberlehrer Dorfbrunner und sein Sohn August Emanuel aus der Türe des Nebengebäudes traten und auf den offenen Einspänner zugingen. Herr Dorfbrunner, dem die Disziplin im Blute war, freute sich über das Benehmen mit der ihm entgegengebrachten Achtung als Oberlehrer des Dorfes. Er sah Fritz mit freundlichen Augen in das arglos gutmütige Gesicht und wünschte ihm einen guten Morgen. Mit zusammengestellten, verstaubten, dunkelbraunen Schuhen mit knöchelhohem Schaft, die mit ledernen Schnürriemen geschlossen waren, denen eine saubere Riemenschleife aufgesetzt war, grüßte Fritz zurück, wobei er zur Begrüßung die Worte „Herr Oberlehrer" gebrauchte und dabei die Kutschermütze am abgegriffenen Schirm vor die zugeknöpfte braune Jacke seiner verkürzten Schiefbrust mit der verkrümmten Brustwirbelsäule und dem nach hinten rechts ausladenden Knick nach einer durchgemachten Tuberkulose als Kind hielt. Das alles entging dem Oberlehrer Dorfbrunner nicht, dem bei der Begrüßung ins Gesicht auch der schielende Auswärtsblick des linken Auges nicht entging. Der Oberlehrer kannte den Kutscher Fritz von Kindheitsbeinen an, der als gewöhnlicher Feldarbeiter auf dem Gut angefangen, sich nach vielen J ahren zum Kutscher des Vaters des derzeitigen Gutsherrn hochgearbeitet hatte und die gehobene Stellung beim jungen Gutsherrn beibehielt. Herr Dorfbrunner kannte auch die Eltern von Fritz Lehmann sowie seinen jüngeren Bruder Oswald und seine ältere Schwester Emilie, die zusammen ein kleines Haus am Dorfende bewohnten, das vom Dorfbrunnerschen Haus keine fünfhundert Meter entfernt war und sich trotz der Putzschäden über dem Eingang und den beiden Fenstern an der Ostfront und anderen baulichen Alterungserscheinungen durch sein gepflegtes Äußeres und den stets gehegten Gemüsegarten von den anderen Häusern unterschied. Walter Lehmann, der Vater von Kutscher Fritz, war bis kurz vor seinem Tode in der Kirchenarbeit tätig, sorgte für die Sauberhaltung, erledigte selbst kleinere Reparaturen wie die Auswechselung eines Haupttürschlosses nach abgebrochenem Schlüssel, dessen steckengebliebener Teil mit dem Schlüsselbart nicht aus dem alten Schloss herauszuholen war. Vater Lehmann läutete die Kirchenglocke zu den Gottesdiensten, den Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen; ihm oblag die Führung des Taufregisters, in das er mit größter Sorgfalt und pedantisch ausgeführter Schönschrift seine Eintragungen machte und das Register wie den eigenen Augapfel hütete. Oswald, sein Sohn, war mit siebzehn auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen. Tochter Emilie blieb unverheiratet und im Dorf, sie lebte nach dem Tode des Vaters mit der Mutter zusammen, die seit Jahren an asthmatischen Hustenanfällen litt, bei einem Anfall von der Stufe stürzte und sich das rechte Handgelenk brach, das der Hausarzt in den ersten Wochen übersah, so dass das Gelenk in Bajonettstellung schief verheilte.

    Fritz setzte die Kutschermütze auf, nahm dem Pferd den Hafersack ab, strich ihm über den Nasenrücken, fuhr ihm sanft über die linke Nüster und hob sich auf den Kutschersitz. Der Oberlehrer Dorfbrunner und sein Sohn August Emanuel hatten auf der gepolsterten Sitzbank Platz genommen und sich zurückgelehnt. Als Fritz die Zügel in die Hand nahm, setzte sich der gescheckte Schimmel in B ewegung und zog den Einspänner vom Vorplatz der Schule, ohne dass Fritz das Kommando sprach. Die schmiedeeisernen Radbänder knirschten durch den grobkörnigen Sand oder schlugen hart gegen größere Granitbrocken, die zur Befestigung in den Boden versenkt wurden. August Emanuel sah, bevor der Einspänner den Platz verließ, noch einmal zum Haus zurück. Er sah die Mutter im Eingang stehen, war von ihr gerührt, wie sie mit leicht erhobener rechter Hand nachwinkte, um dem Sohn Glück zu wünschen und ihrem Mann, dem Oberlehrer, Talent beim Gespräch mit der nötigen Geduld im Zuhören. Denn, wie bei vielen Lehrern jener Zeit, war es mit dem Zuhören nicht immer zum besten bestellt, als wäre ihnen das Zuhören wie ein altes Notizbuch aus der Tasche gefallen, das Mehrsagen auf den Leib geschrieben und das letzte Wort von innen ans Stirnbein gemeißelt. Kutscher Fritz saß mit dem verkürzten Oberkörper wie ein Zwerg auf dem Fahrerbock, dem der rechte Rückenbuckel durch die zugeknöpfte Kutscherjacke drückte. Im Geradeausblick hielt er die Zügel locker in der linken Hand. Der Oberlehrer Dorfbrunner ließ sich das Grüßen der entgegenkommenden Erwachsenen und winkenden Kinder gern gefallen, das er von oben mit nickendem Kopf majestätisch erwiderte. Dabei fuhren seine Lippen mit einem Brummlaut unentschieden hin und her, ohne dass ein Wort der Bestimmtheit, der ausgesprochenen Begrüßung über seine Lippen kam. So knirschten und schlugen die Räder, holperte der Einspänner durchs Dorf, dass die sitzenden Körper auf der Polsterbank auf und ab wippten und die Köpfe auf den gestreckten Hälsen in alle Richtungen wackelten. Sie kamen an der Kirche vorbei, in der einst der Reformator das Wort hatte. In der Kirche selbst hatte sich nach der Wendung des sächsischen Kurfürsten zum katholischen Glauben so gut wie nichts verändert. So wurde der Beichtstuhl beibehalten, dem auch Martin Luther eine große Bedeutung zur Reinigung der Seele beimaß. Auf dem kleinen Vorplatz spielten einige Kinder, die sich den Ball zuwarfen, während eine ältere Frau in schwarzem Kopftuch gebückt die Erde in den schmalen, lang gezogenen Tulpen- und Vergissmeinnichtrabatten an den Wegseiten vor dem Eingang mit der Harke lockerte.

    Hinter der weiß gestrichenen Kirche mit dem kurzen Spitzturm, in dem die G locke hing, die bis vor einem Jahr Walter Lehmann, der Vater von Fritz, sonntags und zu anderen festlichen und traurigen Anlässen läutete, bog der Einspänner den breiten Weg links ab. Der gescheckte Schimmel kannte offenbar den Weg, denn Fritz auf dem Kutscherbock hatte die Leine locker durchhängen lassen und dabei zum Kirchturm hoch geschaut, als sähe er den Vater die Glocke schwingen. Die Räder rollten weich und still über den gut ausgebauten Weg, dem sich von rechts ein langes Roggenfeld entgegenzog, dem der Schnitt kurz bevorstand. Links säumten hohe Birken den Weg, die sich im leichten Windstoß federnd verneigten. Hinter dem Birkenzug öffnete sich die Weite einer sattgrünen Wiese, auf der die Pferde weitläufig grasten, die Fohlen ungläubig dreinschauten, winklig umhersprangen und dabei den Stuten zwischen die Beine fuhren, um den Kontakt zum Gesäuge zu befestigen. Oberlehrer Dorfbrunner saß bedeutungsvoll steif und zurückgelehnt, fuhr mit der rechten Hand über die linke Jackenschulter, dann mit der linken Hand über die rechte Jackenschulter, um den aufgefahrenen Staub, den es auf beiden Schultern nicht gab, abzuwischen. Er mochte sich als gefahrene Hoheit gefühlt haben, die er sich vom Bildungsrang und der Lehrbedeutung ohne jeden Zweifel zubilligte. Er strich den dunkelblauen Schlips nach unten, der sich über dem Hosenbund wellte, weil das Schlipsende in der Hose steckte. Sohn August Emanuel fühlte sich weniger entspannt, saß aufrecht mit seinen unausgegorenen Gedanken neben dem Vater, sah durch die stehende Birkenreihe mit den leicht wogenden Wipfeln und Zweigen zu den weidenden Pferden auf der Wiese mit den staksig stehenden und umherspringenden Fohlen und hätte den Vater gern über das anstehende Gespräch mit dem Gutsherrn fragen wollen. Er verfolgte, wie der Vater in unregelmäßigen Abständen seinen Schlips nach unten glatt strich, mit der rechten Hand mal über das rechte, mit der linken Hand mal über das linke Hosenbein bis zum Knie fuhr, als gäbe es den Fahrtstaub abzuwischen, der nicht zu sehen war. Er blickte ihm von unten links ins P rofil, wo der vorgezogene Unterkiefer beim Geradeausblick der Augen die konzentrierte Strenge und ihm die schweigende Zurückhaltung signalisierte. So schluckte der Sohn die Frage nach seiner Zukunft runter, wie er sie aus Furcht vor seiner Strenge, die mit einer unberührbaren Unnahbarkeit gekoppelt war, schon viele Male, ohne ein Wort von sich zu geben, runtergeschluckt hatte. Stattdessen betrachtete August Emanuel den verkür zten Körperstamm des Kutschers Fritz mit dem rechts ausladenden Buckel unter seiner braunen Kutscherjacke. Bei der Betrachtung fuhren ihm verkürzte Erdgeister und verbogene Zwerge durch den Kopf, die wie Kutscher Fritz auch eine Schirmmütze aufhatten, unter der ein Auge nach außen schielte. Die kräftigen Arme und Beine der normalen Längen machten das Zerrbild der verfehlten Proportion, beziehungsweise der verfluchten Disproportion, der der Teufel im Rücken steckte, komplett, warum die Schiefheit des zusammengesackten Brustkorbs mit dem spitz hervorstechenden Buckel ein Brennpunkt der magisch anziehenden Betrachtung mit dem stets wiederkehrenden Ergebnis des magisch abstoßenden Erschauderns vor dem teuflischen Einbruch mit der menschlichen Verknickung war. Die Fahrt führte über eine kurze Schneise dur ch einen dichten Wald aus Birken, alten Buchen und Eichen. Am Ende der Waldschneise öffnete sich ein weiter Blick über satte Getreidefelder mit dem hellen wilden Rot der Mohnblüten an den Seiten. Nach der Öffnung begrenzten Holunderbäume den Weg, der durch dichten Grasbezug und den eingefahrenen Spuren sich weich den leise und geschmeidig rollenden Rädern des Einspänners unterlegte. Als nach einer Kurve das Herrenhaus zwischen alten dickstämmigen Linden und Nussbäumen zum Vorschein kam, gab Oberlehrer Dorfbrunner seinem Sohn die letzten Anweisungen für ein ordentliches Benehmen während des Gespräches mit dem jungen Gutsherrn, der den Adel in seinem Namen trug. Der Vater legte auf den letzten hundert Metern bis zum Haus die linke Hand aufs rechte Knie des Sohnes August Emanuel. Er tat es väterlich rücksichtsvoll, um dem Sohn die Erregung vor dem Unbekannten zu dämpfen. „Mach ein freundliches Gesicht und sprich nur, wenn du gefragt wirst, sagte ihm der Vater, als der Einspänner den weiten Vorplatz erreichte, der von den riesigen Bäumen gesäumt war. Kutscher Fritz hielt die Leine locker in der linken Hand, während der gescheckte Schimmel den Wagen weich und ohne Kratzgeräusch der eisernen Radbänder die letzten Meter auf das Hauptportal zu zog. Sein leichtes Schnaufen signalisierte, das Ziel erreicht zu haben, als er mit dem Wagen vor dem breiten Treppenaufgang anhielt, wozu Kutscher Fritz mit einem langgezogenen „Brrr das Anhaltkommando gegeben hatte. Er schlug das Leinenende einige Male um die Haltestange neben dem Bock, stieg vom Wagen herunter, wandte sich dem Oberlehrer Dorfbrunner und seinem Sohn zu, wobei er, wenn er sie mit dem rechten Auge fixierte, mit dem linken Auge an ihnen vorbeisah. Er zog die braune Schirmmütze vom Kopf, hielt sie am abgegriffenen Schirm vor die zugeknöpfte Fahrerjacke über seine verkürzte Schiefbrust mit dem rechten Spitzbuckel am Rücken, setzte die braunen, mit Lederriemen verschnürte Schuhe zusammen, deren Schaft die Knöchel bedeckte, und wünschte dem Oberlehrer einen guten Tag, wobei er auch diesmal den Oberlehrer wörtlich erwähnte. Herr Dorfbrunner stand noch im Wagen und neben ihm sein Sohn, als Kutscher Fritz die Achtungsposition mit vorgehaltener Mütze einnahm. Erst der Vater, dann der Sohn, so stiegen sie rückwärts die zwei Stufen vom Wagen herunter. Sie passierten den achtungsbemühten Kutscher Fritz, der durch seine verkürzte Schiefbrust mit dem Rückenbuckel und dem daraus resultierenden Jackenschiefsitz wie ein gealterter Gnom wirkte. Hinzu kam sein Schielfehler, dass er im Seitwärtsstand und nach vorn gerichtetem Gesicht mit dem linken Auge praktisch um die Ecke in die Gesichter der vom Wagen Gestiegenen und ihm Entgegenkommenden blickte, während das rechte Auge im Geradeausblick nur kurz die Profile streifte, als der Oberlehrer Dorfbrunner und sein Sohn vor seiner Nase vorbeigingen. „Auch ich wünsche dir alles Gute, Fritz!, war der Rückgruß des Oberlehrers, als er an ihm vorüberging. Sohn August Emanuel folgte dem Vater in zwei Meter Abstand, der dem Kutscher Fritz wegen des Schielfehlers ins Gesicht sah, dabei an den eigenen dachte, der trotz Operation in der Leipziger Uni-Klinik nicht völlig behoben war. August Emanuel, dem die Hosen zu lang waren, obwohl die Mutter den Bund am Hosenträger schon höher gezogen hatte, war zu aufgeregt, als dass er ein Wort herausbrachte. Er folgte schweigend und mit linkischem Schritt dem Vater, der bereits auf der ersten Treppenstufe stand, sich nach dem Sohn und dem Weitblick über das fruchtbare Land umdrehte. „Ist das nicht ein herrlicher Blick, so viel Land mit dem voll stehenden Roggen und Weizen und den grünen Wiesen?, fragte er den Sohn, der sich auf die zweite Stufe stellte, drehte und nach den weidenden Pferden mit den jungen Fohlen Ausschau hielt.

    Sie gingen die Stufen hinauf, Sohn August Emanuel links vom Vater, und hatten die letzte der sieben Stufen noch nicht erreicht, als sich die breite, matt glänzende Rotbuchentür mit dem eingeschnitzten Wappen von Widderkopf und Adler vor gekreuzten Schwertern, dem Familienzeichen der von Wittkopfs, öffnete und der junge Gutsherr ihnen in grüner, abgetragener Jagduniform und braunen wadenhohen Stiefeln entgegentrat. „Guten Morgen, Herr Dorfbrunner! Ich hoffe, Sie hatten eine gute Fahrt. Sie sehen, dass wir in diesem Jahr einer guten Ernte entgegengehen, wenn uns das Wetter nicht vorzeitig dazwischenfährt. Er gab Vater und Sohn vor der weit geöffneten Tür die Hand und rief dem unten stehenden Kutscher Fritz, der die Mütze wieder aufgesetzt hatte, vor dem Wagen stand und auf Weisung wartete, zu, dass er den Schimmel ausspannen und zum Stall bringen könne. Oberlehrer Dorfbrunner, der noch die Hand des jungen Gutsherrn hielt, ihm einen guten Morgen wünschte, stellte bei der Begrüßung den Sohn August Emanuel vor, der verschüchtert blassgesichtig dastand und die Begrüßungszeremonie mit dem Fremdgefühl des Unbehagens verfolgte. Herr von Wittkopf gab ihm mit den Worten die Hand: „dann bist du der August Dorfbrunner, ein Sohn des Oberlehrers. „Ja, das bin ich, sagte der Junge eher unbeholfen, der nicht mehr weit von seinem 15. Geburtstag entfernt war. Da ihm der Gutsherr nur beiläufig ins Gesicht sah, war es möglich, dass ihm der zurückgebliebene Schielfehler des rechten Auges entgangen war, zumal er etwas rechts seitlich gedreht vor Herrn von Wittkopf stand, als er ihm die Hand reichte. „Kommen sie doch rein, und er ging den Dorfbrunners voraus, führte sie durch einen breiten Flur, dessen Wände mit geweihtragenden Jagdtrophäen vollgehängt waren. Am Ende des Flures siegreicher Jagden, dessen gefülltes Panoptikum wegen der Vielzahl die Jagderfolge des Vaters, wenn nicht auch des Großvaters einschloss, öffnete der Gutsherr den klinkentragenden Flügel einer ebenfalls breiten Tür aus Rotbuche mit unterschiedlich groß ausgewirkten Karrees zwischen tiefer eingeschnitzten Hoch- und Querfugen. Die Zapfen quietschten beim Drehen die Trockenheit des hohen Alters in den Angelzylindern hin und her. Der Gutsherr schloss die Tür mit dem dumpfen Klinklaut, wenn sich ein Eisen neben das andere schiebt, ohne einander spitz oder hartkörnig zu reiben. Sie standen in einem großen Raum mit hoher Stuckdecke und drei hohen Flügelfenstern, über denen noch das Oberlicht mit dem runden Kopfbogen stand. Die Fenster erlaubten eine Weitsicht über das fruchtbare Land mit der frühherbstlichen Farbenvielfalt der Ährenfelder mit den seitlichen Mohnstreifen und den sattgrünen Wiesen mit den baumgesäumten Wegen dazwischen und den seitlich angrenzenden Wäldern vom dichten Mischbaumbestand. Die Weiten und Farben waren erstaunlich. In diesem Sinne drückte sich Herr Dorfbrunner aus, als er vom Wunder der Natur sprach, die ihm in diesem Augenblick unerschöpflich schien, weil er sie ja nur zum Teil durch das Fenster überblickte. Vor den Fenstern streckte sich der Seitenhof zu den Plantagen aus Kirsch- und Pflaumenbäumen aus, vor denen ein groß angelegtes eingezäuntes Hühnergehege und daneben ein noch größerer Gänseauslauf mit einem Teich waren, wo die fetten Gänse herumstolzierten, mit gestreckten Hälsen keiften und plötzlich kapitolinisch laut drauflos schnatterten, wovon sich die drei herumlaufenden Jagdhunde in keiner Weise stören ließen. Der Seitenhof war vom großzügig ausgelegten Vorplatz durch zwei Baumreihen getrennt, von denen die erste Reihe aus hohen, dickstämmigen Kastanienbäumen und die zweite Reihe aus nicht weniger hohen Nussbäumen bestanden. Alle Bäume hingen voll, so dass auch sie auf eine reiche Ernte schließen ließen, wobei Kastanien eine Delikatesse für die Pferde waren und zudem die Spielphantasie von Kindern beflügelte, von denen der Gutsherr einige hatte.

    „Nehmen sie doch Platz", forderte Herr von Wittkopf den Oberlehrer Dorfbrunner und seinen Sohn August Emanuel zum Sitzen auf. Sie setzten sich auf massiv gebaute Stühle mit senkrecht hochstehender Rückenlehne an den großen rechteckigen Tisch mit den wuchtigen, vierkantigen Beinen und der dicken Platte aus Eichenholz, der Gutsherr ans Kopfende und von den Dorfbrunners der Vater rechts und der Sohn links von ihm. August Emanuel sah über die große, schwere, matt polierte Eichenplatte, um die neben den drei besetzten noch fünf unbesetzte Stühle standen, die bis zu den Rückenlehnen unter den Tisch geschoben waren. Vater Dorfbrunner sah auf die großen Ölgemälde an den leicht vergilbten Wänden, aus denen Männer und Frauen früherer Generationen herrschaftlich frisiert und gekleidet bedeutungsvoll über den Tisch schauten, ohne dass ihnen ein Lächeln abzugewinnen war. Die Gesichter der Männer waren von länglichem, die der Frauen mit den betonten Jochbögen von slawischem Format. Die Männer hatten kräftige Nasen mit breitem Steg, dagegen waren die Nasen der Frauen deutlich kürzer und schmal. Die Augenfarbe war bei zwei der Porträtierten blau, bei den andern drei war sie braun. Dagegen hatten die Frauen durchgehend die braune Farbe in der Regenbogenhaut. Die braunen Augen hatte sich auf den jungen Gutsherrn weiter vererbt. Alle Gesichter drückten eine fast preußische Herrschaftsstrenge aus, hinter der eine Disziplin zu vermuten war, die mit einer erheblichen Portion v erquerter Dickköpfigkeit einherging. Die Strenge der Blicke verriet, dass mit diesen Menschen nicht zu spaßen war, auf deren Lippen, weil sie schmal wie zusammengepresst übereinander lagen, etwas Verbissenes haftete.

    Herr von Wittkopf schaute dem Oberlehrer Dorfbrunner auf die Stirn mit der Schrägnarbe über dem linken Stirnbeinhöcker und fragte ihn, womit er ihm helfen könne. „Es geht um meinen Sohn August Emanuel, begann er nach kurzem Räuspern, das einerseits dem Kloß im Halse galt, der von den Stimmbändern wegzuholen war, andererseits den Sohn zur gebotenen Aufmerksamkeit rufen sollte, dessen Blicke die Tischplatte nicht losließen, als rannte er mit seinen Gedanken davon, suchte, anstatt bei der Sache zu sein, das Weite, jene zu den weidenden Pferden mit den jungen Fohlen. Herr Dorfbrunner erzählte die Geschichte seines Sohnes, wobei er am Ende auf den Volksschulabschluss mit dem Durchschnittsniveau der Leistungen zu sprechen kam. Anhand der Zeugnisnoten sei in der Familie der weitere Weg in die Zukunft erörtert worden. Bei der sorgfältigen Abwägung seiner Begabungen und der wirtschaftlichen Verhältnisse, die er als Vater mit seinem bescheidenen Salär als Lehrer halten könne, war mit dem Besuch des Gymnasiums nicht zu rechnen. Eine humanistische Ausbildung wäre kräftemäßig und finanziell eine hochgesteckte Illusion, die die Gegebenheiten weit übersteigen würde. Das Ergebnis der Erörterung war, dass August Emanuel bei seinem besonderen Interesse für die Dinge der Natur sich in der Landwirtschaft ausbilden sollte, um gegebenenfalls später einen Hof zu führen, wenn ihn der Gutsherr dafür für fähig hält. Herr von Wittkopf hörte, ohne zu unterbrechen, zu und sah dabei einige Male dem Sohn Dorfbrunner ins Gesicht. Weil das Zuhören sich über epische Überlängen erstreckte, entging dem jungen Gutsherrn bei der zuhörenden Gesichtsbetrachtung der Schielfehler von August Emanuel nicht. Er betrachtete aufmerksam sein Gesicht, um das abnormale, weil stets unerwartete Kuriosum der gestörten Parallelbewegung der Augen zu verfolgen. „Ich wollte Sie daher aus den genannten Gründen bitten, fuhr Herr Dorfbrunner fort, „meinem Sohn die Gelegenheit zu geben, auf ihrem Landgut die Bewirtschaftung der Felder und der Tiere zu erlernen. Selbstverständlich bin ich bereit, das Lehrgeld für ihn zu zahlen, bis er sich bei der Arbeit als nützlich erweist, um die Kosten selbst zu tragen und sie gegen den Lohn aufzurechnen. Bei diesem Satz winkte der Gutsherr mit einem Lächeln ab und meinte, dass er vom Sohn nicht den Eindruck der zwei linken Hände hätte, so dass er sich gleich nützlich betätigen könne, denn Arbeit gäbe es mehr als genug, deren Verrichtung ihm natürlich vergütet würde. „Da brauchen Sie sich keine Sorgen machen, versicherte Herr von Wittkopf dem Oberlehrer Dorfbrunner. Beide schauten zu August Emanuel herüber, der wie geistesabwesend mit gesenktem Kopf dasaß, mit seinem Blick an der Tischplatte festhing, als kurvte er mit seinen träumerischen Gedanken darauf rum, dass er schwerlich zum Ausgang zurückfand. Er riss sich von der Platte los, als ihn der Gutsherr fragte, ob er etwas zum Gespräch sagen wolle. Darauf sah der Sohn den Vater an der anderen Tischseite an, der beim Blick in seine Augen das Ergebnis der Schieloperation an seinem Sohn bedauerte, weil doch noch eine erhebliche Schielkomponente zurückgeblieben war. „Du hast die Frage an dich gehört. So sprich, wenn du noch etwas sagen willst", ermunterte ihn der Vater. August Emanuel sah den Gutherrn an und dann seinen Vater. Es fiel ihm kein Wort ein, das er, seine Zukunft betreffend, dem Gespräch hinzufügen konnte. Der Vater bemerkte die Unbeholfenheit, die ihm so krass in all den Jahren der Erziehung nicht aufgefallen war, weil sie nun irritierte, wenn der Sohn seine Meinung aussprechen sollte. Herr von Wittkopf fasste nach seinem Verständnis das Schweigen als eine positive Antwort auf. So fragte er den Sohn Dorfbrunner, um sich zu vergewissern, ob er mit dem Gespräch inverstanden war. Darauf antwortete August Emanuel mit dem kurzen Ja des Jugendlichen, der geistig noch ein Kind war, in dem sich die Welt mit den vielen offenen Fragen versteckt hielt, weil er zwar die vielen Erwartungen mit den noch mehr Fragen hatte, die er aber vor dem Erwachsenen nicht richtig, nicht präzise genug, auszudrücken in der Lage war.

    Damit war das Dreiergespräch, das ein Zweiergespräch zwischen Erwachsenen geblieben war, beendet. Es war in der Zeit, in der es Sitte war, dass der Jugendliche zuhörte, wenn Erwachsene miteinander sprachen und ein Gespräch führten, das von großer Bedeutung für den Jugendlichen war, weil da der Weg in seine Zukunft entschieden und festgelegt wurde. Der Gutsherr erhob sich mit der Feststellung, dass das Gespräch damit beendet sei, dem Oberlehrer Dorfbrunner nichts einzuwenden hatte und sich ebenfalls von seinem Stuhl erhob. So tat es der Sohn, der erleichtert war, dass diese Tischrunde zu Ende war und glimpflich an ihm vorübergegangen war. Herr Dorfbrunner bedankte sich für das Gespräch und das Angebot, den Sohn in die landwirtschaftliche Lehre zu nehmen. Beim Gang durch den Flur mit den vollgehängten Jagdtrophäen sagte der Gutsherr, dass der Sohn am Montag der ersten Septemberwoche mit der Arbeit beginnen könne. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank, merkte der Oberlehrer mit leicht unterwürfigem Ton an, während August Emanuel den Erwachsenen im Gehorsamsabstand von zwei Metern folgte. Herr von Wittkopf öffnete die breite Rotbuchentür zum Ausgang und rief von der erhöhten Plattform vor dem Eingang nach dem Kutscher Fritz, als die Dorfbrunners aus nächster Nähe am eingeschnitzten Familienwappen aus Widderkopf und Adler vor gekreuzten Schwertern vorbeigingen, sich neben den Gutsherrn stellten und auf den Einspänner warteten, um sie ins Dorf zurückzubringen. „Ich habe noch etwas für Sie, Herr Dorfbrunner, sagte Herr von Wittkopf und verschwand durch eine Seitentür in die Küche, in der Frauen mit der Zubereitung des Mittagessens zugange waren. So schnell er in die Küche verschwunden war, kam er wieder heraus und überreichte dem Oberlehrer eine in Papier eingewickelte Gans. „Das ist für ihre Arbeit an meinem Sohn, die gefruchtet hat, denn seine Schulnoten haben sich deutlich gebessert. Nehmen Sie die Gans mit, sie ist bereits ausgenommen. Ich wünsche ihnen und ihrer Familie zum Verspeisen einen guten Appetit. Dann stieg er durch eine schmale Seitentür in den Keller, man hörte das Klappern von Flaschen, und kam mit einer Weinflasche nach oben und reichte sie Herrn Dorfbrunner mit den Worten: „das ist ein Tröpfchen, das ihnen zum Braten gut über die Kehle laufen wird. Kutscher Fritz kam mit dem Einspänner vorgefahren, stieg von seinem Bock, nahm die abgegriffene Schirmmütze vom Kopf und hielt sie vor die schiefsitzende Kutscherjacke über der verkürzten Schiefbrust mit dem spitzen Rückenbuckel, als der Gutsherr die Dorfbrunners die Treppe herunter zum Wagen geleitete. Der Oberlehrer hielt die Weinflasche in der linken Hand, als er den Wagen bestieg, sich auf die Sitzbank setzte und Herrn von Wittkopf mit breitem Lächeln anstrahlte. Sohn August hielt die eingepackte Gans unter dem rechten Arm, als er auf den Wagen kletterte und sich links neben den Vater setzte. Kutscher Fritz stieg auf seinen Bock, nahm die Leine in seine Hand und gab dem gescheckten Schimmel das Kommando. Der Gutsherr wünschte mit leicht erhobener rechter Hand eine gute Fahrt und ging die Stufen zum Eingang hinauf, als der Wagen den Vorplatz noch nicht verlassen hatte.

    Für die Familie Dorfbrunner war die Entscheidung segensreich. August Emanuel, der eine Gesindekammer bezogen hatte, die, wie die andern Kammern, vom Herrenhaus einige hundert Meter weg gelegen war, verrichtete die Feldarbeit zur Zufriedenheit des Gutsherrn. Er hatte sich nach kurzer Zeit in der neuen Umgebung eingelebt und bewies sein Geschick im Umgang mit der Sense, beim Binden der Getreidepuppen, dem Laden des Leiterwagens, dem An- und Ausschirren der Pferde, dem Einfahren der Ernte in die Scheune, beim Lesen und Aufladen der Kartoffeln und den vielen anderen Tätigkeiten. Er bewegte sich fleißig. Keine Arbeit wurde ihm zuviel. Mit dem übrigen Gesinde verstand er sich gut. Er lernte das frühe Aufstehen mit der ersten Dämmerung, das Sich-Waschen draußen über dem Eimer, das Glattstreichen der Bettlake mit dem Zusammenfalten der Schlafdecke auf der harten Liege, das Ordnunghalten der Kammer, die Zufriedenheit mit dem Wenigen, die Reinigung der Ställe mit dem Lockern und Wenden des Strohs, das Entmisten und Füllen der Futtertröge und Tränken vor Sonnenaufgang. Er lernte die Verlässlichkeit in der Durchführung der ihm zugeteilten Arbeit, lernte die Wetterfestigkeit und Ausdauer, wenn er im Feld stand, Pflug und Egge folgte, um die Scholle zu wenden und für die nächste Aussaat zu glätten. Was August Emanuel nach wenigen Wochen der landwirtschaftlichen Lehre begriff, war der Wert der Disziplin in der Einordnung und gegenseitigen Hilfsbereitschaft. Dieses schnelle Begreifen wurde ihm zum Vorteil bei der Verrichtung seiner Feld- und Stallarbeiten, weil ihm da die andern ihre Hilfe nicht verweigerten, wenn er sie brauchte. Er wurde in die Kameradschaft unter den Gutsarbeitern einbezogen, was ihn mit Freude und Stolz erfüllte. Denn bei seinem Tun dachte August Emanuel an seine Familie, ihr keine Schande zu bereiten, zumal ihm der Vater den Satz mit auf den Weg gegeben hatte, nicht nur fleißig und hilfsbereit sein, sondern auch anständig und ehrlich zu bleiben. Diese Mahnung trug er ständig im Herzen und wollte seine Eltern nicht enttäuschen. Segensreich war die gefasste Entscheidung auch deshalb, weil die Familie vom Gutsherrn mit Mehl, Kartoffeln, Eiern und Fleisch bedacht wurde, ohne sie bezahlen zu müssen, als diese Nahrungsmittel in der Zeit der wirtschaftlichen Krise und des Hungers besonders kostbar waren. Der Gutsherr tat es auf eine großzügige Weise, weil ihn mit den Dorfbrunners eine gewisse Zuneigung verband, Vater Dorfbrunner die Gutsherrensöhne gegen ein geringes Entgelt, ohne es gefordert zu haben, unterrichtete, und als Anerkennung für die Arbeit von August Emanuel in der Landwirtschaft. Die Nahrungsmittel, die Kutscher Fritz alle zwei Wochen brachte, waren doch eine wesentliche Hilfe für die Dorfbrunners, die auf diese Weise die Krise umgingen und beim kleinen Salär des Vaters nicht zu hungern brauchten. Mit dem Zugebrachten kam genügend auf den Tisch, und Mutter Dorfbrunner war dankbar, ihre Familie mit ausreichenden Mengen zu bekochen. Die Kost war so reichhaltig, dass der Oberlehrer sogar einen leichten Fettbauch ansetzte, dass ihm der Hosenbund erweitert und die Knopfreihen an Weste und Jacke versetzt werden mussten. Auch die Söhne Claudius Markus und Matthias Johannes blieben durch die Dürrezeit gut genährt; sie erzielten beim guten körperlichen Befinden gute Schulergebnisse auf dem Gymnasium, rückten bis in die Nähe der Leistungsspitze ihrer Klassen auf, während Schüler, die zuvor die besten waren, durch die anhaltende Abmagerung dem gleichförmigen Leistungsabfall unterlagen, dem sie kräftemäßig nichts entgegenzusetzen hatten. Vater Dorfbrunner war stolz über die Schulleistungen der beiden ersten Söhne und das Lob von Herrn von Wittkopf über die Leistung seines dritten Sohnes, August Emanuel, bei der Arbeit auf den Feldern und am Vieh. Der Gutsherr meinte, dass aus dem dritten Sohn noch etwas werden würde, wenn er die Freude für und den Einsatz bei der Arbeit beibehalte. Die Berufsvorstellungen für seine Söhne hegte Vater Dorfbrunner schon länger, dass nach bestandenem Abitur der älteste die Offizierslaufbahn einschlagen, der zweite die Ausbildung zum akademischen Beruf antreten und der dritte ohne Abitur Landwirt werden solle. Das entsprach allerdings nicht ganz der Tradition mittelständiger Familien, besonders dann nicht, wenn der Vater ein angesehener Lehrer war, wo einer der Söhne, meist die Nummer zwei, in die Theologie einzusteigen hatte. So war es jedenfalls bei den Vorfahren der Dorfbrunners, wo von den Söhnen mit Abitur der erste Offizier, der zweite Pfarrer und der dritte Arzt wurde. Das war allerdings zurzeit mit dem festen Glauben, wie ihn der Reformator Martin Luther lehrte. Mit dem Umschwung des sächsischen Königshauses zum vorreformatorischen Bekenntnis, der lutherisch gesehen ein Rückschwung war, wo das Bekenntnis verschwungen wurde, um König von Polen mit Beibehaltung der Dresdner Residenz zu werden, sah Vater Dorfbrunner von der strengen Berufswahlregel ab, dass der zweite Sohn in die Theologie einsteigen müsse, weil er seinem zweiten, dem Matthias Johannes, die Qualen des Zölibats mit den möglichen und immer wieder durchsickernden Abirrungen ersparen wollte.

    August Emanuel machte seine Arbeit zur vollen Zufriedenheit des Gutsherrn, der ihm nach Ablauf von zwei Jahren Aufgaben mit der größeren Verantwortung übertrug. So bekam er die Aufgabe, die Weiden für die Kühe instand zu halten, dafür zu sorgen, dass sie nicht über weidet wurden. Diese Aufgabe schloss die Vorselektion der Rinder und Kälber ein, in der es darum ging, Kühe, die zweimal gekalbt hatten und mit der Milchproduktion zurückblieben, von der Weide zu entfernen, im Kuhstall zu halten und mit Mastfutter zu versorgen, um sie nach genügender Gewichtszunahme zum Schlachten freizugeben. Bei den Kälbern sollte die Auslese unter den Ein- und Zweijährigen getroffen werden, von den nur die stärksten auf der Weide gehalten, die anderen zu Schlachtkälbern gemästet werden sollten. Bei den Schweinen hatte er die Aufgabe, die Würfe zu überwachen, von den Werflingen, wenn es zu viele waren, die Schwächsten zu selektieren und die Vorauslese der schlachtreifen Eber und Säue zu treffen und seine Feststellungen dem Gutsherrn vorzutragen und zu begründen, dass dieser die endgültige Auswahl treffen konnte. Sohn Dorfbrunner gehörte zu den verlässlichen Arbeitern, der morgens der Erste und abends der Letzte war, der von der Arbeit zurückkehrte, seine Kammer stets aufgeräumt hielt und die Decke auf dem harten Holzbett sauber zusammengefaltet und die Lake glatt gestrichen hatte. Die Arbeit bei Wind und Wetter hatte ihn abgehärtet. Er hatte es gelernt, sich vor seiner Kammer auch im Winter über dem Eimer zu waschen, selbst dann, wenn draußen der Schnee lag oder die Eiszapfen von den Ästen und Dachrinnen hingen und frostig klirrten und knackten. August Emanuel war ein kräftiger junger Mann geworden, dem seine älteren Brüder, die Gymnasiasten, was die körperlichen Kräfte anging, das Wasser nicht reichen konnten. Es blieb daher nicht aus, wenn sie sich in monatlichen Abständen, entweder im Elternhaus oder sonst wo trafen, dass die Älteren den Jüngeren ob seiner kräftigen Arme und Beine den Muskelprotz mit dem kleinen Kopf nannten, der im Umfang nicht kleiner war als ihre Köpfe. Oder sie neckten ihn als Goliath mit dem Nasenblick, wobei sie auf die Schielstellung des rechten Auges anspielten, die von den Augenexperten der Uni-Klinik in Leipzig nicht ganz korrigiert worden war. Vater Dorfbrunner war jedoch stolz auf seinen Sohn, weil ihn Herr von Wittkopf stets mit Lob bedachte, wenn sie sich im Dorf, in der Kreisstadt oder auf dem Gut, hier anlässlich des Nachhilfeunterrichts der Söhne des Gutsherrn, trafen und auf August Emanuel zu sprechen kamen. Auch Mutter Dorfbrunner ließ auf den dritten Sohn nichts kommen, weil es seine gute Arbeit auf dem Landgut war, die den Gutsherrn veranlasste, die Familie mit Nahrungsmittel zu versorgen, die der Kutscher Fritz in zweiwöchentlichen Abständen brachte. So hatte die Familie in schw erer Zeit genügend zu essen, während andere Familien am Hungertuch nagten. Hörte die Mutter von den Neckereien der beiden älteren Söhne, dann fuhr sie scharf dazwischen und hielt ihnen vor, dass sie ihrem jüngeren Bruder für seinen Fleiß und die gute Arbeit dankbar sein sollten, weil sie durch ihn satt zu essen bekämen, was wesentlich zu ihren schulischen Leistungen beitrug. Als bei einer solchen Situation aus der Neckerei eine laute Diskussion wurde, Claudius Markus, der Älteste, mit dem Argument kam, dass die schulischen Leistungen weniger von den Muskeln als mehr vom Hirn abhingen und Vater Dorfbrunner in diesem Augenblick in die Küche trat und die arrogante Bemerkung hörte und die Mutter hinter dem Küchentisch neben August Emanuel mit hochrotem Kopf stehen sah, gab er dem Hirnlümmel eine schallende Ohrfeige, dass der über den zurückgeschobenen Stuhl kippte und mit Stuhl auf dem blank gebohnerten Boden einige Meter gegen die Wand unter dem Küchenfenster rutschte. Es krachte, der Fensterrahmen klapperte, und die Mutter befürchtete das Schlimmste mit Fenstersprung und Knochenbruch. Claudius Markus, der Verrutschte, blickte entgeistert in das vor Zorn erblasste Gesicht des Vaters, dann in das dem Mitleid zugeneigte Gesicht der Mutter, das noch immer rot, wenn auch nicht hochrot war, und saß noch eine Weile auf dem Boden neben dem Stuhl, dem der Aufschlag gegen die Wand die Rückenlehne aus der Halterung geschlagen hatte. Noch in der erbärmlichen Kauerstellung verpasste ihm der Vater eine Predigt, die sich gewaschen hatte und die sich der Sohn auf ausdrückliche Anordnung für sein Leben merken sollte. Der Vater verließ die Küche, schlug die Tür hinter sich zu, während die Mutter sich am Herd zu schaffen machte, und der durch Backpfeife und Predigt ermahnte Sohn sich erhob und den Stuhl mit der rausgebrochenen Rückenlehne dort stehen ließ, wohin er mit ihm gerutscht und gegengeprallt war. Er verzog sich mit glühender Wange und rot angelaufener, geschwollener Ohrmuschel auf sein Zimmer. August Emanuel, dem das auch alles zu stürmisch verlief, machte sich an Stuhl und Lehne zu schaffen; er schlug der bekümmert am Herd stehenden und das Mittagessen kochenden Mutter vor, den Stuhl mit der rausgebrochenen Rückenlehne mitzunehmen und auf dem Gut zu reparieren, weil dort das nötige Werkzeug vorhanden sei.

    Vater Dorfbrunner sprach das Tischgebet, und Mutter Dorfbrunner füllte die Suppenteller mit heißer Hühnerbouillon, zuerst den ihres Mannes, dann die ihrer Kinder und zuletzt den eigenen. Dazu gab es selbstgebackenes Brot, das geschnitten auf einer Holzplatte neben der Terrine stand. Die gespannte Atmosphäre schwirrte weiterhin über den Tisch, wo jeder auf seinen Teller schaute und die Suppe löffelte, als wäre der Essvorgang ein schwieriges Unternehmen, das die volle Konzentration erfordere. Die Mutter teilte den Rest Suppe aus, gab jedem noch eine halbe Kelle nach, um die Terrine zu leeren, als Vater Dorfbrunner die ältesten Söhne nach den schulischen Leistungen fragte und sie, ohne eine Antwort abzuwarten, weil sie oft nur allgemein gehalten war, ermahnte, sich anzustrengen, wenn sie es im Leben zu etwas bringen wollen. Er schaute zu Claudius Markus, der rechts von ihm saß, sah an der geröteten linken Gesichtshälfte mit dem Handmuster und dem geschwollenen Ohr vorbei und hielt ihm seine mittelmäßigen Leistungen in der Leichtathletik und beim Geräteturnen vor. „Wenn du die Offizierslaufbahn einschlagen willst, dann musst du dich im Sport besonders anstrengen, denn da werden Anforderungen gestellt, die einen trainierten Körper voraussetzen. Da brauchst du mehr Muskeln an den Armen und Beinen. Claudius Markus schwieg, sagte auch nicht, dass ihm die Offizierslaufbahn doch aufgezwungen wurde, die er selbst nie gewählt hätte, da er eine tiefe Abneigung gegen alles Militärische habe. Er sagte nichts von seiner Abneigung, meinte aber, nachdem er den Teller leer gelöffelt hatte, dass es genügend Offiziere gäbe, die vom Körperbau her schmächtiger seien als er. Vater Dorfbrunner legte den Löffel auf den leeren Teller, ließ seinen Blick gegen den Uhrzeigersinn um den Tisch gehen und erwiderte, dass schmächtige Offiziere es nicht weit bringen werden. Das hätte schon sein Großvater seinem Vater und der Vater ihm gesagt, dass bei der Offiziersauslese in die höheren Ränge der Körperbau und die Körperhaltung entschieden und nicht die Intelligenz, die oft nur durchschnittlich sei. Der ins gedankliche Visier genommene Claudius Markus ließ es sich sagen, ohne ein Wort dazu zu sagen, weil ihm wegen der geschwollenen Backe mit dem geröteten Ohr, das ihm brannte und das Gefühl des Abstehens gab, zum Sprechen nicht zumute war. Stattdessen schauten er und der nächst jüngere Bruder Matthias Johannes zum noch jüngeren Bruder August Emanuel, den sie wegen seiner Muskelkraft und des Schulendes mit dem Volksschulabschluss, der nur dur chschnittlich war, den Muskelprotz mit dem kleinen Kopf nannten, der sich die Blicke mit dem Einwärtsschielen des rechten Auges wortlos gefallen ließ, den Löffel auf den Teller legte und den Teller zurückschob, dass er mit einem dumpfen Porzellanklang an die Terrine stieß. Ihm war klar, dass er geistig den älteren Brüdern unterlegen war, nicht nur weil er jünger war, sondern weil seine Auffassungsgabe nicht die schnellste war, ja manchmal so langsam verlief, dass die Mutter ein besorgtes Gesicht machte, die Geschwister hinter den Rücken ihre Grimassen schnitten, dann mit dem Lachen herausplatzten, wenn sie sich nicht mehr halten konnten, und Vater Dorfbrunner mit rotem Kopf vor sich her brummte und einige Male die Worte „du Dummkopf nicht beiseite schieben, beziehungsweise runterschlucken konnte, weil ihm der Kloß des Zornes im Halse steckte. Blieben die Schluckversuche vergeblich, und brachten die Gurgelgeräusche nicht die erhoffte Erleichterung, dann drehte sich der Kloß im Halse und drückte das Blut ins Gesicht, das sich bis zur tiefen Röte verfärbte, dass der arme Junge das Schlimmste befürchten musste, nämlich den Ausbruch des Vesuvs, der da kochend vor sich hin brodelte. Denn das Brodeln mit dem plötzlichen Ausbruch, der oft unerwartet heftig ausfiel, war eine gefürchtete Eigenart im Wesen der Dorfbrunners, denen das kurze Temperament mit dem Heißsporn nachgesagt wurde, so weit man die Familienchronik zurückverfolgte.

    An das Mittagessen mit der Hühnerbouillon und dem vorangegangenen Vorfall mit der schallenden Ohrfeige, die sein ältester Bruder vom Vater aufgrund einer sicherlich nicht boshaft gemeinten Bemerkung bezog, die ihn mit dem Stuhl gegen die Wand rutschen ließ und dem Stuhl die Rückenlehne kostete, erinnerte sich August Emanuel viele Jahre später, als er ein Bauer mit eigenem Hof im Dorf Krumbach an der Oder und Familienvater von zwei Söhnen und zwei Töchtern war. Nach dem schlesischen Krieg, den der Preußenkönig Friedrich II gegen Maria Theresia v on Österreich für sich entschieden hatte, hatte August Emanuel mit 28 Jahren die Oberlausitz verlassen, arbeitete für einige Jahre auf einem schlesischen Gut und hatte es durch Fleiß mit 35 Jahren zum eigenen Hof gebracht. Es war der fruchtbare Boden Schlesiens, dass er bald so er tragreich wirtschaftete, um eine Familie zu unterhalten. Vater August Emanuel hatte eine protestantische Frau aus einer angesehenen Lehrersfamilie der Kreisstadt geheiratet und seine Kinder evangelisch taufen lassen. Bei der Namensgebung bekam jedes Kind nur einen Namen. So nannte er den ersten Sohn Georg, den zweiten Friedrich, die erste Tochter Klara und die zweite Magdalena. Der Schielfehler hatte sich vererbt und war am linken Augen der ersten Tochter hängengeblieben, der an der Breslauer Augenklinik jedoch erfolgreich operiert wurde, so dass auch sie einen Mann fand, von dem sie auch vier Kinder bekam, von denen ein Junge mit drei Jahren starb. Das bedrückte die Eltern sehr, weil die anderen Kinder Töchter waren und ein späterer Versuch mit einer Fehlgeburt im fünften Schwangerschaftsmonat endete. Wie der Schielfehler hielt sich auch die Mittagsgeschichte mit der schallenden Ohrfeige vom Oberlehrer Julius Martinus Dorfbrunner durch die Generationen, wenn es darum ging, Ungezogenheiten mit den Neckereien von wegen Muskelprotz mit dem kleinen Kopf, oder Goliath mit dem Nasenblick väterlicherseits wieder gerade zu ziehen. Es gehörte zum Erbgut der Dorfbrunners, dass vor allem die Söhne zu solchen Ungezogenheiten neigten und mindestens ein Sohn in jeder Familie war, der zur familiär ausgeprägten Dickschädeligkeit noch die Eigenschaften des aufbrausenden Jähzorns hatte, der dann besonders störte, wenn Besucher im Hause waren oder am Tisch saßen, und sich der Heißsporn nicht zusammennehmen konnte. So war in einigen Tagebüchern aufeinander folgender Generationen vermerkt, dass Besucher wie Gäste das Haus vorzeitig verließen und nicht wiederkamen, auch die Dorfbrunners nicht mehr einluden, weil es die Söhne waren, die dem gemütlichen Plaudern bei Tisch durch ihre Unbeherrschtheit einen Strich durchzogen. Was an den Familien allgemein geschätzt wurde, war der Dorfbrunnersche Fleiß und die Geschicklichkeit, den Hof zu führen und gute Erträge einzufahren. Hinzu kam ihre ebenfalls vererbte Begabung, mit der Wünschelrute Wasseradern aufzuspüren und üppige Brunnen zu errichten. Das machte ihre Namen bis in die Kreisstadt bekannt und war nicht nur eine zusätzliche Einnahmequelle, sondern letztlich die Grundlage für ihren Wohlstand, der bei einigen Dorfbrunners zu Reichtum führte, der durch Argwohn und Neid zu Auseinandersetzungen und Streitereien Anlass gab, obwohl der Reichtum aufgrund der strengen Erziehung mit der Bodenständigkeit nicht nach außen getragen wurde.

    Die Kinder der Dorfbrunners, von denen hin und wieder, die Mädchen häufiger als die Jungen, in den ersten Lebensjahren starben, wo die Todesursache oft unbekannt blieb, erreichten in der Schule ohne Schwierigkeiten das Mittelmaß. Es kam vor, dass die Dorfbrunners zu den Besseren, mitunter zu den Besten in der Klasse gehörten und die guten Noten nach Hause brachten, die den Eltern Grund gaben, stolz auf ihre Kinder zu sein. Von daher war es nicht verwunderlich, dass aus ihnen Lehrer und Akademiker hervorgingen, unter denen es Ärzte für Menschen und Tiere, Botaniker und Zoologen gab als auch Theologen des lutherisch reformierten Glaubens, nachdem August Emanuel in Schlesien vom katholischen zum evangelischen Glauben übergewechselt war. Von den Akademikern, v on denen die meisten in Breslau, einige in Prag und Leipzig studiert hatten, von denen wiederum einige an den Universitäten in Breslau und Jena lehrten, machten sich einige einen Namen, so der Botaniker Adolf Georg Dorfbrunner, der ein umfangreiches Pflanzenlexikon mit selbst angefertigten aquarellierten Zeichnungen über die schlesische Flora herausgab, oder Eduard Dorfbrunner, der als Bergbauingenieur mit zweifachem Doktorgrad, den zweiten bekam er aufgrund seiner theoretischen Leistungen ehrenhalber verliehen, ein neues Verfahren zur Kohleförderung im oberschlesischen Kattowitz entwickelte, durch das die Förderquote beachtlich gesteigert wurde. Unter den Theologen gab es durch ihre Wortgewalt ergreifende Prediger, die es bis auf die Kanzeln des Breslauer und Oppelner Domes schafften. Einer von ihnen war Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, ein schlanker hochgewachsener Mann in den besten Jahren, Superintendent in Breslau, der mit seiner Familie ein schlichtes, zweistöckiges Haus am Domplatz bewohnte. Er hatte nach Abschluss des Theologiestudiums in Breslau, wo er die Prüfungen glänzend absolvierte, in die oberschlesische Pastörenfamilie Hartmann eingeheiratet hatte, aus der er sich die bildschöne Tochter Luise Agnes zur Frau genommen hatte.

    Eckhard Hieronymus Dorfbrunner

    Im Fall von Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, der nicht nur durch sein Äußeres andere Menschen und Pastöre überragte, sondern sich durch kritische Intelligenz und Glaubenseifer seiner fein gegliederten, empfindsamen Persönlichkeit unter einer rauen Schale, die so reißfest nicht war, auszeichnete, muss doch etwas weiter ausgeholt werden. In seinen frühen Pastörenjahren in einer mittleren Bezirksstadt im Kohlerevier gab ihm Luise Agnes ihre Liebe, die ihm Mut machte, eine Familie zu gründen, obwohl bei der Betrachtung seines Anfängergehalts eher ein Abwarten angeraten war. Sie unterstützte ihn in selbstloser Weise durch Zuhören, treue Zugehörigkeit und emsigen Fleiß, ohne dass ihr etwas zuviel wurde oder ein Wort ungefragt dazwischenzureden, bei der Arbeit, was ihm eine große Hilfe im Durchstehen der Anfechtungen, nicht nur im Glauben, sondern auch in den existentiellen Alltagsproblemen war. Seine Begabung lag in der Exegese und hier besonders in der Auslegung des neuen Testaments. Bei der Einführung als Pastor durch seinen Vorgesetzten, den Superintendenten und Konsistorialrat Braunfelder in der spätgotisch errichteten Kirche mit dem spitz aufragenden Glockenturm, der ein Zwillingsturm war, dem der andere Zwillingsbruder allerdings fehlte, als handelte es sich um eine architektonische Fehlgeburt, dem der zweite Zwilling die Geburt des Turmbaus nicht erlebte, war Eckhard Hieronymus Dorfbrunner doch recht aufgeregt. Er hatte sich gründlich auf die Predigt über die Verse 1 bis 13 des 8. Kapitels des 1. Korintherbriefes vorbereitet, zu dem ihn der Konsistorialrat nach einem langen Gespräch in seinem geräumigen Dienstzimmer hinter dem großen Schreibtisch sitzend ermuntert, dann geraten und schließlich anbefohlen hatte, weil er der Meinung war, dass sich dieser Text für die pastorale Jungfernpredigt, das heißt, als pastoraler Einstand in die Gemeinde vorzüglich eigne. Er ließ mit einem ernsten Blick, dann mit einem leichten Schmunzeln, dem die Lippen sogleich nicht folgen wollten, sondern mehr gespannt blieben, als dass sie sich lösten, durchblicken, dass sich an diesem Text der Prediger messen solle, was vor ihm unzählige auch getan haben und bei der Textauslegung große Exegeten hervorgegangen waren, die ihre Spuren bis in die Gegenwart hinterlassen haben, die von der Sprache und ihrem Denkinhalt unvergessen blieben. Eckhard Hieronymus Dorfbrunner hatte dem Vorschlag des Konsistorialrates zugestimmt, sich seinem anbefohlenen Rat ergeben und die Herausforderung mit dem 1. Korintherbrief, Kapitel 8 angenommen. Wochen hatte er den Text gelesen, war seinen Hintergründen auf der Spur, versuchte zu fassen, was Paulus zu diesem Brief veranlasste, was er beim Schreiben auf dem Herzen hatte. Beim täglichen Lesen und dem Vergrößerungsversuch mit der Sichtbarmachung des eingewebten roten Fadens, dem Erkennungsversuch, was zwischen, hinter und über den Zeilen und Worten war, beim täglichen Ringen nach dem Geist, das ihn in den Nächten nicht verschonte, bekannte er seiner jungen, liebevoll zuhörenden Frau in einer Nacht, als sie von den Greifversuchen ihres Mannes nach der Wahrheit oder Weisheit, da unterschied sie nicht, selbst ergriffen wurde und nicht einschlafen konnte, dass er beim seinem Studium am Korintherbrief begriffen habe, wie wenig er bisher verstanden habe, und wie gedankenvoll, geistgeladen und sprachgewaltig Paulus war, dem er in seiner Wortgewalt wahrscheinlich in seinem ganzen Leben nicht das Wasser reichen könne. Worauf ihm seine liebevoll zuhörende Frau Luise Agnes im Bett aufsitzend sagte, dass er nicht so pessimistisch sein solle, weil ihm die negative Sichtweise den Geist verengen würde. Sie sagte, dass er erst am Anfang seiner Laufbahn stehe und, wenn er im Glauben fest sei und fest bleibe, weiter in den Geist der heiligen Schrift hineinwachsen werde, ohne schon am Anfang den Schaden der Blindheit zu erleiden. Dafür bete sie täglich, dass ihrem Mann beim Einstieg in die Welt des Glaubens nicht die Blindheit schlage oder ein anderes Unglück passiere. Das mit dem Beten für ihren Mann war ihr ein Herzensanliegen, wozu ihr die Eltern sehr eindringlich geraten haben.

    Eckhard Hieronymus Dorfbrunner stand aufrecht im Dämmerschein der Tischlampe aus dem kleinen Nebenraum, der sein Arbeitszimmer war, wo die Tür halb offen stand, vor ihrem Bett. Es war die Stille der Nacht, dass er ihren ruhigen Atem hörte, den herben Jasmingeruch, der ihrer Haut nach dem Nachtbad entströmte, wahrnahm und mit der Zunge, die über seinen Lippen hin und her fuhr, ohne dass es bemerkt werden sollte, zu schmecken versuchte. Er bewunderte seine Frau, die in ihrem Wesen so zart und schön wie eine Blume, so ohnegleichen war; er liebte sie, liebte sie sehr, fühlte sich zu ihr hingezogen, dass ihm die Wallung der körperlichen Versuchung ins Gesicht stieg, er die Hitze des Spontanen im Kopf fühlte, als würde es in ihm kochen. Die aufrecht sitzende Luise Agnes im weißen, vorne hoch geschlossenen Nachtkleid, deren brünettes Haar offen über beide Schultern fiel, konnte die Erregung mit der spontanen Hitzewallung direkt nicht sehen, bemerkte wohl an der Art seines vor dem Bett Stehens, dass ihr Mann der körperlichen Anfechtung ausgesetzt war, gegen die er mühsam ankämpfte. „Sprich mir die ersten Verse", bat sie ihren Mann, um ihm beim Kampf gegen die körperliche Lust beizustehen und ihn auf den geistigen Weg zum Korintherbrief zurückzubringen, ihn bei den Anfechtungen zu begleiten, die Türme des Begehrens abzubauen, sie zu überwinden, um dort wieder anzukommen, wo der Anfang war, wo er ist mit seinem Gut und Böse. Die Minute des Nichtsprechens, beziehungsweise der Sprachlosigkeit durch das verlorene, abhanden gekommene Wort dauerte etwas länger, während er unverändert aufrecht, fast wie ein Hüne vor ihrem Bett stand, ohne einen Schritt auf sie, die schöne, aufrecht im Bett sitzende junge Frau mit dem herabfließenden Haar zuzugehen. Einige tiefe Atemzüge gingen durch das von der Tischlampe des Nebenraumes dämmrig beleuchtete Schlafzimmer, von denen auf den ersten Zügen die Schwere des Ringens um die Befreiung von der Last der körperlichen Lust, die er als eine unfromme Belästigung empfand, hörbar lastete, so dass den Atemzügen, die noch unterhalb, wenn auch nicht mehr weit von der Schwelle des ringenden Stöhnens lagen, ein Schweben, ein Davonschweben in die richtige Richtung der geistigen Meditation nicht zuerkannt werden konnten. Eckhard Hieronymus rang um die Fassung; er erkämpfte sie mühsam, umgab sie sich wie einen Schutzzylinder, wie eine Tonne ohne Boden, in die er sich stellte, um mit dem Aufsagen der Verse zu beginnen. Luise Agnes saß aufrecht im Bett, hielt den Kopf aufgerichtet, die Augen geschlossen und wartete auf die Rezitation. Auch hielt sie ihre Hände wie zum Gebet gefaltet und bat den Herrn, dass er ihrem Mann die Kraft und Stärke eines Apostel Paulus geben möchte, um die Menschen zur Umkehr im Glauben und durch den Glauben zur Vernunft zu bringen, damit Ordnung in die Welt einkehrt, in der die Zivilisation moralisch am Boden liegt, verroht und willenlos ist, sich aus den Fängen des Teufels zu befreien, der genug Unheil angerichtet hat. Sie hielt die Hände fest gefaltet, öffnete nur etwas die Augen, ein Sehschlitz genügte, um beim Blick auf die ineinander geschlossenen Hände das Leidensgesicht des Herrn mit der eingedrückten Dornenkrone zu erkennen. So bat Luise Agnes dieses Händegesicht, hinter dem sie sich das Kreuz aufgerichtet dachte, um Vergebung der Sünden, ohne die der Mensch im Leben einfach nicht zurecht kommt, und um die Gnade des Herrn, dem das Blut seiner Liebe aus den Nagelwunden tropft, sie im Auge seiner unbegreiflichen Liebe zu halten und ihren Mann beim Ringen um den Glauben über den 1. Korintherbrief an die Hand zu nehmen, die Erleuchtung zu geben und nicht mehr aus der Hand seiner Führung zu lassen. Sie öffnete die Hände und damit das Leidensgesicht, hob und hielt sie vors Gesicht, in die sie in Stille ihre Tränen vergoss, während sie die Taten, die nicht richtig waren, vor dem guten Auge, das mit dem Herzen verbunden ist, von hinten nach vorn ablaufen ließ, dabei erschrak, sich schwach, feige, schwindelig fühlte, dass sie sich nicht den körperlichen Schmerz für die begangenen Sünden selbst zufügte. Für all das bat sie um Vergebung und sah sich winzig klein und hilflos vor dem Kreuz mit dem herabblickenden Leidensgesicht der verschenkten Liebe knien. Der senkrechte, aufstrebende Balken wuchs sich nach oben, weit über den Kopf hinaus. Sie schaute nach oben, durch die Zimmerdecke hindurch, glaubte sich von den sich vorneigenden Armen des Querbalkens berührt. Dann senkte sie die Hände, legte sie auf die Bettdecke über die spitz gebeugten Knie, sah über die Knie hinweg, ohne einen Erdpunkt zu fixieren. Ihre Augen waren feucht, doch sollte das Salz der Tränen antrocknen, denn, so hielt sie es in der Auflösung des Nachgebets, man soll die Trauer nicht sogleich von den Augen wischen; das Gebet soll seine Wirkung tun. Es war ein volles Gebet, dass die Minute des verlängerten Schweigens doch wie eine Sekunde verstrich, und durch Luise Agnes etwas Festes fuhr, das sie in den Körper zurück steckte, wobei sie ihren Oberkörper aufrichtete, der im Gebet rundrückig eingesunken war. Sie hatte die Kommunikationshaltung der gestreckten Wirbelsäule angenommen, die in der Welt von Rede und Antwort angebracht ist, wenn es etwas zu hören, beziehungsweise zu sagen gibt, was von großer Bedeutung ist. Das einfallende Licht vom kleinen Arbeitszimmer nebenan hatte sich zu einem schmalen Spalt verdünnt, so dass es fast dunkel ums Bett der Luise Agnes und um den neben dem Bett stehenden Eckhard Hieronymus Dorfbrunner geworden ist. Die Tür hatte sich zum Schloss hin bewegt, ein sandkörniges Knirschen, dessen Ursache ein Geheimnis blieb, war zweimal zu hören; es wurde von beiden als das Fanal zur Rückkehr in die körperliche Welt mit den Räumlichkeiten des Schlafzimmers, des Bettes und der anderen Dinge verstanden mit dem Grenzübertritt aus den zeitlosen Weiten in die dunkle Enge der Nachtzeit. So begann Eckhard Hieronymus die Verse zu sprechen, als er, wie auch die im Bett aufsitzende Luise Agnes zu Schattenbildern geworden waren, deren Konturen aus den anatomischen Proportionen gerieten, sich verkürzten oder streckten, je nach dem Winkel der Betrachtung, mit dem eine Person die andere sah und zu sehen suchte.

    Er sprach langsam, holte jedes Wort wie mit einem Meißel aus der Schale: „Was aber das Götzenopfer anlangt, so haben wir ja alle das Wissen. Nun setzte er den Meißel an die Silben: „Das Wissen bläst auf, aber die Liebe baut auf. Wenn sich jemand dünken lässt, er wisse etwas, der weiß noch nicht, wie man erkennen soll. Als hätte Eckhard Hieronymus nun die Form herausgemeißelt, begann er nun an den Kanten und scharfen Ecken zu feilen, wobei er wie der Künstler ständig sein Werk von allen Seiten betrachtete und aufpasste, dass die markanten Konturen der Ausbuchtungen zu den Höhen und Tiefen nicht verloren gehen, mehr noch, nicht nur erhalten, sondern weiter ausgearbeitet werden. So fuhr er in Betrachtung der bisher ausgewirkten Form mit Hammer und Meißel in den Händen, die Lungen mit festen Zügen durchatmend, fort: „Wenn aber jemand Gott liebt, der ist von ihm erkannt. Nach einer kurzen Kadenz von C-Dur nach e-Moll ging es weiter: „Von dem Essen des Götzenopfers aber wissen wir, dass kein Götze in der Welt ist (als läutete die schwere Glocke) und dass kein Gott ist als der eine. Dann in anderer Tonart (nach einem Quintensprung): „Und wiewohl solche sind, die Götter genannt werden, es sei im Himmel oder auf Erden, wie es ja viele und viele Herren gibt, so haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von welchem alle Dinge sind und wir zu ihm; und einen Herrn, Jesus Christus, durch welchen alle Dinge sind und wir durch ihn. Luise Agnes hielt die Hände gefaltet auf den angewinkelten Knien; sie schaute auf die schattigen Konturen der vor dem Bett stehenden Ehemannes deshalb, weil eine Redepause eintrat, als müsste sich Eckhard Hieronymus neu sammeln, hätte sich seine Kraft verbraucht. Sein Atem ging gleichmäßig und gesetzt, so dass an seiner aufrechten Haltung nicht zu zweifeln war. Luise Agnes sah auf ihre Hände, in der Faltung der Hände das Leidensgesicht des Herrn mit der aufgedrückten Dornenkrone; sie lispelte ein kurzes Amen, das ihr M ann hörte, der im Begriff war, mit dem Aufsagen der Verse fortzufahren. „Es hat aber nicht jedermann das Wissen. „Ja, das stimmt, bedachte Luise Agnes. Denn etliche, weil sie bisher an die Götzen gewohnt waren, essen es als Götzenopfer; damit wird das Gewissen, weil es schwach ist, befleckt. Wieder trat eine Pause ein. Eckhard Hier onymus wischte sich mit dem Taschentuch über den Mund, dann setzte er die Rezitation in einer anderen Molltonart fort: „Aber Speise wird uns nicht Gott wohlgefällig machen. Essen wir nicht, so werden wir darum nichts weniger sein; essen wir, so werden wir darum nicht besser sein. Nun ging er zum Türspalt, damit das schwache Licht der Tischlampe im Nebenraum auf die aufgeschlagene Textseite fiel, um die noch verbliebenen Verse vorzulesen, obwohl er sie auswendig aufsagen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1