Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Rundholz: Deutsche Familiensaga um Liebe, Macht, Einfluss, Politik und Intrigen
Die Rundholz: Deutsche Familiensaga um Liebe, Macht, Einfluss, Politik und Intrigen
Die Rundholz: Deutsche Familiensaga um Liebe, Macht, Einfluss, Politik und Intrigen
eBook1.636 Seiten23 Stunden

Die Rundholz: Deutsche Familiensaga um Liebe, Macht, Einfluss, Politik und Intrigen

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Ein Familien-Epos basierend auf einer wahren Geschichte: Das Leben der Rundholz, einer Arbeiterfamilie des Ruhrgebietes, seit Beginn der Machtergreifung durch die NSDAP im Jahre 1933 bis heute wird beeinflusst von Liebe, Macht, Intrigen, Strebsamkeit, Idealismus, Religion und Politik.
-
- In den schwersten und existenzgefährdenden Lebenslage, getragen von der Erkenntnis, dass beruflicher Aufstieg und Erfolg nur über Bildung und persönlichen Einsatz zu erreichen ist, geht jedes der Familienmitglieder seinen ganz eigenen Weg ...
-
-
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum5. Dez. 2014
ISBN9783869922263
Die Rundholz: Deutsche Familiensaga um Liebe, Macht, Einfluss, Politik und Intrigen

Ähnlich wie Die Rundholz

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die Rundholz

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Rundholz - Heinz-Jörg Eckhold

    Lebens

    Vorwort

    Schon lange hatte ich darüber nachgedacht, wie man die Geschichte einer ganz normalen Familie erzählen kann, deren Normalität bei näherem Hinsehen doch Tatbestände offen legte, die mir unerklärlich waren und mich erstaunen ließen.

    So konnte man feststellen, dass es in dieser Familie einerseits liebevolle, fleißige, tapfere, hochbegabte und geschäftstüchtige Familienmitglieder gab, die es zu Ansehen in der Gesellschaft gebracht hatten. Andererseits fiel auf, dass es in jeder Generation aber auch Spieler, Bankrotteure und Selbstmörder gab, die durch ihre Taten den Familienverband erschütterten. Während die Männer als fleißige Arbeiter, treue Beamte oder tapfere Soldaten mehr den westfälisch/preußischen Typus darstellten, glänzten die gut aussehenden Frauen durch ihre wache Intelligenz, große Gefühlsstärke und gestaltenden Familiensinn.

    Die Männer waren überwiegend von mittlerer bis großer Statur, die Haarfarbe blond bis mittelblond überwog und ihre offenen, ausgeprägten Gesichter spiegelten ihr freudiges oder trauriges Seelenleben gut erkennbar wider. Wer sie zum ersten Mal sah, der sagte nach ihrem Aussehen und der Art zu sprechen: „Das sind typische Westfalen. Das war damals keine Seltenheit im Ruhrgebiet, denn die Zeit der Industrialisierung hatte zwar viele Menschen aus dem Osten in das Ruhrgebiet gezogen, doch neben den westfälischen „Ureinwohnern waren auch viele Bauernsöhne von den Höfen des Münster- oder Oldenburgerlandes gekommen, denn für alle Familienmitglieder reichte der Ertrag des eigenen Hofes nicht mehr aus.

    Da der älteste Sohn in der Regel zum Erbe des Hofes bestimmt wurde, mussten für die übrigen Geschwister andere Möglichkeiten des Erwerbslebens gesucht werden. Während die Mädchen oft durch Heirat in die Verantwortung eines anderen Mannes gegeben wurden, versuchten viele der Jungen vom Land in den neuen Industriebetrieben des Ruhrgebietes Arbeit und Lohn zu erreichen.

    Auch die heutige Familie Rundholz hatte ihre Wurzeln im Münsterland, bevor Paul und Sophia in Oberhausen eine Familie gründeten.

    ZURÜCK ZU DEN WURZELN

    Familienbande

    In Osterfeld, einem Stadtteil der heutigen Stadt Oberhausen, die am nordwestlichen Rand des Ruhrgebietes liegt, wurde am 16. August 1904 Paul Rundholz als fünftes Kind der Familie Theodor und Maria Rundholz geboren. Seine Eltern kamen aus dem Münsterland. Während der Vater in Herbern zur Welt kam, wurde seine Mutter, eine geborene Mersmann, in Stockum, genauer in der Bauernschaft Wessel, nahe bei Herbern, geboren.

    Als Maria und Theodor vor den Traualtar traten, um zu heiraten, da brachte sie von ihrem kleinen elterlichen Bauernhof eine für damalige Verhältnisse gute Mitgift in die Ehe ein. Die schwarze Eichentruhe, die sie vom Hof mitnehmen durfte, war gefüllt mit guter Bettwäsche, Tischdecken, Handtüchern und anderen Gebrauchsgegenständen für den Hausgebrauch. Auch einige Taler unterstützten ihre ersten gemeinsamen Lebenswochen. Ihr Mann Theodor hingegen hatte nach seiner ersten Tätigkeit als Knecht auf einem Bauernhof bei der königlichen Reichsbahn eine Stelle erhalten, in der er nach einiger Zeit in den Beamtenstand aufgenommen wurde und als Rangierer seinen Dienst wahrnahm.

    Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der königliche Rangierführer zum Verschiebebahnhof Osterfeld versetzt. Mit seiner Frau und drei Kindern suchte er sich in Osterfeld auf der Michelstraße eine Wohnung. Bis zum Jahre 1918 gebar Maria Rundholz dreizehn lebende Kinder, von denen allerdings – auch bedingt durch die schwere Zeit nach dem I. Weltkrieg – sieben Kinder noch vor Erreichung des zwanzigsten Lebensjahres verstarben.

    Im dreizehnten Lebensjahr wurde Sohn Paul, ihr fünftes Kind, für zwei Jahre als Kriegskind auf einen Bauernhof nach Vorhelm in Westfalen gegeben, denn zuhause war die Ernährung nicht mehr gewährleistet. 1916/1917 herrschte in Deutschland bittere Not und in den sogenannten Kohlrübenwintern starben viele Menschen an Unterernährung. Auf dem Bauernhof der Familie Nagel war Paul willkommen und er wurde behandelt wie ein Kind der Familie. Insbesondere Bäuerin Mutter Nagel nahm sich seiner an und sorgte dafür, dass er immer satt zu essen bekam.

    In dieser Zeit lernte Paul auch den großen Bauernhof der Familie Wibbelt kennen, deren Sohn Augustin, katholischer Pfarrer und plattdeutscher Dichter des Münsterlandes, später im Leben des Paul Rundholz noch eine besondere Rolle spielen sollte.

    Weil in dieser Kriegs- und Krisenzeit leider auch kein geregelter Schulbesuch möglich war, konnte Paul nach dem Krieg, als er wieder zuhause war, gerade sechs Schuljahre nachweisen. Als im Jahre 1919 seine beiden älteren Brüder mit 18 und 19 Jahren an der teuflischen Tuberkulose starben, musste er sich mit noch nicht 15 Jahren eine Tätigkeit suchen, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Vier Monate arbeitete er in einer Sandkuhle nahe der elterlichen Wohnung. Das Füllen der Loren mit Sand war eine schwere körperliche Arbeit, die insbesondere an regnerischen Tagen seine Körperkraft überforderte. Dann hörte er von einer Hilfsarbeiterstelle auf der Gutehoffnungshütte (GHH) in Sterkrade. Gesucht wurde ein junger Mann, der zum Kranführer ausgebildet werden sollte. Nachdem er sich im Personalbüro des großen Eisenwerkes gemeldet und vorgestellt hatte, erhielt er zu seiner Freude die Stelle. Von da an stand er jeden Morgen vor 5:00 Uhr auf, machte sich zu Fuß auf den Weg nach Sterkrade, um pünktlich um 6:00 Uhr auf der GHH seine Arbeit aufzunehmen. Schon bald war er bei den Kollegen in der Halle 3 des Brückenbaus ein beliebter und geschätzter Mitarbeiter, der verlässlich und immer pünktlich seinen Dienst versah.

    Aber auch in seiner Freizeit machte er sich viele Freunde. Bei Wacker 04 Osterfeld war er als rechter Läufer kaum zu ersetzen, und als Leichtathlet lief er über 800 m auch ohne Training gute Zeiten. Besondere Freude bereitete ihm der Männergesang. Als sich aus dem Gesellenverein Adolf Kolpings, dem er mit achtzehn Jahren beigetreten war, ein Männerquartett bildete, übernahm er die Bassstimme, brachte sich selbst das Spielen der Laute bei und war fortan auch ein guter Solist.

    Da er im Kranführerhäuschen des Öfteren auch zum Lesen Zeit hatte, nahm er sich Bücher und Gedichtbände mit, deren Sprache und Ausdruckskraft ihn innerlich beglückten. Eines Tages versuchte er seine Gedanken und Gefühle ebenfalls in Verse zu fassen. Ganz erstaunt stellte er fest, dass ihm das gut gelang und dass es viel Freude bereitete. So überraschte er in der Folgezeit an besonderen Geburtstagen oder Feierlichkeiten im häuslichen Rahmen oder des Gesellenvereins die Teilnehmer mit gereimten Versen, was ihm viel Beachtung einbrachte. „Das ist unser Heimat- und Arbeiterdichter", sagten die Arbeitskollegen untereinander und belächelten ein wenig den aufgeschlossenen jungen Mann.

    Als er Sophia Epke kennenlernte, da war er bereits 28 Jahre alt. Sofort war er Feuer und Flamme für diese schlanke, groß gewachsene, blonde junge Frau. Doch es sollte noch einige Zeit vergehen, bis sie sich näher kommen konnten.

    Sophia Epke wohnte ganz in seiner Nähe auf der Waisenhausstraße in Osterfeld, das zur damaligen Zeit – wie auch Sterkrade, der Nachbarort – eine selbständige Gemeinde war. Ihre Eltern waren Franz und Helene Epke. Der Vater kam in Ahlen in Westfalen zur Welt, während ihre Mutter in Duisburg geboren wurde. Am 23.Mai 1905 heirateten sie in Oberhausen und wurden in Osterfeld sesshaft. Aus dieser Ehe gingen vier Kinder hervor: Franz, Sophia, Heinz und Emil. Den Lebensunterhalt für die Familie verdiente Vater Franz bei der königlichen Eisenbahn in Osterfeld als Zugführer. So verwundert es nicht, dass sich Rangierer Theodor Rundholz und Zugführer Franz Epke als Arbeitskollegen kannten.

    Sophia Epke, 1909 geboren, wuchs mit ihren Brüdern in einem sehr gepflegten, aber einfachen Haushalt auf. Sie besuchte die nahe gelegene Volksschule und war eine gute Schülerin. Als sie gerade zehn Jahre alt war, verstarb sehr plötzlich ihre Mutter. Die Trauer in der Familie war groß, und die Kinder vermissten ihre geliebte Mutter sehr. Vater Epke hatte seine Frau geliebt und trauerte eine längere Zeit, doch dann entschloss er sich erneut zu heiraten. Ihm war immer bewusster geworden, dass er, der er selbst ein ruhiger und zurückhaltender Mann war, vor allem für die Kinder eine neue Bezugsperson finden wollte, die ihnen helfen konnte, erwachsen zu werden. Schon bald fand er in Mathilde Österholz eine neue Ehefrau und für seine Kinder den gewünschten „Mutterersatz."

    Die Kinder kamen mit ihr zurecht, doch die leibliche Mutter konnte sie nur unvollkommen ersetzen. Sie führte den Haushalt, war sehr korrekt und hatte den leichten Überheblichkeitsfimmel, wie ihn viele Beamtenfrauen wegen des Beamtenstatus ihrer Männer hatten. Eine zweite, beinahe religiöse Macke kam hinzu, denn sie wollte unbedingt, dass einer der Stiefsöhne das Priesteramt anstreben sollte. Beim ältesten Sohn Franz, Sophias Lieblingsbruder, kam sie mit ihrem Ansinnen zu spät, denn der hatte bereits eine Lehre als Schmied begonnen und ging danach zur Polizei. Anders verhielt es sich bei ihren Brüdern Heinz und Emil. Als diese die Schulbank verlassen hatten, wurden sie von Stiefmutter Mathilde so lange geistig bedrängt, bis sie einwilligten und als Brüder ins Kloster gingen.

    Über ihre Zufriedenheit in dieser Zeit ist wenig bekannt; allerdings verließen beide das Kloster, als die Nationalsozialisten auch die wehrfähigen Männer aus den Klöstern zu den Waffen befahlen. Sophia wurde von Stiefmutter Mathilde zwar nicht ins Kloster gedrängt, doch auch sie sollte eine besondere Ausbildung erhalten. Weil schon früh zu erkennen war, dass Sophia alle Hausarbeiten mit großem Geschick erledigte, wurde sie zur Ausbildung als Hausangestellte und Küchenhilfe nach Dortmund in das ‘Josefinen-Stift’ geschickt. Hier wurden junge Frauen insbesondere darauf vorbereitet, Pfarrern und Vikaren den Haushalt zu führen. Es ist anzunehmen, dass Mutter Mathilde diese Ausbildung auch als Prüfung der Gemütslage bei Sophia ansah, ob sie nicht doch Nonne werden wollte?

    Diese Hintergründe und Erwartungen in der Familie Epke kannte Paul selbstverständlich nicht, als er Sophia nach einem Hochamt in der St. Pankratius-Kirche zufällig traf und sofort von ihr irgendwie verzaubert war. Da auch seine jüngeren Schwestern mit ihm in der Kirche waren, fragte er sie, wer denn diese tolle Frau sei? „Das ist Sophia Epke. Die ist schon seit einiger Zeit in Dortmund und soll jetzt einem Pastor den Haushalt führen", bekam er von seiner Schwester Maria zu hören.

    Danach schaffte er es in die Nähe Sophias zu kommen und stellte sich ihr als der Bruder von Maria, Josefine und Elly vor. Als das Gespräch auf den Gesellenverein Adolf Kolpings und dessen abendliche Veranstaltung am nächsten Samstag kam, sah Paul eine Chance, Sophia zu dieser Veranstaltung einzuladen. Er schaute sie freundlich an und sagte: „Ich war so überrascht, Sie hier zu treffen und wusste gar nicht, dass Sie meinen Schwestern bekannt sind. Ich bin auch Mitglied des Gesellenvereins und würde Sie gerne zur Abendveranstaltung in der nächsten Woche am Samstag einladen. Ich möchte Sie gerne wieder sehen. Damit hatte Sophia wohl nicht gerechnet, obwohl auch sie Paul vom ersten Moment an als sehr ansprechend empfand. Doch ohne Scheu und Pauls freundliche Einladung annehmend antwortete sie: „Wenn es eben möglich ist, dann werde ich zum Gesellenverein kommen. Da ich in Dortmund arbeite, ist es notwendig, meine Zusage vor Ort abzuklären. Auch ich würde Sie gerne wieder sehen. Danach gaben sie sich die Hand und machten sich auf den Heimweg.

    Pauls Schwestern hatten die Verabredung ziemlich sprachlos mitbekommen. Erst auf dem Weg nach Hause meinten sie: „Du hast aber ganz schön Tempo gemacht. Du kanntest doch die Sophia gar nicht und hast sie sofort für nächsten Sonnabend eingeladen. Hat dich wohl Knall auf Fall verliebt, nicht wahr? „Darauf werde ich euch nicht antworten, ich hoffe nur, dass sie kommen wird, gab er zur Antwort. An der Art und Weise, wie er das sagte, erkannten sie, dass ihr Bruder für Sophia Ecke Feuer gefangen hatte.

    Am besagten Samstag feierte der Gesellenverein sein Gründungsfest. Alle Mitglieder und auch deren Angehörige waren zu dieser Feier eingeladen. Der Ablauf der Feier war in zwei Programmpunkte gegliedert. Der erste Teil sollte der Gründung des Gesellenvereins und der zeitgemäßen Umsetzung des Ideengutes Adolf Kolpings gewidmet sein, danach sollte die Ehrung der Jubilare erfolgen. Mit Gesang, Musik und Tanz würde sich dann der zweite Teil der Veranstaltung anschließen.

    Da Paul seit einigen Monaten in der Führung des Gesellenvereins als Senior für die Gruppe der unverheirateten Kolpingsöhne tätig war, musste er an diesem Abend die Leitung durch das Programm übernehmen. Hocherfreut konnte er vor Beginn der Feier Sophia Ecke begrüßen, die seiner Einladung gefolgt war. Sie kam in Begleitung von Maria und Elly, Pauls Schwestern, die diese Verabredung jedoch vor Paul geheim gehalten hatten. Sophia trug ein dunkelblaues Kleid, das durch einen weißen Kragen, durch eine weiß abgesetzte, aufgenähte Tasche und durch weiße Borde an den dreiviertellangen Armen ihre tadellose Figur unterstrich. Der faltige Rock bedeckte die Knie, so wie es damals Mode war, aber dennoch konnte man ihre wohlgeformten Beine sehen und erahnen. Paul begleitete Sophia und seine Schwestern an einen gemeinsamen Tisch, an dem für ihn – neben Sophia – ein Platz freigehalten wurde.

    Danach leitete er die Veranstaltung souverän. Er beeindruckte alle Teilnehmer durch seine Kenntnis der Ideen Adolf Kolpings, ehrte die Jubilare mit einem Prolog, den er selbst gedichtet hatte und gab danach dem frohen Treiben bei Musik und Tanz Raum.

    Er selbst war froh, dass er endlich neben Sophia Platz nehmen konnte. Diese wiederum war begeistert, mit welcher Selbstverständlichkeit Paul die Veranstaltung geleitet hatte. Dass er Senior des Gesellenvereins war, das hatten ihr zuvor Pauls Schwestern verraten. Im Verlauf des Abends tanzten Sophia und Paul einige Male. Dabei musste Sophia feststellen, doch dieses hatte er ihr auch bei der ersten Aufforderung zum Tanz sofort gesagt, dass er kein guter Tänzer war. Die Tanzschritte konnte er, auch der Takt stimmte, doch es fehlte die besondere Flüssigkeit, das geschmeidige Gleiten über den Tanzboden. Sophia war darüber überhaupt nicht verwundert, denn auch sie hatte bisher kaum Gelegenheit zum Tanzen. Gleichzeitig hatte sie auch festgestellt, dass ihr Tanzpartner nur wenige Zentimeter größer war als sie selbst.

    Viel besser gefiel es ihnen, dass sie von Anfang an spürten, wie sehr sie sich zueinander hingezogen fühlten. Sie erzählten über ihre Familien, lachten über die Erlebnisse mit ihren Geschwistern, sprachen über ihren bisherigen Werdegang und über zukünftige Erwartungen.

    Als die Feier zu Ende ging, da hatten sie das Gefühl, sich tief in die Seele geschaut zu haben. Bei einem Glas Wein vereinbarten sie das Du, was sie mit einem flüchtigen Kuss in aller Öffentlichkeit besiegelten. Später brachte Paul zusammen mit Sophia zuerst seine Schwestern nach Hause, um sie dann selbst zu ihrer Wohnung zu begleiten. Als sie sich verabschiedeten, nahmen sie sich in die Arme und küssten sich inniglich. Beide hatten das Gefühl auf einer Wolke zu schweben, in grenzenloser Vertrautheit. Sie vereinbarten, sich bald wieder zu sehen. Sophia wusste allerdings noch nicht, wann dieses möglich sein würde, denn zurzeit machte sie ein Berufspraktikum im Pfarrhaus des Pfarrers Herold in Dortmund. Paul versprach, dass er ihr schon bald einen Brief schreiben werde, aber dennoch hoffe, sie bald wieder zu treffen.

    In den nächsten Tagen musste Paul oft an Sophia denken und er hoffte, dass es ihr genauso erging. Den ersten Brief schrieb er ihr sofort am Montagnachmittag, nachdem er von der Arbeit nach Hause gekommen war. Diese Frau hatte ihn in ihrer einfachen und schlichten Art verzaubert. Geflirtet hatte er immer sehr gerne, und es gab einige junge Frauen, die über eine engere Bindung an ihn erfreut gewesen wären. Doch bis zur Begegnung mit Sophia war es immer beim unverbindlichen Flirt geblieben. Als er seinen Brief an Sophia schrieb, da war ihm bewusst, dass er ihr seine Zuneigung gestehen wollte. Jetzt, 28 Jahre alt, hatte er die viel genannten Schmetterlinge im Bauch. Das Feuer der Liebe hatte ihn erfasst.

    Aber auch Sophia ging es kaum anders. Während ihrer Hausarbeit im Pfarrhaus hatte sie so manche Gelegenheit sich in Gedanken nach Oberhausen zu versetzen und über die Begegnung mit Paul nachzudenken. Als Pfarrer Herold sie einmal ganz in Gedanken versunken stehen sah, fragte der alte Herr ohne jeden Hintergedanken: „Sophia, du hast wohl ein schönes Wochenende verbracht? Du strahlst so und siehst glücklich aus. Sophia, zu diesem Zeitpunkt 23 Jahre alt, fühlte sich irgendwie ertappt, bekam einen roten Kopf und antwortete: „Es stimmt, ich hatte ein schönes Wochenende. Ich war auf dem Gründungsfest unseres Gesellenvereins, das im Pfarrsaal durchgeführt wurde. „Na, das ist ja prima. Waren bestimmt auch fesche Gesellen dabei", meinte Pfarrer Herold und verließ das Zimmer ohne eine Antwort abzuwarten.

    Sophia richtete es in den kommenden Tagen so ein, dass sie morgens dem Postboten die Tür öffnete und die Post entgegennahm. Am Mittwoch endlich war Pauls Brief dabei, den sie sofort in ihrer weißen Schürze verschwinden ließ, um ihn bei nächster Gelegenheit zu lesen. Es waren ganz liebe Zeilen, die er an sie gerichtet hatte, und sie hatte fast das Gefühl, dass er vor ihr stehe und sie in die Arme nehme. Zum Schluss schrieb er: „Wir kennen uns noch gar nicht sehr lange, doch ich habe das Gefühl, als hätten wir auf uns gewartet, um uns nicht mehr zu verlieren. Ich habe ständig Dein Bild vor Augen und möchte Dich sehr bald wieder sehen. Wenn Du nicht kommen kannst, dann komme ich gerne auch nach Dortmund, um Dich zu sehen und Dir nahe zu sein. Dein Dich liebender Paul."

    Als Sophias Antwortbrief auf der Michelstraße eintraf, war Paul noch auf der Arbeit. Seine Mutter nahm den Brief entgegen und stellte ihn auf die Ablage am Küchenschrank. Da seine Schwestern vor ihm zuhause waren, staunten sie nicht wenig darüber, dass Sophia Paul geschrieben hatte. „Da tut sich etwas, gackerte Schwester Josefine hell lachend. „Ich glaube der Paul hat sich verliebt. „Das scheint eine ernste Sache zu sein, meinte Elly. „Der Paul ist ganz anders als sonst. Ich glaube, den hat es diesmal erwischt. Mutter Maria hatte diese Bemerkungen mitbekommen und sagte darauf in aller Ruhe: „Der Paul ist alt genug und weiß, was er will. Ihr habt selbst gesagt, dass die Sophia Epke eine hübsche und angenehme Person ist. Haltet euch darum gegenüber Paul ein wenig zurück mit euren lästernden Reden."

    Von der Arbeit zurück sah Paul sofort den Brief auf der Ablage stehen, nahm ihn an sich, ging ins Wohnzimmer, öffnete ihn und las mit innerem Frohlocken, dass Sophia seine Gedanken und Gefühle teilte. Leider könne sie am Sonnabend nicht nach Sterkrade kommen, da die eigentliche Haushälterin des Herrn Pastor für einige Tage verreisen musste, sodass sie für diese Zeit den Haushalt zu führen habe. Sie würde sich aber sehr freuen, wenn er am Samstagnachmittag nach Dortmund kommen könne. Sie beendete den Brief, indem sie schrieb: „Ich warte auf Dich. Deine Dich liebende Sophia. P.S. Weil für eine briefliche Antwort von Dir die Zeit nicht mehr ausreicht, bitte ich Dich, mich hier im Pfarrhaus anzurufen." Die Telefonnummer des Pfarrhauses hatte sie aufgeschrieben, sodass Paul sie schon zwei Stunden später anrufen konnte. Zuhause erklärte er nur, dass er am Samstag Sophia Epke in Dortmund besuchen werde.

    Wie diese Liebesgeschichte danach in Einzelheiten weiter gegangen ist, das entzieht sich der Kenntnis des Schreibers dieser Zeilen. Richtig ist, dass sich Sophia und Paul, so oft es möglich war, in der Folgezeit getroffen haben. Sie waren ein verliebtes Paar und verlobten sich zu Weihnachten 1932. Von diesem Tag an sparten und rüsteten beide auch für eine baldige Hochzeit.

    Als sie im April 1933 mit großem Glück die Zusage für eine kleine Mansardenwohnung in Sterkrade auf der Neumühler Straße erhielten, beschlossen sie im August des Jahres 1933 zu heiraten. Die Freude über die baldige gemeinsame Zukunft muss so groß gewesen sein, dass sich Sophia und Paul zum Ende des Frühjahres einander ganz nahe kamen und ihr erstes Kind zeugten.

    Da Paul in der Zwischenzeit zum Pfarrer und Dichter Augustin Wibbelt in Mehr bei Kleve Kontakt aufgenommen hatte, den er seit seiner Zeit als Kriegskind in Vorhelm immer im „Blick" behalten hatte, um ihn zu bitten, seine ersten Gedichte und Erzählungen wohlwollend und kritisch bezüglich einer Veröffentlichung im Kirchenblatt der Diözese Münster zu prüfen, kam gleichzeitig die Idee auf, sich auch von ihm kirchlich trauen zu lassen. Pfarrer Wibbelt unterstützte das literarische Wirken von Paul auf seine Weise, indem er, als der dafür Verantwortliche, nacheinander einige Gedichte und Erzählungen im Kirchenblatt des Bistums Münster veröffentlichte. Auch freute er sich darüber, dass Sophia und Paul mit seinem priesterlichen Segen kirchlich heiraten wollten.

    Für Sophia und Paul war es eine spannende und glückliche Zeit. Vom Standesbeamten in der neuen Großstadt Oberhausen, die nach einer Gebietsreform inzwischen aus den drei Stadtteilen Sterkrade, Osterfeld und Oberhausen gebildet worden war, wurde der Termin für die standesamtliche Hochzeit auf den 20. August 1933 festgelegt. Die feierliche kirchliche Trauung wurde für den 22. August 1933 vereinbart. Wie festgelegt, fand die standesamtliche Hochzeit am 20. Juli im Rathaus zu Oberhausen-Osterfeld statt. Der teilnehmende Kreis an Personen war bewusst klein gehalten worden, da sie allein die kirchliche Hochzeit in einem etwas erweiterten Rahmen feiern wollten. Die finanziellen Mittel waren in beiden Familien begrenzt, und Paul und Sophia gedachten ihre Ersparnisse für die Einrichtung der Wohnung aufzuwenden.

    So waren zur Zeremonie im Standesamt beide Elternpaare und als Trauzeugen, Sophias Bruder Franz und Pauls Schwester Maria erschienen. Sophia trug ein blaues Kostüm, das sie gut kleidete und ihre schlanke Figur betonte. Paul war in einem schwarzen Anzug erschienen, den die Männer damals immer zu besonderen Anlässen trugen. Der Standesbeamte erledigte seine Aufgabe mit viel Routine und ermahnenden Worten, diesen Ehebund als tragfähige Grundlage für das weitere gemeinsame Leben zu begreifen. Maria und Franz bestätigten mit ihren Unterschriften das Heiratsdokument, und die Eltern beglückwünschten sich und ihre Kinder in der Hoffnung auf viele gemeinsame Jahre.

    Zur kirchlichen Trauung in der Pfarrkirche zu Mehr bei Kleve waren neben den Eltern und den bekannten Trauzeugen auch Pauls Schwestern Josefine, Elly und Angela angereist. Seine älteste Schwester Grete, seit einigen Jahren mit dem Lokführer Heinrich Stein verheiratet und inzwischen Mutter von zwei Söhnen, hatte kurzfristig mitgeteilt, dass sie wegen einer Krankheit ihres Sohnes Theo nicht aus Hamm i. Westfalen kommen könne, was sie sehr bedaure. Sophias weitere Brüder Heinz und Emil waren damals im Noviziat des Ordens und hatten keine Erlaubnis zur Teilnahme erhalten. Dazu kamen noch drei Mitglieder des Männer-Quartetts, in dem Paul sang, sowie einige gute Freunde aus dem Gesellenverein und aus dem Kirchenchor, dem er ebenfalls angehörte.

    Sophia hatte sich erneut für ein nicht ganz weißes, cremefarbenes Kostüm entschieden, dazu trug sie Handschuhe, einen zum Kostüm passenden mit Spitze abgesetzten Hut und cremefarbene Schuhe mit höheren Absätzen. In den Händen hielt sie einen kleinen Brautstrauß aus gelben Rosen. Paul trug wiederum seinen schwarzen Anzug, den am Revers ein kleines Blumensträußchen schmückte, dazu am Hals eine weiße Fliege. Seine volle Haarpracht hatte er zur Feier des Tages vom Friseur ordentlich beschneiden lassen. Alle weiteren Teilnehmer hatten sich dem Anlass entsprechend festlich aber einfach gekleidet. Pauls Schwestern waren in ihren luftigen Sommerkleidern herausgehobene Farbtupfer, denn beide Elternpaare trugen ohne Ausnahme die damals übliche dunkle Kleidung. Sophias Bruder Franz hatte einen hellgrauen Sommeranzug angezogen, der die sommerlichen Temperaturen erträglich machte und gut zu seiner sportlichen Figur passte. So erwarteten alle gemeinsam, vor der Kirche stehend, Pfarrer Wibbelt, der im Münsterland, am Niederrhein und vor allem im Bistum Münster wegen seiner plattdeutschen Gedichte und Erzählungen sehr bekannt war.

    Als Pfarrer Augustin Wibbelt dann aus dem seitlich von der Kirche gelegenen Pfarrhaus gekommen war und nach einer freundlichen Begrüßung mit der Hochzeitgesellschaft seine Pfarrkirche betrat, ertönte die Orgel mit vielen Akkorden. Paul erkannte sofort am Orgelspiel, dass auch Organist und Chorleiter Krähenheide aus Osterfeld angereist sein musste, denn diese Passage aus einem Orgelkonzert Nr. 14 von Georg Friedrich Händel, spielte er meisterlich. Mit seinem Erscheinen hatte Paul nicht gerechnet, sodass diese Überraschung voll gelungen war.

    Pfarrer Wibbelt, ein untersetzter und stets freundlich blickender älterer Herr, vollzog die kirchliche Trauung und fand dabei für Sophia und Paul sehr aufmunternde und auch persönliche Worte. Er wünschte Paul für seine weitere literarische Tätigkeit viel Erfolg und meinte, seinen Blick auf Sophia gerichtet: „Ich bin davon überzeugt, dass Sie mit dieser Frau an Ihrer Seite noch manche gute Eingebung haben werden und auch die Höhen und Tiefen des Lebens gemeinsam meistern werden. Gottes Segen auf allen Wegen möge Sie beide begleiten."

    Vor dem Auszug aus der Kirche sang das Männerquartett, verstärkt durch den Gesang und das Orgelspiel des Organisten Krähenheide, das Lied: „So nimm denn meine Hände und führe mich." Pauls Schwestern, aber auch die anderen Teilnehmer dieser Trauung, waren gerührt und wischten verstohlen einige Tränen aus ihren Augen.

    In einer nahe gelegenen Bauerngaststätte, die einen kleinen, separaten Saal hatte, aß die genau zwanzig Personen umfassende Hochzeitsgesellschaft zu Mittag. Auch Pfarrer Wibbelt war der Einladung gefolgt und nahm an dem Essen teil. Wie bei Hochzeitsgesellschaften üblich, drehten sich die Gespräche zuerst um die Zukunft des Brautpaares, danach um Erlebtes aus dem Alltag. In einer Gesprächspause verstand es Paul, Pfarrer Wibbelt zu Aussagen über sein gegenwärtiges literarisches Schaffen zu veranlassen: „Ich erlebe mit einiger Besorgnis, wie sich seit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zu Beginn des Jahres Veränderungen in unserem Volk vollziehen. Noch weiß ich nicht, und wir alle kennen nur die offiziellen Reden und Verlautbarungen, wohin sich das Ganze entwickeln wird. Ich habe nur das vage Gefühl, wenn ich an das Buch Adolf Hitlers „Mein Kampf denke, das Sie ja auch zur standesamtlichen Hochzeit erhalten haben, dass einige unserer christlichen und abendländischen Wertvorstellungen von den neuen Machthabern zugunsten ihrer Ideologie umgedeutet werden. Aus diesem Grunde werden sich meine nächsten Arbeiten mit bestimmten Wertvorstellungen wie z.B. der Treue, dem Gehorsam, der Liebe zu den Eltern oder aber auch mit den Fragen befassen: Was heißt Gefolgschaft oder ‘blinder Gehorsam’? An dieser Stelle machte er eine kurze Pause, sah zu Paul und Sophia herüber und meinte dann schmunzelnd: „Das ist Ihr Tag, darum sollten wir nicht zu ernst und zu politisch werden. Und sich zu Paul hinwendend fuhr er fort: „Wir können uns noch gerne ein wenig über Vorhelm, das ist ja mein Heimatort, und Ihre Erlebnisse in den Kriegsjahren 1917/1918 auf dem Bergeickel, dieser Ansammlung von Bauernhöfen, unterhalten. Das, was ich bisher von Ihnen darüber gelesen habe, das hat viele Erinnerungen in mir wachgerufen.

    Während Pfarrer Wibbelt sprach, hatten alle am Tisch zugehört. Da er sich mit seinen letzten Worten besonders an Paul gewandt hatte, nahm man danach wieder die eigenen Gespräche auf. Paul und Sophia, wie auch ihre Eltern, denen das Münsterland von Lüdinghausen bis Beckum gut bekannt war, vertieften hingegen den Gedankenaustausch mit Pfarrer Wibbelt. Dieser empfahl sich nach dem Mittagessen in die so genannte ‘Unterstunde’, was im Plattdeutschen die Mittagsruhe umschreibt. Zuvor lud Pfarrer Wibbelt Paul und Sophia ein, auch weiterhin zu ihm Kontakt zu halten. Er verabschiedete sich bei allen und machte sich dann auf den Weg zu seinem Pfarrhaus. Die übrige Hochzeitsgesellschaft trank noch gemeinsam Kaffee, gönnte sich einige Biere und Schnäpschen, um dann wieder nach Oberhausen aufzubrechen.

    Alle Teilnehmer waren der Ansicht, an einer etwas anderen aber besonderen Hochzeit teilgenommen zu haben. Sophia und Paul bezogen an diesem Abend – müde aber glücklich – ihre eigene Mansardenwohnung, die für die nächsten vier Jahre ihr Refugium, ihr Zuhause sein sollte.

    Am 18.Februar 1934, an einem Sonntag, gebar Sophia ihr erstes Kind. Die Geburt verlief ohne besondere Schwierigkeiten und auch alle anderen Umstände, die in Wirklichkeit keine waren, erweckten den Eindruck, dass hier ein Sonntagskind auf die Welt gekommen war, was sich im weitern Leben tatsächlich bestätigen sollte. Die stolzen und glücklichen Eltern waren sich darüber einig, dass der Sohn den Namen des Großvaters Theodor – und in Erinnerung an die Trauung mit Pfarrer Augustin Wibbelt – den Zweitnamen Augustin tragen sollte. Am 25.Februar 1934 wurde ihr Erstgeborener in der St. Marienkirche in Osterfeld-Rothebusch auf den Namen Theodor Augustin getauft.

    Als am 29.April 1935 der zweite Sohn zur Welt gekommen war, wurde dieser am 5. Mai in der St. Marienkirche des Kapuzinerklosters in Sterkrade auf den Namen Franz-Josef getauft. Beide Söhne entwickelten sich in den folgenden Jahren prächtig. Doch je größer sie wurden, desto offensichtlicher wurde auch, dass die kleine Mansardenwohnung auf Dauer vom Platz her nicht mehr ausreichen würde. So verwundert es nicht, dass sich die Familie Rundholz zum Ende des Jahres 1936 auf die Suche nach einer größeren Wohnung machte.

    Da es auch damals nicht leicht war, für eine Arbeiterfamilie mit Kindern eine gute und bezahlbare Wohnung zu finden, dauerte es bis zum Februar 1937, dass sie die Zusage für eine Wohnung auf der Steinbrinkstraße in Sterkrade bekamen. Mit dem Umzug im März 1937 begannen vierundzwanzig erlebnisreiche, glückliche und manchmal auch sehr schwierige Jahre des familiären Zusammenlebens.

    Das Zuhause

    Auf der Steinbrinkstraße Nr. 134 in Sterkrade wohnte seit dem Jahre 1923 die Familie Wilhelm von Kamp. Der Malermeister, seine Frau, drei Töchter und der Sohn Wilhelm jun. waren in das Haus eingezogen, als mit dem Verfall des Geldes im Inflationsjahr 1923 ein sonst finanziell gut ausgestatteter Auftraggeber seine Rechnung nicht mehr begleichen konnte. Das Haus wurde zur Begleichung der Rechnung eingesetzt. Den Rest der ausgehandelten Verkaufssumme nahm Senior Wilhelm von Kamp bei der Bank auf, um das Darlehen wenige Wochen später vollkommen zurückzuzahlen, nachdem sich der Wert des Geldes im Verhältnis 1:100 verändert hatte.

    Der Adelstitel „von" war schon am Ende der Kaiserzeit dem Namen beigefügt worden. Hinter vorgehaltener Hand flüsterte man zuweilen, dass dieser Titel viel Geld gekostet habe, obwohl er vermutlich, so witzelten Außenstehende, nur eine Bezeichnung für die Herkunft von etwas – also örtlich gesehen – war. Damals, im Jahr 1937, trugen alle Familienmitglieder der von Kamp den Titel mit Stolz, weil er ihnen – neben dem guten finanziellen Stand aus dem Handwerksbetrieb – gleichzeitig die Türen in die gehobene Bürgergesellschaft der Stadt öffnete.

    Alle Kinder der Familie von Kamp besuchten die höhere Schule; die Töchter das Lyzeum auf der Kantstraße und Sohn Wilhelm das Gymnasium am Volkspark in Sterkrade. Die Töchter erhielten Klavierunterricht, während Junior Wilhelm Hockey spielte und auf Partys ein glänzender Unterhalter war. Aber auch das Tennisspiel nahm bei den Vieren viel Zeit in Anspruch. Dieses änderte sich schlagartig, als Wilhelm von Kamp Senior Ende des Jahres 1936 ganz plötzlich verstarb. Da Sohn Wilhelm nicht in der Lage war den elterlichen Betrieb weiterzuführen und auch keine der Töchter der weiteren Führung des Malergeschäftes etwas abgewinnen konnte, wurde der Betrieb kurzerhand an Heinrich Arntzen vermietet, der aus seiner Sicht einen guten Mietpreis aushandeln konnte.

    Doch der plötzliche Tod des Wilhelm von Kamp bedeutete für die Familie kräftige finanzielle Einbußen und machte es in der Konsequenz notwendig, leer stehenden Büroraum und das sogenannte Ankleide- und Klavierübungszimmer als Wohnungen zu vermieten. Mit Geschick wurde die untere Etage zu einer großen Wohnung umfunktioniert. Auch die anliegenden Zimmer am Treppenhaus, das bis unter das Dach führte, konnten als Wohnung für eine kleinere Familie hergerichtet werden. Im März 1937 bezogen Sophia und Paul Rundholz mit ihren Söhnen Theo und Franz-Josef die untere Etage im Haus der Steinbrinkstraße Nr. 134. Hans-Otto und Hildegard Reich, ein kinderloses Ehepaar, erhielten den Zuschlag für die kleinere Wohnung im Treppenhaus.

    Da das Haus der von Kamp direkt mit dem Nachbarhaus verbunden war, bildeten beide Häuser zur Steinbrinkstraße eine fast 25m lange Front, die mit Ornamenten und Tierköpfen geschmückt, gut anzusehen war. Von vorne gesehen wurde diese Häuserfront sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite durch Toreinfahrten begrenzt, die auf die hinteren Höfe führten. In der Mitte dieser Front befand sich die Haustür als Zugang zu den Wohnungen des Hauses Nr. 134. Da beide Häuser durch angebaute Seitenflügel nach hinten heraus erweitert worden waren, entstanden einerseits dunkle Toreinfahrten und andererseits ein großer hufeisenförmiger Innenhof. In der dunklen Toreinfahrt zur linken Hand befanden sich gleichzeitig die Hauseingänge für die Häuser Nr. 136 und 138.

    Der Vermietungsstand, der wie ein Hufeisen angelegten Häuser Nr. 134 und 136, stellte sich Ende März 1937 wie folgt dar: Im Haus Nr.134 lebten in der unteren Etage Sophia und Paul Rundholz mit ihren Kindern. Die im Treppenhaus gelegene Zweizimmerwohnung, deren Fenster zur Steinbrinkstraße zeigten, bewohnten Hans-Otto und Hildegard Reich, während die Familie von Kamp die erste Etage und eine große Zimmerflucht im Anbau zum großen Hinterhof bewohnte. Alle Wohnungen wurden durch einen langen Flur erschlossen, der einerseits zum Treppenhaus oder auch in den Keller führte. Das Besondere an diesem Flur bestand aber auch darin, dass er eine direkte Verbindung zum Hinterhof war und am Ende eine Toilette hatte, die von der Familie Rundholz zu benutzen war. Öfter kam es aber auch vor, dass sie von den Mitarbeitern des Malerbetriebes mitbenutzt wurde, für die sie ursprünglich auch vorgesehen war, als das Geschäft noch von der Familie von Kamp betrieben wurde.

    Die Wohnungen im Nachbarhaus, links neben der Haustür, hatten, wie schon geschildert, separate Eingänge, die über eine der Toreinfahrten zu erreichen waren. Im Parterre des Hauses wohnte die Familie Tepaz, in der ersten Etage die Familie Becker und im hinteren Anbau, der ebenfalls einen besonderen Eingang hatte, die Familie Köster mit ihrer behinderten Tochter. Der Innenhof der hufeisenförmigen Wohnanlage wurde auf einer Seite durch die angrenzende Malerwerkstatt erweitert. Unterhalb des zum Hof gelegenen Küchenfensters der Familie Rundholz führte ein gemauerter Treppenabgang in die gemeinsame Waschküche und einen angrenzenden Kellerraum. Die Wohnung zum Parterre hatte dazu – genau im Knick des Hufeisens – einen Treppenaufgang mit einer gemauerten, perronartigen Fläche unterhalb eines großen Fensters, hinter dem die Familie Rundholz ihr Wohnzimmer hatte. Der Hinterhof selbst erweiterte sich über eine Rasenfläche in zwei Nutzgärten. Während der erste Garten mit Ziersträuchern, Blumenbeeten und kleineren Obstbäumen angelegt war und von der Familie von Kamp beansprucht wurde, nutzten die Rundholz ihren dahinter gelegenen Garten beinahe ausschließlich als Gemüsegarten.

    Die Grenze zu von Kamps Garten bildete ein üppiger Fliederstrauch, unter dem ein Tisch mit einer Sitzbank stand. Hier fanden Sophia und Paul an Sommertagen nach getaner Arbeit Ruhe und Muße. Ansonsten bestand der Garten aus Gemüsebeeten, der damals bekannten Gemüsesorten – Spinat, Melde, Mangold, Möhren, Erbsen, Bohnen, Tomaten, verschiedenen Salaten, Gewürzpflanzen und einem größeren Kartoffelbeet. Die Gartenarbeit verrichtete Paul meistens nachmittags, wenn er von der Arbeit nach Hause gekommen war. Sophia, durch die Kinder immer reichlich beschäftigt, kam nur hin und wieder in den Garten und hatte dann die Kleinen zu beaufsichtigen, damit sie nicht die Beete zertraten. Sie ermunterte Paul immer sehr, die Gartenarbeit als Ausgleich zur Tätigkeit auf der GHH anzusehen, denn die Gartenarbeit war nicht gerade seine Lieblingsbeschäftigung.

    Zu erwähnen ist auch, dass sich an der Vorderfront des Hauses ein ca. 2,0 m breiter Bürgersteig zur kopfsteingepflasterten Straße anschloss, der durch seine Erhöhung eine Abgrenzung darstellte und damit die tiefer gelegenen Geleise der Straßenbahn scheinbar zurückdrängte. Den Lärm der Straßenbahn hörten die Bewohner des Hauses kaum noch, denn an solche Beeinträchtigungen gewöhnt man sich im Verlauf der Zeit. Einzig und allein Besucher, die auch schon einmal über Nacht blieben und im Gästezimmer zur Straße schliefen, gaben morgens zu erkennen, mit Beginn der Straßenbahnfahrten gegen 4:00 Uhr kein Auge mehr zugemacht zu haben, was so viel bedeutete, dass sie nicht mehr in den Schlaf finden konnten.

    Für Paul und Sophia war die Wohnung ein Glücksfall. Vier große Zimmer mit fast 110qm Wohnfläche, ein kleiner Flur mit einem Ausgang zum Hof, der aber auch gleichzeitig die Verbindung zwischen der Küche und dem Wohnzimmer war und ein eigenes Fenster hatte. Die Ausmaße der Küche sind besonders erwähnenswert. Vom Fußboden zur Decke betrug die Höhe 3,30m; der gesamte Raum hatte einen Holzfußboden und umfasste 29 qm. Die Wände waren bis zu einer Höhe von 1,80m weiß gefliest. Den Abschluss der Fliesen bildete eine Dekorleiste und die darüber liegenden Wände waren mit einer geschmackvollen Küchentapete beklebt. Die beiden großen Küchenfenster zum Hof wurden von Holzrollläden gesichert. Wenn man die Küche vom Verbindungsflur aus betrat, gab es links zum Hof noch einen durch eine eigene Tür abgegrenzten Vorratsraum mit einem kleinen Fenster.

    Räumlich gesehen bot diese Wohnung alle Möglichkeiten für eine große Familie, und der Mietpreis war im Preisgefüge der damaligen Zeit. Paul und Sophia waren über diese Wohnung glücklich, auch wenn sie anfänglich sehr sparsam wirtschaften mussten, denn mit der Mietzahlung wurde doch ein erheblicher Teil des Lohnes verbraucht. Von Anfang an spielte sich der größte Teil des täglichen Familienlebens der Rundholz in der Küche ab. Dieses sollte – ohne den Geschehnissen vorgreifen zu wollen – beinahe 25 Jahre so bleiben, in denen die Familie Rundholz auf der Steinbrinkstraße im Haus Nr.134 die Höhen und Tiefen des Lebens kennen lernte. In der Küche wurde gesungen, geweint, getanzt und gelacht, so wie das Leben die Situationen bereithielt.

    Auch die Wohngegend, das häusliche Umfeld, kam den Vorstellungen von Paul und Sophia entgegen. Im Nachbarhaus wohnte auf der einen Seite die Familie Schult, die sich ein Taxigeschäft aufgebaut hatte. Daneben wiederum hatte die Familie Schumacher ihr kleines Lebensmittelgeschäft, in dem auch Sophia einen Teil ihrer Einkäufe tätigte. In den Häusern zur anderen Seite wohnte der Diplomingenieur Dahl mit seiner Frau und zwei Kindern. Wenn man ihm begegnete, so glaubte man im ersten Moment Otto von Bismarck vor sich zu haben. Sein Gesicht, der Schnauzbart, die Augenpartie und auch die Haltung des Körpers, die von den Fotos bekannte „Bismarck – Schirmmütze", alles das gab ihm die Ähnlichkeit, doch die Politik war nicht sein Metier. Die Hausbesitzerin dieses und des nächsten Hauses war Frau Pelzer, die in der ersten Etage sehr zurückgezogen lebte. Sie war dem Gerede nach sehr vermögend, aber in der Ehe unglücklich und zum zweiten Mal verheiratet. Hinter der vorgehaltenen Hand erzählte man sich, dass sie das Vermögen von ihren jüdischen Eltern geerbt habe.

    Auf der gegenüberliegenden Straßenseite von Nr.134 stand ein einzelnes Haus, dem sich ein großes, offenes Feld auf der rechten Seite anschloss. Auf der linken Seite wiederum standen Häuser, in denen Ingenieure und Technische Zeichner der GHH, der Bäckermeister Mangelmann mit seiner Familie, Justizbeamter Thelen mit seinen extravaganten Töchtern oder auch Polizeimeister Heckmann lebten. Während der Bäckermeister auch sein Geschäft in dieser Häuserflucht hatte und sein Backgut von den Kunden gelobt wurde, war Polizeimeister Heckmann bei den Jungen, die oft auf dem Feld Fußball spielten, wegen seines überaus ordnungsbewussten Auftretens sehr gefürchtet.

    Es bleibt festzustellen, dass dieses bürgerliche Milieu ganz nach den Vorstellungen von Paul und Sophia war, die beide aus Familien kamen, in denen die Väter als „kleine" Beamte der Reichseisenbahn ihr Geld verdienten, das wegen der großen Kinderschar meistens kaum bis zum Monatsende reichte. In einer Wohnsiedlung der GHH oder auch in einer Zechensiedlung, die ja immer als das typische Wohnen im Ruhrgebiet ausgegeben wurden, wollten sie nicht wohnen. Für eine Zechensiedlung hätte es auch eines Wohnberechtigungsscheins bedurft, den sie nicht hatten.

    Untereinander und ebenso bei ihren Kindern achteten sie von Anfang an darauf, dass nicht das so genannte Ruhrgebietsdeutsch mit „dat und „wat, hasse und „willse gesprochen wurde, sondern eine gepflegte Aussprache – also Hochdeutsch und eine exakte Wortwahl den zu hörenden Unterschied ausmachte.

    Die von der Steinbrinkstraße abzweigenden Nebenstraßen trugen zur damaligen Zeit Namen von verdienten Kriegsveteranen der Kaiserzeit wie z.B. Otto-Weddigen-Straße oder auch von bekannten Schlachtschiffen wie z.B. die Emden-Straße. Je nachdem, wie Paul zu seiner Arbeitsstätte ging, benötigte er 15 bis 20 Minuten an Zeit. Der Weg führte ihn entweder über die Steinbrinkstraße bis zur Bahnhofstraße, über die er nach ca.200m das Tor 1 der GHH erreichte, oder aber nur wenige Meter über die Steinbrinkstraße, danach über die Otto –Weddigen-Straße bis zur Dorstener Straße, auf der er nach ebenfalls ca. 200m das Tor 3 der GHH erreichte. Den zuletzt genannten Weg ging er in der Regel nach der Arbeitszeit nach Hause, weil hier nur wenig Verkehr war und Sophia ihn manchmal mit den Kindern abholte.

    Zum sonntäglichen Gottesdienst machten sie sich meistens schon früh – gegen 7:00 Uhr, spätestens aber um 8:00 Uhr – auf den Weg zur hl. Messe. Die dem hl. Clemens geweihte Pfarrkirche lag mitten in der Stadt, in der Nähe des kleinen Marktplatzes an der Steinbrinkstraße. Ein älterer Propst, dem vier und manchmal auch fünf Kapläne zur Seite standen, war für die Seelsorge verantwortlich.

    Paul war die Umstellung auf eine andere Pfarrgemeinde schwerer gefallen als Sophia, denn gerne erinnerte er sich an den Kirchengesang unter dem Organisten und Chorleiter Krähenheide in der Propstei St. Pankratius in Osterfeld. Dort hatte er als Mitglied des Männerquartetts manchen Gottesdienst mitgestaltet. In der Propstei St. Clemens hatte er anfangs nur im Gesellenverein eine stärkere Anbindung erfahren. Sophia hingegen war die Umstellung nicht schwer gefallen, doch für eine aktive Beteiligung in der Pfarrgemeinde hatte sie schon allein wegen der Kinder keine Zeit.

    So ging das Leben viele Wochen und Monate ohne auffällige Besonderheiten seinen gewohnten Gang. Im Haus und in der Nachbarschaft fühlte man sich wohl, auch wenn die Mitglieder der Familie des Hauseigentümers meinten, im Auftreten und Gehabe ihre besondere gesellschaftliche Stellung herausstellen zu müssen. Sophia und Paul begegneten ihnen freundlich, zahlten pünktlich ihre Miete und konnten so ihr eigenes Familienleben nach ihren Vorstellungen gestalten. Familie zu sein, Familie zu leben, mehrere Kinder zu haben und verantwortlich für das Leben zu erziehen, das war eine ihrer Idealvorstellungen.

    Beruflich hatte Paul den Wunsch, sich besser zu qualifizieren, denn er empfand es als großen Mangel, keine berufliche Ausbildung zu haben. Eine nachträgliche berufliche Ausbildung war in der damaligen Zeit aber so gut wie unmöglich, insbesondere dann, wenn man durch die schlechten vorausgegangenen wirtschaftlichen Jahre froh sein musste, überhaupt eine Arbeit zu haben. So konnte er nur hoffen, dass seine rasche Auffassungsgabe und die Tugenden Pünktlichkeit und Fleiß die Verantwortlichen am Arbeitsplatz von seiner Person überzeugten.

    Zu seiner Frau Sophia hatte er schon kurz nach der Hochzeit gesagt: „Wenn ich eine bessere berufliche Qualifikation hätte, dann würden sich mir auf der Arbeit andere Aufstiegschancen eröffnen. Doch in meinem Alter (er war damals 30 Jahre alt) und zu dieser Zeit bekommt man die Möglichkeit der Nachqualifikation nicht. Ich muss mir also auf einem anderen Gebiet einen Namen machen, um für uns beide und unsere Familie bessere Chancen zu eröffnen. Sophia hatte sich damals an ihn geschmiegt und liebevoll geantwortet: „Ich liebe dich so wie du bist. Du bist fleißig, ehrlich und hast mich lieb. Du wirst für uns deinen Weg gehen. Ich bin auch ganz sicher, dass du dir über deine Gedichte und Erzählungen einen Namen machen wirst. Dass du keine berufliche Ausbildung durchlaufen konntest, das war nicht deine Schuld. Gemeinsam werden wir unsere Vorstellungen verwirklichen.

    Zum Ende des Jahres 1937 konnten beide feststellen, dass Paul durch seine schriftstellerische Tätigkeit auf der Arbeit, in der Nachbarschaft und in einem größeren Umfeld der Sterkrader Öffentlichkeit bekannt geworden war. Sophia hingegen war erneut schwanger und erwartete gegen Ende Januar oder Anfang Februar 1938 das dritte Kind. Nach der Geburt von Tochter Maria am 26. Januar 1938, die ohne Komplikationen verlaufen war, konnte Sophia schon bald wieder die gesamte Hausarbeit übernehmen, die bei drei kleinen Kindern nicht unerheblich war. Paul hingegen wurde betrieblich zu Überstunden herangezogen, durch die er seinen Lohn aufbessern konnte. Durch die Rüstungsaufträge bei der GHH fiel in der Zwischenzeit so viel an Arbeit an, dass eine Arbeitswoche mit fast 60 Arbeitsstunden nicht selten war.

    In der Mitte des Jahres zog Frau Pelzer aus dem Nachbarhaus aus, und eine junge Familie mit drei Kindern bezog die frei gewordene Wohnung. Das Ehepaar Lorenbeck, darin waren sich Paul und Sophia einig, machte einen guten Eindruck. Auffallend war allerdings, dass der Mann, Wolfgang L., fast ausschließlich in seiner SS Uniform zu sehen war und oft von einer schwarzen Limousine abgeholt wurde. So verwunderte es nicht, dass man sich in der Nachbarschaft erzählte, er sei ein hoher Mitarbeiter Reinhard Heydrichs beim Staatsicherheitsdienst.

    Nachdem Paul erneut einige Gedichte und Erzählungen in der Werkszeitung der GHH veröffentlicht hatte, war er verstärkt in den Blick der Werksleitung und auch der örtlichen Parteigrößen gekommen. Seine kraftvolle Sprache, die ausdrucksvollen Bilder seiner Gedichte und Erzählungen zur Familie und zur Arbeitswelt, verbunden mit religiösen oder nationalen Motiven, sollte er nach deren Meinung in den Dienst der völkischen Sache stellen. So verwundert es nicht, dass der junge Familienvater und Kranführer aus dem Brückenbau der GHH beinahe regelmäßig bezüglich eines Parteibeitritts zur NSDAP angesprochen wurde. „Mensch Paul, sagte eines Tages Karl Langsam, ein einfacher aber immer freundlicher Arbeitskollege, „warum kommst du nicht in die Partei? Hier auf der Ortsebene wird keine große Politik gemacht. Wir versuchen mit kleinen Schritten Dinge zu bewegen, die das Leben von uns ‘kleinen’ Arbeitern ein wenig verbessern. Wir brauchen so Köpfe wie dich, die ihr Wort machen und andere mitreißen und begeistern können.

    „Ja, ja, erwiderte Paul, „ich kann dich verstehen. Doch zurzeit bin ich durch die ehrenamtliche Tätigkeit im Gesellenverein Adolf Kolpings im Freizeitbereich sehr beansprucht. Vielleicht später einmal. Damit war das Thema der Mitgliedschaft in der NSDAP erst einmal vom Tisch. Als er jedoch im Anschluss einer kirchlichen Feier, in der Pfarrer Kreienburg zu verschiedenen politischen Ideen und zu Positionen der NSDAP kritisch Stellung bezogen hatte, ebenfalls unter dem Beifall der Kolpingsöhne kritische Anmerkungen machte und christlich soziales Gedankengut in die Diskussion einbrachte, da nahm ihn der Pfarrer und Präses des Gesellenvereins nach der Veranstaltung an die Seite und sagte: „Paul, ich freue mich über deine eindeutigen christlich-katholisch orientierten Diskussionsbeiträge. Doch du musst aufpassen, denn die NSDAP hat ihre Spitzel auch in unseren Reihen, in jedem Gottesdienst. Nicht linientreue Äußerungen werden notiert, den Parteibossen gemeldet und in der Folge gibt es dann Schwierigkeiten auf der Arbeit oder die Vorladung auf eine Dienststelle der Partei. Ich bin Priester, ohne Familie, du jedoch hast drei Kinder und eine junge Frau! Denke darüber nach!" Spät am Abend sprach er mit Sophia darüber. Die war sehr erschrocken und sie gingen später beide innerlich erregt und bedrückt zu Bett.

    Wenige Tage später kam überraschend eine dreiköpfige Delegation von der Partei und dem Betrieb zu ihnen in die Wohnung. Im ersten Moment argwöhnten sie Schlimmes, denn es war bisher noch nicht vorgekommen, dass Betriebsleiter Diesler, Meister Risse aus dem Brückenbau und Ortsgruppenführer Nause von der NSDAP sie aufgesucht hatten. Meister Risse, ein kleingewachsener Mann, lächelte schon an der Tür als er sagte: „Wir wollten gerne mit ihnen, also mit dir und deiner Frau, in den geschützten Wänden eurer Wohnung sprechen, denn was wir zu beraten haben, das geht nur uns Fünf etwas an", dabei schaute er seine Begleiter an.

    Nachdem alle im Wohnzimmer Platz genommen und durch Sophia Kaffee erhalten hatten, einige höfliche aber unbedeutende Redewendungen ausgetauscht worden waren, nahm Ortgruppenführer Nause das Wort: „Wir sind gekommen, um mit Ihnen, Volksgenosse Rundholz, etwas abzustimmen. Selbstverständlich haben wir uns mit Ihren Personalunterlagen vertraut gemacht. 1904 als fünftes von dreizehn Kindern in Oberhausen – Osterfeld geboren, zwei Jahre – 1917/1918 – als Kriegskind in Vorhelm in Westfalen auf einem Bauernhof. Insgesamt sechs Jahre Volksschule, aber dennoch eine besondere Befähigung in der deutschen Sprache. Sie schreiben gute Gedichte und Geschichten. Ist was für unser deutsches Volk, für unsere Arbeiter. Doch darauf komme ich noch zurück." Mit Kopfnicken und unterstützenden Gesten stimmten Meister Risse und Betriebsleiter Diesler allen Aussagen zu.

    Sophia hörte, den Kopf leicht zur Seite geneigt, mit leuchtenden Augen zu. In ihr brodelte die Frage nach dem Warum des Besuches. Ortsgruppenführer Nause fuhr dann fort: „Seit Jahren sind Sie ein fleißiger, pünktlicher – und ich will es mal so sagen – ein treuer Mitarbeiter im Brückenbau. Wir wissen, dass Sie die Arbeit als Kranführer gut und korrekt erledigen. Doch in Ihnen steckt mehr, Sie haben größere Fähigkeiten. Wie sind Sie eigentlich zum Schreiben, ans Dichten gekommen?"

    Bei allem Gehörten fühlte sich Paul sehr geschmeichelt und anerkannt. Dann antwortete er: „Ich habe immer gerne gelesen, Gedichte interpretiert und dann eines Tages angefangen, meine Gefühle und mein Denken selbst in Verse zu fassen. Durch unsere Heirat lernten wir den Pfarrer und Schriftsteller Augustin Wibbelt in Mehr bei Kleve näher kennen, den ich schon aus meiner Kriegskindzeit in Vorhelm kannte. Dort wurde Wibbelt auf einem großen Bauernhof geboren, erklärte Paul dem Ortsgruppenführer. Dieser wollte gerade wieder das Wort nehmen, doch Paul ergänzte das bisher Gesagte: „Ich habe dann dem Pfarrer einige meiner Gedichte und Kurzgeschichten zur Beurteilung gegeben. Die fand er gut, und er ermunterte mich auch weiterhin dieser schönen Muße nachzugehen.

    „Schon gut, nahm der anwesende Parteiführer das Wort, „ich will es jetzt auf den Punkt bringen. Das, was Sie über die Arbeit, das Volk, unsere Nation und den notwendigen Aufbruch in eine neue Zeit schreiben, das finden wir auch als Partei gut. Doch es fehlt uns an einigen Punkten der Bezug zum Führer. Ein ‘Heil Hitler’ unter Ihren Gedichten wäre gut.

    Paul erschrak und bekam einen roten Kopf. Sophia guckte erstaunt, doch die Begleiter aus dem Betrieb unterstrichen mit bedeutungsvollem Kopfnicken die Worte des Ortsgruppenführers. Der ergriff erneut das Wort: „Wir meinen, und das ist mit dem Betrieb, also mit den Verantwortlichen der GHH abgestimmt, dass sie in der Verwaltung der GHH tätig werden sollen, damit Sie fürs Schreiben mehr Zeit haben und am Ende die Gedichte und Erzählungen unserem Führer widmen. Natürlich müssen Sie dann auch Mitglied der NSDAP werden."

    Damit war die Katze aus dem Sack wie man zu sagen pflegt. Betriebsleiter Diesler und Meister Risse sagten wie aus einem Mund: „Der Betrieb unterstützt das Wollen der Partei und bietet Ihnen deshalb eine Verwaltungstätigkeit und ein höheres Gehalt an. Damit hatten Sophia und Paul nicht gerechnet. Erstaunt, erfreut und die Tragweite des Angebotes noch nicht ganz überblickend, erwiderte Paul: „Das ist ein unerwartetes Angebot. Natürlich würde ich gerne in der Verwaltung arbeiten, und bei drei Kindern ist ein etwas höherer Lohn auch nicht zu verachten. Doch man kann nicht jedes Gedicht auf den Führer enden lassen. Wie stellen Sie sich das vor?

    „Unter dem Gedicht oder unter der Erzählung soll nur am Ende stehen: ‘Heil Hitler’. Die Form wird Ihnen schon einfallen. Wir müssen nur deutlich machen, dass alles, was bisher erreicht wurde und unser Volk wieder stark macht, dem Führer zu verdanken ist. Das schaffen Sie schon. Hier ist der Parteiaufnahmeschein! Überlegen Sie nicht zu lange und geben Sie ihn morgen oder übermorgen in meinem Büro im Werk ab. Deutlicher müssen wir doch nicht werden. Sie haben den Willen der Partei verstanden?! Ohne weitere Worte stand Ortsgruppenführer Nause auf. Meister Risse und Betriebsleiter Diesler folgten seinem Beispiel. Schnell verabschiedete man sich mit einem ‘Heil Hitler’ und ‘Deutschem Gruß ‘. Im Herausgehen sagte Parteiführer Nause, die linke Hand auf Sophias rechten Arm legend: „Reden Sie Ihrem Mann zu. Er soll sich für den Führer und die Sache des Volkes einen Ruck geben. Wird sein Schaden nicht sein. Dann waren die unerwarteten Besucher schon aus dem Haus und machten sich auf ihren Weg.

    Sophia und Paul nahmen sich in die Arme, sprechen konnten sie im ersten Moment beide nicht, denn dieser Auftritt war zu überraschend und in seinem Ansinnen zu weit reichend. Als sie ihre Sprachlosigkeit überwunden hatten, diskutierten sie bis in die Nacht das Für und Wider zum Vorschlag des Ortsgruppenführers. Sophia sah insbesondere die bessere Stellung ihres Mannes, die angesprochene höhere Entlohnung der Arbeit, die Vorteile für die Familie. Pauls lang gehegter Wunsch des beruflichen Aufstiegs konnte jetzt in Erfüllung gehen.

    „Du kannst dem Wollen der Partei kaum ausweichen, begann sie die Auswertung ihrer Überlegungen. „Der Führer verändert ja tatsächlich unsere schlechte wirtschaftliche Situation zum Besseren. Was kann dir oder uns schon passieren, wenn du in die NSDAP eintrittst. Ich meine, du solltest es tun, denn wir als Familie und du in deinem Beruf, wir erreichen eine erhebliche Verbesserung der augenblicklichen Situation, fasste sie am Ende ihre Meinungsbildung innerlich bewegt und leicht lächelnd zusammen.

    Paul aber verspürte ein Unbehagen, denn mit diesem Schritt – Parteimitglied zu werden – würde er einen Teil seiner persönlichen und auch dichterischen Freiheit aufgeben. Von den Arbeitskollegen auf der GHH, aus der Pfarrgemeinde und auch aus dem Gesellenverein waren ihm Parteimitglieder bekannt; sie fielen im Allgemeinen als solche kaum auf. Nur wenn Aktionstage der SA angesagt waren, dann wurde deutlich, wer hinter den Standarten marschierte.

    Hitler hatte einen Vierjahresplan der Wirtschaft in Gang gesetzt, der allem Anschein nach seine Wirkung nicht verfehlte und immer mehr Männer wieder in Arbeit brachte. Das so genannte ‘Winterhilfswerk’ (WHW) und die ‘Nationalsozialistische Volkswohlfahrt’ (NSV) sammelten Geld- und Sachspenden für die Ärmsten, und die Organisation ‘Kraft durch Freude’ (KdF) verschaffte den Arbeitern billige Erholungsmöglichkeiten sowie die Teilnahme an Sport-, Kunst- oder Kulturveranstaltungen. Negativ war zu vermerken, dass die Gewerkschaften und andere Parteien als die NSDAP verboten wurden und mit dem Ermächtigungsgesetz fast alle Verbände, gesellschaftlichen Organisationen, Jugendverbände, Lehrerverbände, Sozialverbände, Frauenverbände u. a. gleichgeschaltet und der NSDAP unterstellt worden waren. Über allem stand der Führer. So ging es Paul damals nach Sophias Worten in Sekundenschnelle durch den Kopf: „Beruflicher Aufstieg gegen Parteimitgliedschaft. Zur Antwort gab er ihr nur: „Ich werde diese Nacht darüber schlafen und mich morgen entscheiden.

    Am anderen Morgen nahm er den Aufnahmeschein für die NSDAP mit in sein Kranführerhäuschen, füllte ihn in einer Arbeitspause mit sauberer Handschrift aus und gab ihn zum Ende der Frühschicht im Büro des Ortsgruppenführers ab. Er war froh, dass Nause selbst nicht anwesend war, denn bei diesem Kuhhandel fühlte er sich nicht wohl, und er hatte das Gefühl, die anwesende, hübsche Partei – und Volksgenossin, Nachbarin Eleonore Lorenbeck, habe mitbekommen, wie sich sein Gesicht rot verfärbte.

    Zum Ende des Monats erhielt Paul seine neue Stelle in der Verwaltung. Die bisherigen Arbeitskollegen beglückwünschten ihn und meinten: „Bei deinen Fähigkeiten bist du in der Verwaltung besser aufgehoben. Lasse dich ab und zu mal hier unten sehen." Auch seine Arbeitszeit änderte sich so, dass er eine Stunde später aufstehen konnte, um pünktlich gegen 7:00 Uhr in der Verwaltung zu sein.

    Die Tage, Wochen und Monate vergingen wie im Flug. Paul musste bei Versammlungen und Aufmärschen der SA dabei sein, die Uniform der SA tragen, die ihm allerdings ganz gut stand. Dennoch trug er viel lieber Zivil, denn das Tragen der Uniform empfand er als zur Zuschaustellung einer Gesinnung, die er nicht in allen Punkten teilte.

    An einem Sonntag, wie öfter in der vergangenen Zeit, besuchte Hans van de Veen mit seiner Frau Maria und den Kindern Sophia und Paul auf der Steinbrinkstraße. Paul und Hans kannten sich schon mehrere Jahre. Gemeinsam hatten sie im Männerquartett gesungen, manchen Gottesdienst in der Kirche mitgestaltet oder auch Feiern in der Gaststätte Lüger in Osterfeld gesanglich begleitet. Vor einigen Jahren hatte Hans seine bildschöne Schwester Maria geheiratet, mit der er inzwischen drei Kinder – Anne, Bernd und Vera – hatte. Schwager Hans arbeitete als Zugführer bei der Reichsbahn und die Familie wohnte in einer Eisenbahnersiedlung in Osterfeld. Der Schwager konnte sehr gut singen und sein Tenor, den er bei geeigneten Liedern zu einem höchsten Tremolo empor schwingen konnte, zeichnete ihn besonders aus. Beim Singen in den höchsten Tonlagen bekam er allerdings immer einen hochroten Kopf und selbst die längeren, lockigen Haare wirkten wie elektrisiert. Ganz wichtig ist jedoch zu wissen, dass dieser Schwager ungeheuer eifersüchtig werden konnte, wenn manchmal, zur vorgerückten Stunde im Gasthaus Lüger, andere Männer seiner Frau Maria schöne Augen machten.

    Nachdem man gemeinsam Kaffee getrunken und die Neuigkeiten der vergangenen Tage ausgetauscht hatte, nahm Paul seine Laute von der Wand und zusammen sang man Volks- und Wanderlieder. Da in der Woche kaum Alkohol getrunken wurde, lösten einige Bier und Schnäpschen die Zungen. Es kam zu einem Gespräch, an das sich Sophia und Paul später immer wieder erinnern mussten. „Weißt du Paul, sagte Hans, „du bist ja jetzt auch in der Bewegung. Ist ja auch für dein berufliches Fortkommen gar nicht schlecht. Du oder ihr wisst es ja beide und merkt es auch, mehr Kinder brauchen mehr Brot.

    „Ist schon in Ordnung, versuchte Paul Hans in seiner Rede zu unterbrechen, „ich habe mir diesen Schritt lange überlegt und bin dann letztlich überredet und durch eine neue berufliche Perspektive überzeugt worden. „Du musst dich nicht entschuldigen oder deine Entscheidung rechtfertigen, nahm Hans sich wieder das Wort, „die Bewegung weiß, was uns und unser Volk voran bringt.

    „Paul, sagte darauf seine Schwester Maria, „Hans hat auch immer mehr Verantwortung zu übernehmen. Jetzt hat er als Zugführer eine Pistole und scharfe Munition bekommen, wenn er besondere Transporte z.B. in ein Arbeitslager zu begleiten hat. „Frauen müssen doch immer Dinge erzählen, die ihnen gar nicht zukommen, zischte Hans dazwischen. „Es stimmt, einige von uns Zugführern sind bewaffnet worden, wenn wir für den Staatssicherheitsdienst besondere Transporte zu fahren haben. Man weiß ja auch gar nicht was passieren kann, wenn man dieses Pack – Zigeuner, Juden oder Volksverräter – in ein Lager bringen muss, damit sie uns nicht mehr gefährlich werden können. Indem er hörbar Luft holte fügte er dann abwiegelnd hinzu: „Doch lasst uns wieder über andere Dinge reden, wir sind zum Schweigen verpflichtet und Plaudern, so wie du es tust, Maria, kann hart bestraft werden." Es wurden zwar noch einige andere Themen aus dem Vereins- oder Familienleben angesprochen, doch bis zur Verabschiedung von Schwager Hans und seiner Familie wollte keine gemütliche Stimmung mehr aufkommen.

    Paul und Sophia hatten seine Ausführungen innerlich tief betroffen gemacht und sie hatten das Gefühl, als wenn sich Blei auf die zuvor gute Stimmung gelegt habe. Erstmals war ihnen bewusst geworden, dass aus dem engsten Familienverband jemand Transporte in die so genannten Konzentrations- und Arbeitslager fuhr. Ihre naive und positiv oberflächliche Denkweise über den Führer und sein Handeln hatte einen derben Kratzer bekommen. Sie hatten jetzt die Gewissheit: Es gab die KZs und der Schwager ‘belieferte’ diese Lager mit ausgestoßenen und entrechteten Menschen.

    „Eigentlich hätte es dieses Abends nicht bedurft, dachte Paul bei sich, „denn waren nicht die ‘Nürnberger Gesetze’ aus dem Jahre 1935 der Grundstein für die Verfolgung der Juden? Hatte Hitler nicht in diesen Gesetzen jede Gemeinschaft, besonders Ehen zwischen Juden und Ariern verboten und den Juden alle bürgerlichen und politischen Rechte aberkannt? Die Tragweite dieser Gesetze war ihm nicht bewusst geworden, oder er hatte sie nicht wahrnehmen wollen. Angestachelt, weil alle es taten und die neuen Führer es so wollten, hatte auch er damit begonnen, den Stammbaum der Familie zu erforschen und den Arier-Nachweis zu erbringen. Ohne Schwierigkeiten konnte er bisher nachweisen, dass sein Großvater, Bernhard Rundholz, 1864 im Krieg zwischen Dänemark und Preußen bei den Düppeler-Schanzen gekämpft und mit dem ‘Eisernen Kreuz’ ausgezeichnet worden war. Auch sein Vater Theodor hatte von 1895 bis 1897 beim Infanterie-Regiment Herwarth von Bitterfeld in Westfalen gedient. Weitere Urkunden, die den Stammbaum der Familie über das Geburtsjahr des Vaters hinaus belegen sollten, waren von ihm beim Standesamt in Herbern, Kreis Lüdinghausen, beantragt worden. Diese Sache lief also gut, und auch der Stammbaum seiner Mutter Maria machte deutlich, dass die familiären Wurzeln in Westfalen, in Preußen gewachsen waren. Lediglich bei seiner Geburt hatte der Standesbeamte das ‘z’ am Ende des Namens in ein ‘tz‘ umgewandelt. Doch das würde er schon berichtigen lassen.

    In diese Gedanken versunken erinnerte ihn Sophia daran, dass er für den morgigen Tag zu einer Versammlung der SA in die Gaststätte Neugebauer, Deutsches Eck, an der Straßenecke Steinbrinkstraße / Emdenstraße eingeladen worden war. Nicht zu erscheinen bedeutete Minuspunkte beim Ortsgruppenführer und ein ständiges Nachfragen, warum man gefehlt habe. Doch durch den Auftritt seines Schwagers Hans war Paul sehr aufgewühlt und fragend antwortete er: „Meinst du, ich muss die Versammlung besuchen? Was Hans eben gesagt hat, das hat mich doch sehr erschreckt und nachdenklich gemacht. Kann man von ‘Pack’ reden, so genannten Volksschädlingen, nur weil es Zigeuner oder Juden sind? Ich frage mich seit geraumer Zeit, was in den Konzentrationslagern geschieht? Am liebsten würde ich morgen die Versammlung versäumen."

    „Ach, Paul, ich kann dir deine Fragen nicht beantworten. Hast du nicht selbst gesagt, dass manche Ankündigungen der Politiker schlimm klingen, doch im näheren Umfeld eigentlich gar nicht viel passiert", entgegnete Sophia.

    „Ja, das habe ich gesagt, doch auf der Arbeit hört man immer öfter, dass Menschen abgeholt werden, wenn sie sich gegen Hitler geäußert haben oder weil sie angeblich Juden sind. Die meisten von ihnen kämen auch nicht mehr zurück, so wird erzählt", führte Paul das Gespräch weiter.

    „Aber wenn du morgen nicht zur Versammlung gehst, wirst du dann nicht Schwierigkeiten auf deiner neuen Arbeitsstelle bekommen? Wir können den Lohn, jetzt ist es ja ein Gehaltzuschlag, aber gut gebrauchen", gab Sophia zu bedenken.

    Paul antwortete nicht sofort, doch dann sagte er: „Dein Einwand ist richtig, aber ich muss erst noch einmal darüber schlafen. Irgendwie bin ich innerlich beunruhigt. Entweder ich werde gehen oder aber mir eine gute Entschuldigung einfallen lassen. Du musst nicht beunruhigt sein."

    Beide gingen zu Bett. Paul legte sich noch einen Moment neben Sophia, streichelte sie und nach einem liebevollen Gute-Nacht-Kuss drehte er sich in sein Bett zurück, um zu schlafen. Doch er konnte einfach nicht einschlafen. Seine Gedanken waren immer wieder bei den Aussagen seines Schwagers Hans und bei der Frage, was er am nächsten Abend tun sollte?

    Bisher war ihm der Parteibeitritt von Nutzen gewesen, nun erstmals hatte er das Gefühl, dadurch einen Teil seiner Freiheit verkauft zu haben. Ein Verrat von Prinzipien, die er vorher hochgehalten hatte. Dabei erinnerte er sich an Worte von Ernst Wiechert, eines Schriftstellers, den er besonders gern gelesen hatte. Er versuchte einzuschlafen. Sophia neben ihm atmete im Schlaf ganz ruhig. Plötzlich hatte er sinngemäß die Worte Wiechert´s im Kopf: „Ja, es kann wohl sein, dass ein Volk aufhört Recht und Unrecht zu unterscheiden, und dass jeder Kampf ein ‘Recht’ ist, aber dieses Volk steht schon auf einer jäh sich neigenden Ebene." Danach hatte Wiechert noch davon gesprochen, dass man

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1