Stürze im Gang der Zeit: Nachzeichnungen
Von Helmut Lauschke
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Todesstiege: Noch schwerer wurde die Stiege vom Steinbruch bergauf, den Sinnen wurde es bänger im Tragen der schweren Last von unten bis oben mit dem wartenden Posten, der keine Rücksicht nahm auf menschliche Kosten mit der steigenden Magerkeit und dem Wachsen der Schwäche.
Das Leben wurde enger und dunkler mit Fron und Ketten, dass schon Kinder erkannten, hier ist keiner zu retten, besonders dann nicht, wenn der Magere unter der Steinlast die Sinne verliert, zusammenbricht und vom Stein erschlagen wird. Das Überleben geht auf Kosten des Lebens in der Entsagung, dass zum Atmen die Achtung und zur Achtung das Brot gehört.
Nach dem Fahneneid, der von einem Major der Luftwaffe mit umgehängtem Ritterkreuz abgenommen wurde, bestiegen die im Schnellverfahren Eingezogenen, die zumeist Schuljungen waren, die offene Ladefläche eines Militärfahrzeugs und ließen sich zur Kaserne fahren, die außerhalb der Stadt lag. Die Jungen winkten mit verzweifeltem Lächeln den Eltern, Geschwistern und Freunden zu, die auf dem Bahnhofsvorplatz zurückgeblieben standen. Sie winkten ihren Jungen mit bloßen Händen hinterher und standen mit verweinten Gesichtern, die bei den älteren Frauen, die so alt nicht waren, von tiefen Sorgenfalten durchzogen waren.
Eckhard Hieronymus schwieg mit dem Gesicht der Verzweiflung. "Hätten wir in der Kirche mehr machen sollen, um es zu verhindern?", fragte er. Pfarrer Kannengießer: "Mehr machen sollen? Sicher! Mehr machen können? Vielleicht. Das hing von jedem einzelnen von uns ab, wie weit wir bereit und fähig waren, uns für die unterdrückten und verfolgten Menschen und gegen die braune Barbarei einzusetzen. Machen wir uns nichts vor. Die Kirche hat kläglich versagt, wenn es um die Erfüllung des Auftrags geht, sich für die armen, wehrlosen und gequälten Menschen einzusetzen. Wir als Kirchenmänner haben uns selbst zu ängstlichen Zuschauern degradiert, anstatt wie ein Paulus aufzustehen und die Verbrechen gegen die Menschheit laut und deutlich anzuprangern. Diese Zurückhaltung war ein Fehler, der dem Schweigen gleichkommt. Das werden wir vor Gott zu rechtfertigen haben.
Der Psychiater: Die reaktiven Psychosen haben in einer besorgniserregenden Weise zugenommen, deren Ursachen in den Umwälzungen innerhalb der Gesellschaft liegen. Das gestörte Gemeinschaftsleben mit den vielen Rissen erfasst die Familien, wo es die Kinder sind, die am meisten leiden, wenn die Familie auseinanderbricht. Das Potential der Zukunft liegt in den Kindern, die es zum Ausdruck bringen, wenn ihre Begabungen erkannt und gefördert werden.
Der Philosoph: So ist das, was Freundschaft war, zersprungen, ertränkt, zerschlagen. Darüber mag man lange klagen, wenn nichts ist, was da noch übrig blieb. Im Durchdenken wird es sonnenklar mit Blick auf das, was gut und sinnvoll war. Es ins Wort zu fassen wird dann schwer, da geben leere Reden doch nichts her.
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Buchvorschau
Stürze im Gang der Zeit - Helmut Lauschke
Was verloren ging
Nachzeichnungen
To stand up for truth is nothing. For truth, you must sit in jail.
Aleksandr Solzhenitsyn
Der Alltag hatte sein Gesicht verändert. War er durch die sich ständig verschlechternde Lage auf den Wirtschaftssektoren des Lebens (Nahrungsmittel, Textilien, Brennstoff, Heizmaterial etc.), den letzten Kriegsereignissen und dem sich zuspitzenden braunen Terror schon grau durch die vielen Sorgen, so wurde er nun durch das Fehlen von Paul Gerhard, der nach Absolvierung des Kriegsabiturs dem Einberufungsbefehl folgte und mit anderen Schulkameraden an die blutende Ostfront gebracht wurde, schwarz durch den drückenden Zweifel über die Sinnhaftigkeit, ob das alles mit dem Leben eines Menschen vereinbar ist.
Das betraf den Rest der Familie gleicherweise und wirkte bis in den Beruf von Eckhard Hieronymus hinein, auch wenn er es sich selbst nicht zugestehen wollte. Es gab Gespräche mit dem Bischof, in denen die Frage erörtert wurde, wie sich der Pfarrer unter dem schwindelerregenden Druck der Nazis auf die Geistlichkeit und das kirchliche Leben verhalten solle, ob es ratsam sei, sich so vorsichtig zu verhalten, als stülpe man sich den Maulkorb über den Mund, mache die Predigt zur wiederholten, zweiten Lesung des bereits gelesenen Bibeltextes und mehr nicht, um dem Risiko des Verhörs in den Gestapokellern zu entgehen. Die Wahrheit steht auf der Kippe
, sagte der Superintendent Dorfbrunner zum Bischof, wir müssen uns entscheiden, welchen Hang wir beschreiten wollen. Wollen wir wie Paulus den mühsamen Steilhang nach oben nehmen oder uns auf dem Abhang des Bösen nach unten drücken, nach unten terrorisieren lassen? Wir müssen uns entscheiden, bevor es zu spät ist, ich meine, solange wir uns noch entscheiden können.
Der Bischof schaute ernst. In seinen Augen lag der trübe Glanz der Verzweiflung, der Unsicherheit, der Angst vor der Entscheidung, die eben nur die zwei Alternativen kannte. Das Wort Gottes gehört in die Kirche
, sagte der Bischof, es ist der uns gegebene Auftrag, dieses Wort zu verkünden. Sein Wort ist die Wahrheit, die über allem steht. Da mögen die Braunhemden sagen, was sie wollen. Wir als Pastöre bleiben beim Wort seiner Wahrheit.
Eckhard Hieronymus war mit dieser Aussage zufrieden, wollte aber vom Bischof wissen, wie sich der einzelne Pfarrer in der Praxis der Exegese, der Auslegung des Bibeltextes unter dem braunen Druck verhalten soll. Da sagte der Bischof, dass er keinem Pfarrer vorschreiben könne und wolle, wie er den Text auslegen möchte. Das bleibe jedem Einzelnen überlassen, weil das Gotteswort in das Herz geht, aus dem dann die Antwort des Menschen kommt. Verstehen Sie mich recht
, wandte Eckhard Hieronymus ein, der Punkt, auf den ich hinaus will, ist die Frage, ob wir die Kollegen zur mutigen Exegese anhalten sollen, indem wir sie ermuntern, die Wahrheit zu sagen, auch was das Zeitgeschehen betrifft.
Ich habe ihren Punkt verstanden
, sagte der Bischof, doch da möchte ich den Kollegen den Rat geben, mit der Wahrheit nicht zu weit auszuholen, sondern eng am gelesenen Text zu bleiben, um Missverständnissen gewollter und ungewollter Art vorzubeugen. Denn wir stehen vor einer Zwickmühle, dass die Zahl der leeren Pfarrstellen zunimmt, weil es an Nachwuchs fehlt und wir Kollegen verlieren, die aufgrund ihres Mutes zur Wahrheit von der Gestapo verhaftet werden. Es wird hoffentlich eine Frage der Zeit sein, denn das Kriegsgeschehen hat die Münze gewechselt, dass wir uns beim Aussprechen der Wahrheit doch eine Zurückhaltung auferlegen müssen, damit wir nicht alle bei der Gestapo landen. Denn eine Kirche ohne Pastor ist wie ein Krankenhaus ohne Arzt. Die Menschen in ihrer Not und Verzweiflung brauchen zwei Dinge dringender denn je: zum einen die Verkündigung des Wortes Gottes, zum anderen die tätige Seelsorge in der Gemeinde.
So bat Eckhard Hieronymus den Bischof, seinen Rat in Form eines Rundbriefes an die Pastöre der ev.-lutherischen Kirche Schlesiens zu erstellen, damit sie sich bei der Textauslegung auf diesen Brief (vor Gott und den Menschen) berufen können und eine Einheitlichkeit in die Exegese kommt. Der Bischof sah den Superintendenten an und dachte nach. Ich wäre ihnen dankbar, wenn Sie das für mich tun würden
, sagte er nach Minuten des Nachdenkens, wobei er offensichtlich an den bevorstehenden Ruhestand dachte, den er ohne vorherige Belästigung vonseiten der Gestapo erreichen wollte. Ich hatte ihnen beim letzten Gespräch schon gesagt, dass ich in absehbarer Zeit in den Ruhestand treten werde. Da ist es mein Wunsch, Sie werden es hoffentlich verstehen, dass ich den Stand der beruflichen Ruhe auch in seelischer Ruhe betreten möchte.
Eckhard Hieronymus sah den Bischof erstaunt an. Der wiederum bemerkte, dass der Superintendent mit dieser Argumentation nicht übereinstimmte. So fuhr er fort: Es muss mit einem neuen Bischof gerechnet werden, der für die Richtlinien im pastoralen Bereich verantwortlich ist. Ich weiß nicht, wer mein Nachfolger werden wird, auch wurde mir kein Name genannt. Es ist aber wahrscheinlich, dass bei der Besetzung des Postens Menschen von Einfluss das Wort reden werden, die dem System weniger kritisch, vielleicht sogar wohlwollend gegenüberstehen. Ich kann meinem Nachfolger keine Vorschriften machen, so wie mein Vorgänger, Dr. theol. Kirchberger, der ein gebildeter Mann und ein großer Bischof war, mir keine Vorschriften gemacht hat.
Eckhard Hieronymus verstand mit diesen Zusätzen das Argument des Bischofs noch weniger, sich vor der Erstellung des Rundbriefes zu drücken. Denn damit hatte es nun nichts zu tun, dass ein Bischof dem anderen keine Vorschriften macht, weil ein Rundbrief in die Hoheit des jeweiligen Bischofs fällt, der zum Zeitpunkt der Erstellung, Niederschrift und Verteilung im Amt ist. Eckhard Hieronymus sah die Sackgasse vor sich, in die das Gespäch über den Rundbrief mündete, fragte nicht weiter, sondern sagte, dass er der Bitte des Bischofs nachkommen werden. Damit war Bischof Rothmann einverstanden und zufrieden. Die Erleichterung, an der Formulierung mit einer fragwürdigen, zweifelhaften Argumentation vorbeigekommen zu sein, war seinem Gesicht anzusehen.
Mit dem Bischof als Unterzeichner des Briefes war der Bischof nicht einverstanden. Eckhard Hieronymus hatte es geahnt. Da kam er wieder mit dem fadenscheinigen Argument des baldigen Ruhestandes, den er heil antreten möchte, ohne in seinen letzten Berufstagen von der Gestapo in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Eckhard Hieronymus versuchte ihn von den Bedenken eines Verhörs aufgrund des Briefinhalts abzubringen und wies auf die Ordnungsmäßigkeit hin, dass ein pastoraler Rundbrief vom Bischof zu unterzeichnen ist. Der Versuch war umsonst. [Schon wenig später sollte Eckhard Hieronymus erkennen, dass der Bischof die List und Hintertriebenheit der Gestapo besser kannte; er sollte seine Fehleinschätzung teuer bezahlen.] Stattdessen schlug der Bischof vor, dass der Superintendent den Brief in seiner Vertretung unterschreiben solle. Eckhard Hieronymus hatte seine Bedenken der Ordnung wegen. Auch vermutete er, dass die Kollegen mit diesem, von ihm unterschriebenen Brief ein sich Hervortun des Superintendenten Dorfbrunner sehen könnten, was ein Missverständnis gleich zu Beginn wäre, das Eckhard Hieronymus nicht wollte und in diesem Fall auch nicht zu verantworten hätte. Schließlich willigte er mit dem Unbehagen der verschobenen und falsch zu verstehenden Verantwortlichkeit ein. Die Sekretärin des Bischofs, eine Dame im mittleren Alter und langjährige Mitarbeiterin, tippte den Brief in die Maschine und legte ihn am nächsten Tag dem Superintendenten zur Unterschrift vor.
Was waren die Folgen? Eckhard Hieronymus berichtete den Vorgang seiner Frau, die sich schon am Abend zuvor gewundert hatte, als er den Text entwarf, dass er eine Aufgabe verrichtete, die eigentlich dem Bischof gehörte. Nachdem er Luise Agnes den Grund genannt hatte, dass der Bischof sagte, dass er in seinen letzten Berufstagen nicht noch von der Gestapo aufgesucht werden wolle und heil in den Ruhestand treten wolle, fragte sie ihren Mann, ob dieser Wunsch nicht auch auf die eigene Familie zutreffe. [Es war eine Frage mit prophetischer Sicht.] Als Eckhard Hieronymus ihr nun über den letzten Stand des Briefes berichtete, den er auf Wunsch des Bischofs und in seiner Vertretung mit den Bedenken der verschobenen Verantwortlichkeit unterschrieben hatte, sagte sie, dass sie den Bischofs anders, nämlich als einen Mann eingeschätzt habe, der seine Verantwortung kenne und sie auch trage. Dass er diese Verantwortung auf seine untergebenen Mitarbeiter abwälzt, sei ein schwaches Zeichen. Das hätte sie von diesem Mann nicht erwartet.
Luise Agnes reimte sich aus dem Gefühl die Gründe zusammen, die den Bischof zu dieser Entscheidung veranlasst haben. Im folgenden Satz prophezeite sie ihrem Mann den baldigen Besuch der Gestapo mit den Konsequenzen für ihn und die Familie. Eckhard Hieronymus hörte am Ernst ihrer Stimme, dass etwas kommen würde, woran er nicht gedacht hatte. Luise Agnes schwieg. Sie versank im Meer ihrer Gedanken und ängstlichen Gefühle. Eckhard Hieronymus schaute sie an. Er wollte sie in ihrem Schweigen nicht stören. Mochte er es vielleicht ahnen, wissen konnte er es nicht, dass Luise Agnes auf den Schwimmer wartete, der sie vor dem Ertrinken rettete, als sie sich der Gefährdung der Familie durch ihr Mischblut mit der jüdischen Hälfte gewahr wurde. Gewahr war es ihr seit langem, doch mit dem ganzen Ernst und den möglichen Folgen fuhr es ihr nun wie ein Schrei vor dem drohenden Gewitter des flammenden Schicksals durch den Kopf. Der Warnruf hallte durch die Kammern ihres Herzens, Schläge erschütterten die Kammerwände; sie sah die weinenden Kinder und erschrak im Aufschrei des Schmerzes. Eckhard Hieronymus sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. Er legte seinen Arm um ihre Schulter und drückte sie an sich. Luise Agnes, was ist passiert, das dich so arg fesselt?
, fragte er hilflos. Ihn erfüllte eine unbeschreibliche Traurigkeit, weil er zu ahnen begann, dass etwas im Anzug sei, das er nicht abwehren oder verhindern konnte. Entschuldige
, sagte Luise Agnes mit ‘ertrunkener’ Stimme, ich war der Zukunft vorausgeeilt.
Eckhard Hieronymus erschrak. Er sah im Geiste den apokalyptischen